Waren es Zeiten besonderer Konflikte, war es das zunehmende Bedürfnis, Konflikte auszutragen, oder ‚nur‘ das wachsende Bewusstsein, Konflikte – ob nationale oder internationale, soziale oder interpersonale – anders als bisher (und das hieß: nicht mehr primär repressiv oder gar militärisch) bearbeiten und demgemäß erforschen zu müssen? Wie dem auch sei: Es war offenbar das Jahrzehnt der Konfliktforschung – und alle genannten Institute existieren übrigens noch immer.
Als das IfK (faktisch bereits 1969, formal dann 1971, das erste Symposium fand 1970 statt) gegründet wurde, war der heutige wissenschaftliche Leiter noch nicht einmal Teenager, trug zwar sicher schon den einen oder anderen Konflikt aus, verschwendete jedoch (noch) keine Gedanken daran, was es mit Forschung auf sich haben und wofür ein Institut – gar eines für Konfliktforschung – gut sein könnte. Auch die Themen der ersten Stunden und Jahre (Schuldstrafrecht 1975; Pönometrie 1977; politisch motivierte Kriminalität 1978; Radikalismus 1979; Obsessionsdelikte 1980) waren ihm fremd, mit Ausnahme vielleicht der „Kinderkriminalität“ (1976), aber das würde hier zu weit führen.
Das >Symposium< wird gängiger Weise mit Konferenz oder Tagung assoziiert: Schade eigentlich, denn das griechische Original >Symposion< geht wohl zurück auf >Gastmahl & Trinkgelage<: Das was da alljährlich in Maria Laach stattfindet, ist eben nicht ‚nur‘ eine Zweitagung, sondern – um im Bilde zu bleiben – immer auch eine Nächtigung, >Gastmahl & Trinkgelage< inbegriffen. Die Fachlichkeit der Tagungen ist bei alledem aber noch nie in Zweifel gezogen worden.
Bisweilen gerät man in innere Konflikte mit der eigenen Außendarstellung: Das Institut für Konfliktforschung >richtet seit 1971 in Maria Laach jährlich ein Symposium aus, auf dem Themen aus den Bereichen Recht, Psychiatrie (Maßregelvollzug) und Gesellschaft kontrovers erörtert werden<, ist der Kölner Homepage zu entnehmen. So weit, so gut, nur: der inhaltliche Rahmen >Recht, Psychiatrie (Maßregelvollzug) und Gesellschaft< ist damit – allemal im Mittelteil – zu knapp abgesteckt. Zum >Recht< muss jedenfalls die Justiz hinzugedacht werden, aber auch Gesetzgebung und Kriminalpolitik. >Gesellschaft< ist ein weites Feld, das in Maria Laach zweifellos bestellt, vor allem aber repräsentiert wird durch Akteure: Der Forschungsansatz (s.u.) sei >inter-disziplinär und praxisorientiert<, weshalb sich das Institut an alle Berufsgruppen wende, die professionell mit Konflikten umzugehen haben, vor allem >forensische PsychiaterInnen und PsychologInnen, SozialarbeiterInnen und BewährungshelferInnen sowie StrafjuristInnen, darunter alle StrafverteidigerInnen<.
>Wir erforschen< – so ist weiter zu lesen – >die Ursachen, die Verhütung und die Lösung von Konflikten<, sowie: >Es gibt kein menschliches Zusammenleben ohne individuelle und soziale Konflikte.< Letzteres mag man ohne Wenn und Aber unterschreiben, Ersteres bedarf der Konkretisierung:
Forschungsschwerpunkt des IfK war von Anfang an das sog. >abweichende Verhalten<. Mit Unterstützung und in enger Zusammenarbeit mit dem Verein >Deutsche Strafverteidiger e.V.< untersucht das Institut dementsprechend u.a. >Ätiologie, Prävention und Therapie von kriminellem Verhalten< und analysiert >die legislativen und justiziellen Formen der Konfliktlösung und macht deren Alternativen bewusst<. Dabei gilt seine besondere Aufmerksamkeit >den Konflikten zwischen den Verfahrensbeteiligten im Gerichtsverfahren<. Wir betrachten Konflikte – auch auf Seiten von Straftäter*innen (bei aller Hochschätzung der Unschuldsvermutung) – als >Erscheinungsformen menschlichen Daseins, die nicht ausgegrenzt und dämonisiert werden dürfen.< Mit Prävention und Therapie liegt man bei vielen Symposien nach wie vor richtig, was für die >Ätiologie< so nicht (mehr) stimmen dürfte, sind doch Fragen der Kriminalisierung zunehmend in den Fokus geraten.
Das IfK tritt (auch) deshalb ein für >eine humane, tolerante und liberale Rechtskultur, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie auch dem von den geltenden Normen ab-eichenden Menschen Verständnis entgegenbringt<. Auf dieser Basis informieren wir – auch so steht es auf der Homepage zu lesen – die Öffentlichkeit, führen >Forschungsvorhaben und wissenschaftliche Veranstaltungen durch und nehmen auch zu aktuellen rechts- und kriminalpolitischen Fragen kritisch Stellung<. Schön wäre es?! Forschungsvorhaben i.e.S. führen wie nicht durch, will man nicht die letzten 50 Jahre IfK als ein einziges solches Vorhaben i.w.S. einordnen. Und, seien wir ehrlich: Zu aktuellen rechts- und kriminalpolitischen Fragen, derer es wahrlich genug gibt, nimmt das Institut als solches nicht kritisch Stellung – aber immerhin bieten wir jahraus jahrein ein Forum, auf dem kritische und wahrlich nicht konfliktscheue Stellungnahmen zur Genüge zu vernehmen sind.
Ausblick: Wo stehen oder sitzen wir in 50 Jahren? Hoffentlich nicht in Video-Sessions! Das Kloster in Maria Laach jedenfalls wird noch stehen, der Vulkan also wohl noch nicht wieder ausgebrochen sein, und Konflikte wird es weiterhin geben, ebenso den Bedarf, diese auszu(er)tragen und zu erforschen. Dass es dereinst ‚out‘ sein sollte, sich dafür ein >Gastmahl & Trinkgelage< (Symposion) zu organisieren, kann und will sich der Verfasser nicht vorstellen.“
2. Entziehungsanstalten im Übermaß ?
Und damit zurück zum Thema des diesjährigen Symposiums
Hat eine Person „den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen,“ so heißt da in § 64 S. 1 StGB, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht „die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.“ Die Anordnung ergeht aber nur, wenn eine „hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt …. zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.“
Haben Kriminalpolitik und Strafjustiz den Hang, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Übermaß anzuordnen und zu vollstecken? Offenbar, wenn man sich aktuelle Zahlen und Meldungen anschaut … dazu später. Damit wäre ein Tatbestand erfüllt, wie die Jurist*innen das nennen – was aber wäre dann die Rechtsfolge?
Diese Frage ließe sich vielleicht justiziell beantworten, de lege lata wie das heißt, also nach geltendem Recht, nur: wie? Vielleicht lässt sich die Frage aber auch nur noch kriminalpolitisch beantworten, also de lege ferenda: weil das Recht geändert werden muss, nur: wie?
Diese Fragen, die bereits notorisch lange diskutiert werden (auch dazu gleich mehr), haben uns hier zusammengeführt, Diskussionen ihrerseits mit dem Hang zum Übermaß, aber sie müssen geführt werden, nicht zuletzt weil es sich bereits um einen Vorgang im BMJ handelt.
Aber, und dafür steht der Untertitel dieses Symposiums, es muss um mehr gehen als nur die „Reform des § 64 StGB“, nämlich um das Gesamtsystem aus „Strafe, Sucht und Therapie“ – dass in diesem Untertitel auch eine Strafe steckt, die die Therapie sucht, ist selbstverständlich kein Versehen:
Mit einer Reduktion der Einweisungen in die Entziehungsanstalten und deren Belegung haben sich die damit – also mit dieser Klientel und ihren Taten – verbundenen Probleme ja noch lange nicht reduziert. Sie stattdessen in den Strafvollzug einzuweisen, ist jedenfalls beim gegenwärtigen Zustand der Gefängnisse keine Lösung sondern zweifellos eine Verschärfung der dort ohnehin vorherrschenden Probleme. Aber der Reihe nach:
Entziehungsanstalten im Übermaß I: drei Meldungen
Zitate aus dem Weser-Kurier v. 31.3.2021:
Im Niedersächsischen Maßregelvollzug sind die Betten knapp – derzeit warten rund 200 verurteilte suchtkranke und psychisch kranke Straftäter auf einen Platz. >Die Aufnahme- und Unterbringungskapazitäten sind angespannt, auch gibt es teilweise Überbelegungen<, sagte eine Sprecherin des Sozialministerium in Hannover. Hintergrund sei, dass Gerichte immer häufiger eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach Paragraf 64 Strafgesetzbuch anordneten. … >Der Aufnahmedruck im Maßregelvollzug betrifft alle Bundesländer und stellt alle Einrichtungen vor Probleme<, sagte die Sprecherin. ..… Am 26. März waren 198 Verurteilte auf der Warteliste, davon 121 auf freiem Fuß. … In Niedersachsen gibt es aktuell 1231 Plätze im Maßregelvollzug. … Das Land arbeite daran, die Zahl der Plätze deutlich zu erhöhen, hieß es. … Die [FDP]-Fraktion fordere, den Bestand an leer stehenden Liegenschaften und kurzfristige Unterbringungsmöglichkeiten zu prüfen, auch private Kliniken oder die Unterbringung in andere Bundesländern kämen infrage. >Für einige Täter kann auch eine ambulante Therapie ausreichend sein, … Es sei nicht hinnehmbar, dass Verurteilte in der Wartezeit teils schwere Straftaten begingen.
Zitate aus SWR-aktuell v. 18.10.2021:
Die jüngsten Ausbrüche aus der Psychiatrie in Weinsberg haben landesweit für Aufregung gesorgt. BW-Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) will ein reformiertes Strafrecht. In einer Sondersitzung das Landtags-Sozialausschusses am Montag verwies Lucha auf die hohe Zahl von zu Unrecht in die Psychiatrie eingewiesenen Straftätern. Immer mehr Straftäter mit vermeintlicher Suchtproblematik kämen in den sog. Maßregelvollzug, weil der entsprechende Paragraf im Strafgesetzbuch unscharf gefasst sei. Man brauche so schnell wie möglich eine Gesetzesänderung, die bereits eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe angeregt habe. In den letzten vier Jahren sei die Zahl der Patienten im Maßregelvollzug um mehr als 20 % auf knapp 1.300 gestiegen, gleichzeitig werde jede zweite Suchttherapie abgebrochen, betonte der Minister.
Zitate aus DLF v. 09.02.2022:
Klinik oder Knast – Warum immer mehr süchtige Straftäter im Maßregelvollzug landen; die Gerichte schicken immer mehr drogenabhängige Straftäter in den Maßregelvollzug. Die forensischen Kliniken sind überfüllt, die Wartelisten lang. Das Bundesjustizministerium will jetzt das Strafgesetzbuch reformieren (von Timo Stukenberg)
Matthias Jacobi ist Sozialarbeiter auf einer Station für die 64er im Berliner Krankenhaus des Maßregelvollzugs. Die meisten seiner Patienten kommen direkt aus dem Gefängnis hierher.
„Im Moment sieht es so aus, dass die Abteilung weiterhin bis zum letzten Platz belegt ist, es allerdings auch einen Rückstau gibt im Sinne einer Warteliste von Patienten, die sich im Moment noch im regulären Justizvollzug befinden, bei denen der Paragraf 64 angeordnet ist.“
Jacobis Patienten sitzen dann nicht wegen ihrer Freiheitsstrafe im Gefängnis, sondern sie befinden sich offiziell in Organisationshaft. Das heißt, eigentlich müssten sie in die Klinik, um dort einen Entzug zu machen. Stattdessen sitzen sie aber im Gefängnis und warten auf einen freien Behandlungsplatz.
„Aber, wenn jemand dann sitzt und ist eigentlich primär hoch motiviert und hat dann das Gefühl ich warte hier, ich warte hier und die Haftzeit nimmt gar nicht mehr ab. Dabei erlebe ich das oftmals auch durch die Berichte der Patienten, wenn sie dann endlich angekommen sind. Das ist relativ demotivierend schon im Vorfeld.“
Im Maßregelvollzug werden neben den 64ern auch Menschen behandelt, bei denen ein Gericht wegen einer psychischen Erkrankung eine Unterbringung angeordnet hat. Doch im Fokus stehen seit einiger Zeit die 64er, deren Taten also im Zusammenhang mit Drogen- oder Alkoholmissbrauch stehen. Ihre Zahl hat sich deutschlandweit in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Das geht aus dem Bericht einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe hervor, der im Januar veröffentlicht wurde. Im Schnitt waren 2020 demnach 5280 Personen untergebracht. Einige von ihnen auf geschlossenen Hochsicherheitsstationen, andere in Einrichtungen, die eher einer herkömmlichen Psychiatrie ähneln. Maßgeblich verantwortlich für den Anstieg der Patientenzahl im Maßregelvollzug ist der Paragraph 64 des Strafgesetzbuches.
Er wurde bei der großen Strafrechtsreform 1975 neu gefasst. Demnach sollen Menschen, die im Zusammenhang mit einer Drogensucht straffällig geworden sind, in einer Entziehungsanstalt untergebracht und behandelt werden. Die dafür zuständigen Kliniken des Maßregelvollzugs sind vielerorts jedoch überbelegt und das Personal an seinen Belastungsgrenzen. Mehrere Bundesländer müssen die nach Paragraf 64 Verurteilten längst anderswo unterbringen. So auch in Thüringen, heißt es aus dem dortigen Sozialministerium.
„Mangels anderweitiger Unterbringungsmöglichkeiten ist es mit Blick auf die akute Überbelegung der § 64-Maßregelvollzugseinrichtung sowohl aus vollzugsorganisatorischen Gründen, als auch zur Wahrung der Sicherheit des Vollzugs erforderlich, geeignete Patientinnen und Patienten abweichend vom Vollstreckungsplan zuzuweisen.“
In Bremen waren zum Stichtag 31. Dezember 2021 nur noch zwei reguläre Betten in Entziehungsanstalten frei, in Brandenburg war es nur noch eins. Das zeigt eine Abfrage des Deutschlandfunks unter den Bundesländern. Sachsen-Anhalt hatte seine Belastungsobergrenze bereits überschritten. Auch in Baden-Württemberg reichten die Behandlungsplätze nicht aus, sagt Manfred Lucha, gelernter Psychiatriepfleger und grüner Sozialminister in Baden-Württemberg. Das habe teils drastische Folgen.
„Also im schlimmsten Falle werden Verurteilte auf freien Fuß entlassen, wenn sie kein entsprechendes therapeutisches Angebot im Maßregelvollzug vorfinden. Und das gilt es auf alle Fälle zu verhindern.“
Das Land will nun in den Entziehungsanstalten mehr Betten schaffen, teils durch Doppelbelegung. Wo das nicht geht, wohnen die Menschen auf dem Gelände der Entziehungsanstalt in Containern.
Norbert Schalast, Psychotherapeut und Forscher an der Uni Bielefeld, untersucht seit vielen Jahren den Maßregelvollzug in Deutschland. Seiner Ansicht nach kann sich die Überbelegung sehr wohl auf die Behandlungsqualität auswirken.
„Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass gerade in den letzten Jahren Behandlungsteams einfach erschöpft sind und sich überfordert fühlen. Und das ist dann auch nicht unbedingt die beste Voraussetzung dafür, um Patienten zu motivieren und mit den Untergebrachten vernünftige Ziele definieren und auf die hinarbeiten. Und eigentlich ist der Paragraf 64 Maßregelvollzug ganz erfolgreich als sozialtherapeutische Maßnahme. Aber unter der Entwicklung der letzten 15 Jahre leidet das ganze System.“
Schon lange beschweren sich Kliniken des Maßregelvollzugs bei den zuständigen Gesundheits- und Sozialministerien der Länder über die Zustände. Rund zwei Jahre lang haben die Ministerien nun Reformvorschläge geprüft. In ihrem Abschlussbericht kommen sie zu dem Ergebnis, dass zu viele Menschen im Maßregelvollzug untergebracht werden, die eigentlich ins Gefängnis gehörten. Matthias Koller ist Vorsitzender Richter am Landgericht Göttingen und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Als Richter hat auch er bereits Menschen in einer Entziehungsanstalt unterbringen lassen.
„Das hat sicher auch was mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu tun, der dann doch häufig anmahnt, dass die Frage einer Schuldminderung und mehr noch die Frage einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt von den Gerichten in ihren Urteilen nicht näher geprüft worden ist.
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe vermutet hinter den steigenden Zahlen einen – Zitat – „Missbrauch der Entziehungsanstalten“. Das zeige sich auch in der wachsenden Zahl der Untergebrachten, deren Therapie abgebrochen wird, weil sie als aussichtslos gilt. Die müssen wieder zurück ins Gefängnis. Im Berliner Krankenhaus des Maßregelvollzugs würden derartige Patienten schon auf der Aufnahmestation erkannt, sagt Sozialarbeiter Matthias Jacobi, etwa, wenn sie „Mitpatienten auch zum Beispiel zum Konsum wieder auffordern, auch Leute, also Mitpatienten, unter Druck setzen, bedrohen, teilweise auch Mitarbeiter versuchen, unter Druck zu setzen, um Drogen einzuschmuggeln, um Handys einzuschmuggeln, was ja letztendlich alles schon ein guter Indikator für eine schlechte Motivationshaltung ist. Und es schafft halt ein schlechtes Klima insgesamt.“
Bereits 2007 und zuletzt 2016 hatte die Bundesregierung versucht, den Anstieg zu bremsen – ohne Erfolg, gibt auch Axel Müller zu. Er ist Richter in Baden-Württemberg und sitzt als CDU-Bundestagsabgeordneter im Rechtsausschuss.
„Ja, wir haben ganz offen gestanden, natürlich auch ein Stück weit die Entwicklung beobachten müssen und dass es so aus dem Ruder läuft, wie es die letzten drei Jahre der Fall war. Das war da noch nicht abzusehen. Also die ganz exorbitanten Steigerungen haben wir, denke ich, in den Jahren 19 bis 21 gehabt. Diese Steigerungen hatten wir davor in dieser exorbitanten Form nicht.“
Während das Strafgesetzbuch Bundesangelegenheit ist, müssen sich die Bundesländer um die Unterbringung kümmern. Mehr als die Hälfte der Bundesländer plant oder prüft Neubauten, wie eine Umfrage des Deutschlandfunks zeigt. Hamburg will demnach seine Kapazitäten fast verdoppeln. In Nordrhein-Westfalen sind insgesamt zusätzliche 700 Betten geplant. Die ersten Neubauten könnten im kommenden Jahr fertig sein.
Bis dahin sind Übergangslösungen notwendig, also kurzfristig mehr Betten, sagt Sozialminister Manfred Lucha. Clara Bünger ist seit Januar rechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Sie hält den Ansatz für total verkürzt.
„Weder würde es Sinn machen, jetzt neue Kliniken zu bauen oder Entziehungsanstalten, noch würde das Sinn machen, jetzt einfach nur den Straftatbestand zu verkleinern, weil, dann verschiebt man und verlagert man nur das Problem.“
Ein Referentenentwurf soll „zeitnah“ folgen: Bünger kritisiert, dass sich der Vorschlag ausschließlich auf die Strafrechtsnorm beschränke. Sie vermisst bei dem Reformvorschlag ein Gesamtkonzept, das auch auf Prävention setzt.
„Dass da jetzt einfach nur ein Rumdoktern an strafrechtlichen Vorschriften bei herauskommt, ist aus meiner Sicht eine herbe Enttäuschung, weil es … sehr viele Experten, aber auch Angehörigenverbände natürlich auch viel dazu beigetragen haben, und Vorschläge gemacht haben, was man besser machen könnte.“
Entziehungsanstalten im Übermaß II: eigene Fälle
Revisionen
Immer häufiger kommen Kolleg*innen nach Verurteilungen oder Verurteilte selbst auf mich zu mit der Bitte, Revision einzulegen mit dem Ziel, doch noch eine Unterbringung gem. § 64 StGB durchzusetzen. Hintergrund sind zumeist horrende Strafen gegen Drogenhändler, zuletzt oft im Zusammenhang mit der Welle sog. EncroChat-Verfahren. Und diese Strafen haben – so mein Eindruck – in den vergangenen Jahren beständig zugenommen. In einem anderen Zusammenhang habe ich dies vor kurzem problematisiert unter dem Titel „Strafrecht und Kriminaljustizsystem im Drogenelend“. Das ist Teil jenes Problems, dass Norbert Schalast wiederum problematisiert hat unter dem Titel „Missbrauch der Entziehungsanstalten“. Dazu später …
Eine dieser Revisionen habe ich unlängst für den Mandanten gewonnen, das wird alsbald neu verhandelt; eine weitere Revision läuft noch, die nächste ist bereits angekündigt. Und auf der Grundlage der Rechtsprechung des BGH (dazu gleich) sind die Erfolgsaussichten nicht schlecht. Ob diese Mandanten – die ich mich immer bemühe, umfassend über Risiken und Nebenwirkungen aufzuklären – in einer Entziehungsanstalt gut aufgehoben sind, ist eine ganz andere Frage.
Dass diese Revisionen bzw. die ihnen zugrunde liegende Revisionsrechtsprechung mit beitragen zum Übermaß der Einweisungen in die Entziehungsanstalten und zu den erwähnten Wartelisten, versteht sich von selbst. Und damit zu weiteren Fällen, zunächst zur
sog. Organisations-Haft (O-Haft)
Die Wartelisten führen zu dem Phänomen, das findige Jurist*innen „Organisationshaft“ getauft haben: Ein Begriff, den das Gesetz nicht kennt, für eine Konstruktion von Freiheitsentzug, die das Gesetz ebenfalls nicht kennt. Zwei Konstellationen lassen sich unterscheiden:
- Die U-Haft-Fälle: Der zu einer Freiheitsstrafe und zu einer Maßregel gem. § 64 StGB Verurteilte sitzt bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils in U-Haft. Da ein Vorwegvollzug nicht angeordnet wurde, hat unverzüglich die Verlegung in den Maßregelvollzug zu erfolgen (§ 67 Abs. 1 StGB). Weil dort keine Plätze frei sind, sitzt er weiter im Justizvollzug, wo er nicht hingehört, und wartet – nicht selten drei Monate, weil noch findigere Jurist*innen sich einst ausgedacht haben, diese sog. O-Haft dürfe allemal drei Monate andauern – wie gesagt: das Gesetz kennt solches nicht, diese O-Haft ist rechtswidrig. Wenn Betroffene dagegen einen Antrag gem. § 458 StPO wegen Unzulässigkeit der Vollstreckung stellen, kommt es bisweilen dazu, dass Gerichte ihre Freilassung anordnen, damit sie dort, also in Freiheit, auf ihre Ladung zum Antritt des Maßregelvollzuges abwarten. Ob das alles im Sinne des Gesetzes und der Justiz ist, ist wieder eine andere Frage, die wir sicher noch eingehend diskutieren werden – und damit zur Konstellation
- Die Vorwegvollzugs-Fälle: Das Gericht hat die Maßregel gem. § 64 StGB und eine Freiheitsstrafe verhängt, die so hoch ist, das gem. § 67 Abs. 2 S. 2 StGB der Vorwegvollzug eines Teils dieser Strafe vor der Maßregel anzuordnen war. Nach Ablauf dieses Vorwegvollzuges steht die Verlegung in den Maßregelvollzug an, wenn die StVK dies gem. § 67c Abs. 1 StGB anordnet – eine Entscheidung, die beizeiten zu ergehen hat. Dass Betroffene länger als das Gericht es angeordnet hat, im Vorwegvollzug der Begleitstrafe verbleiben, ist inakzeptabel. Das OLG Oldenburg war anderer Meinung, was mich zu einer ausführlichen Anmerkung veranlasst hat, die in der aktuellen Ausgabe des Strafverteidiger (5/22) nachzulesen ist.
Dreijahres-Fälle/-Falle
Vorgestern, Anruf aus dem Nds. Justizministerium, kurz vor meiner Abreise. Da werde ein Gnadenantrag bearbeitet, dem wolle man stattgeben, es sei aber noch nicht über Bewährungsauflagen geredet worden, deshalb der Anruf, quasi eine telefonische Anhörung … was war geschehen?
Wie den gen. Meldungen zu entnehmen, gibt es nicht wenige rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe und der Maßregel gem. § 64 StGB Verurteilte, die sich ohne Bewährung auf freiem Fuß befinden und auf die Ladung zum Antritt des Maßregelvollzuges warten. Die Ladung könnte jederzeit kommen, sie könnte aber auch drei Jahre auf sich warten lassen – kein Wunder bei den Wartelisten und der Priorisierung von U-Haft- bzw. O-Haft-Fällen.
Und dann kommt eine Vorschrift in den Blick, die bis vor kurzem noch dem sog. ‚toten Land‘ zugeordnet wurde, weil sie praktisch keine Anwendung fand: § 67c Abs. 2 StGB. Wenn eine Maßregel drei Jahre nach Rechtskraft ihrer Anordnung noch immer nicht vollzogen wird (ohne dass der Betroffene anderweitig in Haft ist), kann sie nur noch vollstreckt werden, wenn das Tatgericht es ausdrücklich anordnet.
Wenn es so lief, wie in den zwei Fällen, mit denen ich jetzt zu tun hatte, dann kommt es zur Erledigung der Maßregel: Die Mandanten sind offenbar nicht rückfällig geworden, d.h. weder in puncto Sucht, noch in puncto Kriminalität. So weit so gut und so geschehen: in beiden Fällen wurden die Maßregeln von dem Gericht, das sie rund drei Jahre zuvor angeordnet hatte, für erledigt erklärt. Aber, was wird nun aus der Begleitstrafe, oder aus der Reststrafe nach Anrechnung von U-Haft? Da es sich in beiden Fällen um Strafen bzw. Reststrafen von mehr (wenn auch nur wenig mehr) als zwei Jahren handelt, kam und kommt eine Aussetzung zur Bewährung dem Gesetz zufolge nicht in Betracht – wobei man dazu sagen muss: § 67c Abs. 2 StGB schweigt sich dazu aus. Meine Versuche, dies gerichtlich vorab klären zu lassen, sind am OLG Celle gescheitert (s. StV 5/22). Blieb also nur der Gnadenantrag.
Wer glaubt – das am Rande bei dieser Gelegenheit – das Gnadenrecht habe in unserem heutigen Rechtsstaat nichts (mehr) zu suchen: Gerade im Vollstreckungsrecht und z.B. in solchen Fällen hilft nur noch das Gnadenrecht. Und in einem der Fälle (der andere wird noch geprüft) mit Erfolg: Die Reststrafe von 2 J. 4 M. wird zu Bewährung ausgesetzt. Dass der Mandant damit – von einer gewissen Dauer der U-Haft abgesehen – letztlich weder in den Maßregel- noch in den Justizvollzug muss, ist sachgerecht. Aber so wie die Zeiten sind: in der Zeitung sollte das wohl eher nicht stehen …
Entziehungsanstalten im Übermaß III: die Rolle des BGH
In dem von Müller und Koller (die leider beide nicht hier sind) 2020 hrsg. Sammelband „Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB“ äußerte Radtke (aaO S. 61 mwN) die Vermutung, die Tatgerichte seien allzu „anordnungsfreundlich“. Meine eigene Auswertung (für die 5. Aufl. des NK-StGB, der hoffentlich noch dieses Jahr erscheint) der aus dem Jahr 2020 (bei juris) veröffentlichten Rspr. des BGH ergab, dass in insg. 75% der Fälle entweder eine Anordnung nicht beanstandet (48%) oder eine Nichtanordnung beanstandet wurde (27%); vor diesem Hintergrund dürfte die Vermutung von Radtke, die Tat-Gerichte seien allzu „anordnungsfreundlich“, mindestens zu relativieren sein. Und damit komme ich zu meinem letzten Punkt:
Entziehungsanstalten im Übermaß IV: Positionen
Gemeinsam mit Andrea Kemper habe ich 2007 „Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum nordrhein-westfälischen Maßregelvollzug – Entlassungsjahrgang 2005“ veröffentlicht. Der „Ausblick“ las sich so:
Vor dem Hintergrund der hier präsentierten Ergebnisse drängt sich – nicht nur als naheliegendes Wortspiel – die Schlussfolgerung auf, § 64 stelle sowohl im Strafgesetzbuch als auch im psycho-sozialen und suchttherapeutischen Versorgungssystem eine kriminalpolitische Fehleinweisung dar. Das >Scheitern< so vieler >Einzelfälle< muss zumindest auch im System angelegt sein und strukturellen Schwächen angelastet werden: Wenn der >irreguläre Verlauf< zur Regel und der >reguläre< zur Ausnahme wird, läuft etwas grundsätzlich schief.
Für machen Verurteilte mag die längerfristige stationäre Unterbringung als vermeintliche oder reale >Alternative< zum Strafvollzug eine Chance sein, vielleicht sogar seine >letzte<. Es bleibt aber die offenbar noch immer nichthinreichend treffsicher zu beantwortende Frage: für welche Verurteilte? Sicher ist der Hinweis berechtigt, dass auch der >irreguläre< Verlauf (hier als Kategorisierung der Fehleinweisung) nicht per se >sinnlos< ist bzw. gewesen sein muss. Dies mag im Einzelfall mit dem Untergebrachte im therapeutischen Alltag ausgehandelt werden – eine schlüssige kriminalpolitische und therapeutische Konzeption lässt das aber nicht erkennen!
Die Suche nach den Prädiktoren der >Aussichtslosigkeit< erwies sich im vorliegenden Design jedenfalls als aussichtslos. Ob die praktische und legislative Kriminalpolitik gut beraten ist, weiterhin und zum Teil sogar verstärkt auf >den 64er< zu setzen und ihn mit vollstreckungsrechtliche Maßnahmen zu >sichern<, erscheint fraglich. Diese Frage zu beantworten, war freilich nicht primäres Erkenntnisinteresse dieser Studie: Einen wichtigen Beitrag zu den absehbar andauernden Debatten um die Zukunft der Unterbringung gemäß § 64 StGB dürften die vorliegenden Erkenntnisse allemal liefern. Es drängt sich der Eindruck auf, als habe diese Maßregel mit der jüngst in Kraft getretenen Reform eine letzte Bewährungschance erhalten – bevor sie kriminalpolitisch endgültig erledigt wird.
Was bleibt ist die empirisch abgesicherte Erschütterung von >Alltagsannahmen< und die erfahrungswissenschaftliche Relativierung des in der Praxis und bei Gutachtern verbreiteten Erfahrungswissens.
Der Kollege Lutz Eisel aus Bochum, eine der treuesten Teilnehmer unserer Symposien, war diesmal leider verhindert. Es lässt schön grüßen und übersandte mir ein „Pamphlet“ aus dem Jahre 2006 mit der – auf Nachfrage – ausdrücklichen Genehmigung, dies hier zu Gehör zu bringen. Er hatte es am 29.11.2006 beim Expertengespräch >Psychiatrie & Recht< der LWL-Maßregelvollzugsabteilung Westfalen vorgelegt.
Anfang der 90-er Jahre schien das Ende des § 64 StGB gekommen zu sein; nachdem der BGH es schon 1992 ermöglicht hatte, bei einer Revision die Nichtanwendung des § 64 StGB von der Revisionsrüge auszunehmen (StV 1992, 572), hatte das BVerfG durch Urteil v. 16.03.1994 (StV 1994, 594) die Vorschrift insoweit für nichtig erklärt, als eine hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolgs nicht besteht.
Doch die Zuweisungszahlen in diese Maßregel wurden nicht geringer, sondern nahmen – und nehmen – vielmehr zu. Auch erfolgen die >Erledigungen< nach § 67d Abs. 5 StGB nicht (nur) in den ersten Monaten der Unterbringung, sondern gleichermaßen nach 1, 1 ½ oder 2 Jahren. Wenn man die Gesamtheit der >Erledigungen< den Zahlen der Aussetzungen bei positiver Prognose (§ 67d Abs. 2 StGB) gegenüberstellt, dann scheint diese Maßregel – zumindest im Drogenbereich – ihre Berechtigung verloren zu haben.
Wenn man aber die >Konkurrenz< der Vollstreckungslösung der §§ 35, 36 BtMG betrachtet, dann ist der § 64 StGB doch in einem anderen Licht zu sehen. Denn die unendliche Zahl von Abbrüchen beim § 35 BtMG und die dort zu findende >Drehtür-Therapie< (bis sich kein Kostenträger mehr findet) offenbart, dass bei >Therapie statt Strafe< die Angst vor der Staatsanwaltschaft oft die einzige Motivation ist, sich in eine solche Therapie zu begeben (was nicht heißt, sich dort therapieren zu lassen). Die viel zu kurzen Zeiten der Kostenzusage für eine Therapie im Rahmen des § 35 BtMG lassen ein Scheitern solcher Therapien fast schon als vorprogrammiert erscheinen. Demgegenüber ist der – viel intensivere und auch viel langfristiger angelegte – Therapieansatz beim § 64 StGB erfolgversprechender – auch wenn es dennoch viel zu oft zu einer Erledigung nach § 67d Abs. 5 StGB kommt.
In einer solchen Situation drängt sich als Lösung eine entsprechende Anwendung des § 9 StVollzG auf. Denn die – nie als § 65 StGB in Kraft getretene – Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt findet seit vielen Jahren – durchaus erfolgreich – als Vollzugslösung im Rahmen der Strafvollzuges statt. Die Motivation der Gefangenen, aus der JVA in eine Einrichtung gem. § 9 StVollzG verlegt zu werden, ist recht hoch. Denn die sozialtherapeutische Anstalt wird nicht als >Strafversetzung< empfunden, sondern eher als >Sprungbrett< auf dem Weg zu Lockerungen und zur Entlassung.
Wenn also die Vorschrift des § 64 StGB ersatzlos aus dem StGB gestrichen wird und stattdessen ein § 9a StVollzG eingefügt wird, der die Verlegung von Gefangenen mit einem Suchthintergrund in eine Entziehungsanstalt ermöglicht, dann hätte diese (nicht mehr Maßregel, sondern) Therapieform eine neue, bessere Zukunft. Die Kliniken (und das Personal) blieben erhalten; sie wären dann halt im Bereich des Justizministeriums den Justizvollzugsanstalten gleichgestellt.
Die Akzeptanz der Entziehungsanstalten wäre dann auch bei den Gefangenen erhöht, weil die Verlängerung der Haftzeit entfiele (die 2 Jahre des § 67d Abs. 1 StGB würden ja auch gestrichen) und die gesamte Zeit der Therapie auf die Strafe angerechnet würde. Auch das leidige Problem des Vorwegvollzuges (§ 67 Abs. 2 StGB) hätte sich erledigt.
Ob die derzeitige Regelung der §§ 35, 36 BtMG dann noch eine eigenständige Berechtigung hätte, wäre gesondert zu überlegen. Hier wäre evtl. an Therapie im Rahmen des § 56c Abs. 3 S. 1 StGB (d.h.: als Bewährungsauflage) zu denken, ggf. auch im Rahmen einer Reststrafenaussetzung nach § 57 Abs. 1, Abs. 3 StGB, so dass auch diese – bei der hohen Zahl der Drogenabhängigen sicherlich auch weiterhin erforderlichen – Therapieplätze erhalten blieben.
Im 8. Alternativen Drogen- und Suchtbericht (ADSB) 2021 habe ich über die Reformdebatte zu § 64 StGB berichtet. Daraus in Kürze (und ohne die Nachweise) das Fazit unter der Überschrift „Eine Reform scheint also überfällig: aber welche?“
Auf ein >so kann es nicht weitergehen< können sich alle mühelos verständigen, eher gestern als heute. Reformvorschläge liegen auf dem Tisch.
>More of the same< darf es nicht geben. Den letztlich justiziell erzeugten Belegungsdruck durch den weiteren Ausbau von Entziehungsanstalten aufzufangen, ist keine Lösung. Die bestehenden strukturellen und praktischen Probleme stationärer Kriminal-Sucht-Therapie würden damit allenfalls zeitlich verlagert, die Lage nur vorübergehend entspannt, letztlich aber auf quantitativ höherem Niveau perpetuiert.
>Weg damit< (esse delendam) ist aktuell aber auch keine Forderung, die weiter hilft: Ob und ggf. wofür und in welchem rechtlichen Rahmen die bestehenden >Entziehungsanstalten<, die durchweg ohnehin mal mehr mal weniger an Justizvollzugsanstalten erinnern, gebraucht werden, wäre eine fachliche Debatte wert – die beschriebenen Probleme wären damit aber auch nicht >weg<. Ob es dafür des § 64 StGB (zzgl. all der z.T. erwähnten Begleitvorschriften) als Grundlage bedarf, ist jedoch eine andere Frage. Die Abgrenzung der Anwendungsbereiche des § 35 BtMG einerseits und des § 64 StGB andererseits ist (ungeachtet des Sonderproblems der von § 35 BtMG nicht erfassten Alkoholiker) ohnehin kaum nachvollziehbar.
Das Ganze als >Zusatzangebot< zum Regelvollzug zu organisieren erscheint diskutabel, wobei Blicke über den nationalen Tellerrand hilfreich sein können, blendet aber die notorischen Unzulänglichkeiten des Justizvollzugssystems gerade in puncto Gesundheitsversorgung, Drogenberatung und Suchttherapie aus.
Der Versuch, die Einweisungszahlen über eine Änderung der Rechtsgrundlagen im StGB zu reduzieren, ist 2007 pp. bereits einmal gescheitert: Aktuelle Vorschläge zur Umformulierung des § 64 erweisen sich auch deshalb als nicht zielführend. Den Begriff >Hang< z.B. durch >Abhängigkeit< o.Ä. zu ersetzen, hilft nicht wirklich weiter und könnte sich letztlich als wirkungslose Modernisierung erweisen; auch die Anknüpfung an eine Verminderung der Schuldfähigkeit.
Vorschläge, das Vollstreckungsrecht rund um § 64 StGB unattraktiver zu gestalten, um Angeklagten einen Anreiz zu nehmen, dem Weg in die Entziehungsanstalt den mutmaßlichen Vorzug zu geben, sind zurückzuweisen: Ganz abgesehen davon, dass zahlreiche Angeklagte ohnehin nicht gut beraten sind, auf die § 64-Karte zu setzen, sollte z.B. nicht weiter darüber nachgedacht werden, die in § 67 Abs. 5 StGB verankerte Erleichterung der Halbstrafenaussetzung – in der Praxis ohnehin nur selten erreichbar (s.o.) – zu streichen, sondern den Anwendungsbereich der vorzeitigen Aussetzung bereits nach der Hälfte der Strafe für alle Gefangenen auszuweiten. Wer vermeintliche Fehlanreize beseitigen will, müsste ja konsequenterweise auch das Recht des Maßregel-Vollzuges verschärfen, also etwa sog. Lockerungen oder den offenen Vollzug reduzieren: Rechtlich und fachlich ein Weg in die Irre.
Es fällt nach allem schwer, ein Patentrezept zu formulieren, dass es in Anbetracht der Komplexität der Problemlagen auch nicht geben wird. Wichtig wäre, das Gesamtsystem auf den Prüfstand zu stellen, also den drogen- und kriminalpolitischen, strafrechtlichen und -justiziellen Umgang mit Drogen und Sucht. Die aktuelle Fixierung auf die „Entziehungsanstalten“ wird der Herausforderung nicht gerecht. Die Reformvorschläge erscheinen kurzsichtig und werden die meisten Probleme eher verschieben als lösen.“
Die DGSP hat (unter Federführung von Feißt, Lewe und Kammeier) am 01. März 2022 das „Plädoyer für eine Transformation der Maßregeln der §§ 63 und 64 StGB“ veröffentlicht mitsamt „organisationaler, empirischer und rechtspolitischer Argumente für eine Änderung des Sanktionenrechts“. Im Mittelpunkt des Plädoyers zur „Abschaffung der §§ 63, 64 StGB sowie der §§ 20, 21 StGB“ steht der psychiatrische Maßregelvollzug gem. § 63 StGB – es entsteht leicht der Eindruck, das ‚Kind des § 64‘ sei irgendwie mit dem Bade ausgeschüttet worden. Warum ausgerechnet die Unterbringung in einer sog. „Entziehungsanstalt“ als Maßregel erhalten bleiben sollte, wenn man diejenige in der forensischen Psychiatrie gem. § 63 StGB abschafft, drängt sich freilich als Folgefrage auf, wäre aber für sich genommen noch kein hilfreicher Beitrag zur vorliegende Debatte.
Die Ergebnisse der sog. Bund-Länder-AG „zur Prüfung des Novellierungsbedarfs im Recht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des Strafgesetzbuches (StGB)“ legte am 22.11.2021 „Vorschläge zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB“ vor, die Anfang 2022 vom BMJ veröffentlicht wurden. Sie sollen hier nicht einzeln abgearbeitet werden, zumal sie in den Diskussionen des Symposiums sicher eine erhebliche Rolle spielen werden. Auf S. 35 dieses Entwurfs der Bund-Länder-AG heißt es wörtlich: „Alternativen [keine]“. Auch weil das eklatant falsch ist, sitzen wir hier. Die Vorschläge jener AG sind eine Alternative zur derzeitigen Rechtslage, aber es gibt – wie dargelegt – diverse Alternativen.
In diesem Sine wünsche ich dem Symposium einen konstruktive Diskurs im Übermaß!
Literaturhinweise:
Bund-Länder-AG (BMJ) (2022) zur Prüfung des Novellierungsbedarfs im Recht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des Strafgesetzbuches (StGB). Vorschläge zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB. www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Bericht_Massregelvollzug.html
DGSP (Feißt/Lewe/Kammeier) (2022) Plädoyer für eine Transformation der Maßregeln der §§ 63 und 64 StGB. www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/2022/Plaedoyer_fuer_eine_Transformation_der_Massregel.pdf (Teilveröffentlichung in StV 2022, S. 343)
Eisel (2006) § 64 ist tot – es lebe die Entziehungsanstalt! unveröff. Diskussionspapier, vorgelegt am 29.11.2006 beim Expertengespräch >Psychiatrie & Recht< der LWL-Maßregelvollzugsabteilung Westfalen
Müller/Koller (Hrsg.) (2020) Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB. Stuttgart
Pollähne (2021) Strafrecht und Kriminaljustizsystem im Drogenelend. BAGS-Info Heft 2, S. 39
Pollähne (2021) „Entziehungsanstalten“ zur Disposition gestellt: Vom Scheitern des Maßregelvollzuges in der Suchttherapie, in: akzept e.V. Bundesverband (Hrsg.) 8. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2021. Lengerich S. 112
Pollähne (2022) Vorwegvollzug und Organisationshaft. Anmerkung zu OLG Oldenburg, Beschl. v. 09.03.2021 – 1 Ws 44/21, StV 2022, 316. StV S. 318
Pollähne/Kemper (2007): Fehleinweisungen in die Entziehungsanstalt (§ 64 StGB): Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum nordrhein-westfälischen Maßregelvollzug – Entlassungsjahrgang 2005. Berlin