Symposium 2022 - Abstracts und Vorträge

Begrüßung

DR. HERIBERT WAIDER, Düsseldorf
Rechtsanwalt, Vorstand Deutsche Strafverteidiger e. V.

Sehr geehrte Teilnehmer*innen!
Im Namen des Deutsche Strafverteidiger e. V. begrüße ich Sie zum 49. Symposium in Maria Laach sehr herzlich und freue mich, dass Sie nach der zweijährigen Veranstaltungspause wieder so zahlreich erschienen sind.

Im Zusammenarbeit mit dem Institut für Konfliktforschung haben wir uns für die Thematik „Entziehungsanstalten im Übermaß? Strafe – Sucht – Therapie – Reform des § 64 StGB“
entschieden.

Wir haben uns in den zurückliegenden Jahren mehrfach mit der Thematik des § 63 StGB -Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus – beschäftigt. Sieht man die sogenannten Silberlinge durch, hat sich kein einziges Symposium explizit mit der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB auseinandergesetzt. Die Fragen, die sich bei dieser Maßregel auftuen, wurden allenfalls hier und da auf einzelnen Symposien gestreift.

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Dient die Anordnung einer solchen Unterbringung ausschließlich der Verhütung weiterer, zukünftiger Taten hat somit explizit präventiven Charakter, wie es bei Kammeier (Die psychiatrische Maßregel nach §63 StGB im Spannungsfeld von Sicherungsauftrag und Freiheitsanspruch, ZStW 2020, S. 133 [138 f.]) nachzulesen ist? Zweck der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist nach traditionellem Strafrechtskonzept die Sicherung der Allgemeinheit den gefährlichen Süchtigen durch Behandlungsmaßnahmen, seien es physische oder psychische Entwöhnung (vgl. OLG Köln, Urt. v. 20.9.1977 – Ss 362/77, NJW 1978, S. 2350) zu bessern (vgl. Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 64 Rdnr. 1). Ein von der Besserung losgelöster Sicherungszweck wird mit § 64 StGB angeblich nicht verfolgt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.03.1994 – 2 BvL 3/90, NStZ 1994, S. 578).

Vorschläge und Bemühungen gab es in der Vergangenheit mehrfach, die psychiatrische sowie die Entziehungsmaßregel zu ändern. Man wird sie jedoch nicht als Reform bezeichnen können, sondern allenfalls einige Detailveränderungen erkennen dürfen. Insgesamt hat keine grundlegende Veränderung stattgefunden. Dies liegt jedenfalls auch daran, dass es sich bei dem Vollzug der Maßregeln um ein historisch überholtes System handelt, welches die Ziele Prävention und Rehabilitation, die in moderner Zeit als Legitimation von Freiheitsentzug an-gesehen werden, in keiner Weise erreicht. Da verwundert es nicht, dass sich zwischen 1996 und 2015 die Zahl der nach § 64 StGB untergebrachten verdreifacht hat (vgl. Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 64 Rdnr. 2), was vielfach zu scharfer Kritik ge¬führt hat.

Querengässer/Ross/Bulla/Hoffmann (Neue Wege in die Entziehungsanstalt – Reformvor-schläge für den § 64 StGB, NStZ 16, S. 508 ff.) traten zuletzt 2016 mit neuerlichen Reform-vorschlägen auf den Plan, wie etwa zu einer probatorischen Unterbringung und zu einem Zusatzangebot des Regelvollzugs. Daraus wurde jedoch nichts.

Vielleicht ist die Maßregel nach § 64 StGB aber auch besser als ihr Ruf: 2019 wurde über die „Essener Evaluationsstudie“ berichtet. Hiernach waren von 314 Maßregelvollzugspatienten nach § 64 StGB 1000 Tage nach der Entlassung 53% ohne neuen BZR-Eintrag waren. Bei einer Vergleichsgruppe von Strafgefangenen waren es nur 33%, die keinen neuen BZR-Ein-trag hatten (vgl. Schalast/Frey/Boateng/Dönisch-Seidel/Leygraf, Was rechtfertigt eine Be-hand¬lungsmaßregel für Täter mit Suchtproblemen?, R&P 2019, S. 141 [143 ff.]).

Der Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UND FDP sieht jüngst eine Umfassende Reform des Sanktionensystems einschließlich Ersatzfreiheits-strafen, Maßregelvollzug und Bewährungsauflagen mit dem Ziel von Prävention und Reso¬zia-lisierung vor (vgl. Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nach-haltigkeit. Koalitionsvertrag [2021 – 2025] zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UND FDP, S. 84]). Wir dürfen gespannt sein, was daraus in Bezug auf § 64 StGB wird.

Ein sehr weitgehender Reformansatz (Positionspapier von Feißt/Lewe/Kammeier im Auftrag der Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. vom 1. März 2022, https://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/2022/Plaedoyer_fuer_eine_Transformation_der_Massregel.pdf) spricht sich aktuell in diesem Kontext dafür aus, die Maßregel gänz-lich abzuschaffen und damit das zweigliedrige System von Strafe und Maßregel zu kippen. Unter Streichung der §§ 20 und 21 StGB soll dann jeder Täter zu einer zeitlich befristeten Freiheitsstrafe verurteilt werden, unabhängig von Kriterien der Schuldfähigkeit, Gefährlichkeit und Besserungsbedarf. Nach Strafverbüßung hat demnach die Entlassung aus dem Straf-vollzug zu erfolgen oder bei hochgradig gefährlich eingeschätzten Personen eine Über¬stellung in die Sicherheitsverwahrung. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass dieser Reformvorschlag sehr umfassen angelegt ist, so sollen Maßregelvollzugs¬ein¬richtungen für den Strafvollzug genutzt werden, bisher im Maßregelvollzug Beschäftigte wech¬seln in den Justizvollzugsdienst oder in die Gesundheits- und Sozialdiensten und sämt¬liche sich in Freiheitsentzug befindlichen Personen werden in die Gesetzliche Krankenver¬sicherung und in die Rentenversicherung einbezogen. Anzumerken bleibt, dass bei einer Abschaffung der Maßregel die Anzahl der Begutachtungen drastisch nachlassen wird.

Dabei wollen wir mit diesem Symposium auch einen Blick über den Tellerrand werfen und beobachten, wie die Entwicklungen in der Schweiz, den USA und in England ablaufen.

Ich will es bei diesen kurzen Anmerkungen zum Tagungsthema aus Anwaltssicht genügen las¬sen, denn es gibt noch ein freudiges Ereignis, auf dass ich kurz zu sprechen kommen möch¬te: Im Namen des Deutsche Strafverteidiger e. V. gratuliere ich dem Institut für Konflikt-for¬schung e. V. sehr herzlich zu seinem fünfzigjährigen Bestehen und wünsche, dass das In-stitut noch viele Jahre die Erforschung der „Konflikte des Individuums mit der geltenden Rechts- und Gesellschaftsordnung“ – wie der Institutsgründer, der Professor für forensische Psy¬chiatrie und Kriminologie an der Universität zu Köln, Dr. Wolfgang de Boor es einmal um-schrieb – so ertragreich betreibt, wie in der Vergangenheit. Dies verbinde ich zugleich mit der Hoffnung der weiteren gemeinsamen Ausrichtung der jährlichen Symposien in Maria Laach.

Auf das Jahr 1976 gehen die gemeinsamen alljährlichen Symposion zurück. Literarisch nach-weisen lässt sich dieser Zeitpunkt des Beginns der Zusammenarbeit anhand der Schrif-tenreihe des Instituts für Konfliktforschung. Denn auf dem Symposium im Jahr 1976 zum Thema „Pönometrie – Rationalität oder Irrationalität der Strafzumessung“ – hielt das Grün-dungsmitglied und erster 1. Vorsitzender des Deutsche Strafverteidiger e. V., Dr. Hadden-horst aus Gelsenkirchen, einen Vortrag über die „Rationalität oder Irrationalität der Strafe“.

Seitdem ich bei Prof. Dr. Günter Tondorf, dem langjährigen wissenschaftlichen Leiter des In-stituts, mit meiner Nebentätigkeit im Referendariat in den 1990ger Jahren begonnen hatte, weckte er mein Interesse für die Themen der Symposien. Eingenommen von der Offenheit des Austauschs zwischen den verschiedenen Fakultäten der Referenten und Teilnehmer, was stets für eine breit angelegte Betrachtungsweise der Themen sorgt, war ich anfangs „nur“ der typische wissbegierige Teilnehmer, der auch Gefallen an den gemeinsamen Sams-tag¬abenden fand. Seit über 10 Jahren bin ich auf Seiten des Deutsche Strafverteidiger e. V. verantwortlich für die Zusammenarbeit mit dem Institut für Konfliktforschung und damit auch für die jährliche Ausrichtung der Symposien.

Mit den gemeinsamen Symposien sind für viele Mitglieder des Deutsche Strafverteidiger e. V. und auch für mich unzählige Erinnerungen an interessante Tagungsthemen verbunden. Hier konnten wir wichtige Erkenntnisse gewinnen und dann in unserer täglichen Arbeit an¬wenden. Daneben gibt es zahlreiche Erinnerungen an persönliche Begegnungen im Kontext der Symposien, die niemand von uns missen möchte.

In diesem Sinne freue ich mich nun mit Ihnen auf die Vorträge und Diskussionsbeiträge. Dass wir zu dem diesjährigen Symposium unter den Referenten wie auch unter den Teil¬nehmern wieder viele Vertreter der unterschiedlichen Berufsgruppen gewinnen konnten, ist die beste Garantie für die soeben angesprochene breit angelegte Betrachtungsweise der Tagungsthemen.

Ich wünsch der Veranstaltung ein gutes Gelingen.

PROF. DR NORBERT KONRAD, Berlin
Psychiater, Vorsitzender des Instituts für Konfliktforschung e. V.

Liebe Mitglieder und Freunde des Instituts für Konfliktforschung, liebe Symposiumsteilnehmer*Innen und Gäste,  zum 49. Symposium hier ein herzliches Willkommen in Maria Laach!

Auch wenn unser Institut keine Forschung im engeren Sinne betreibt, tragen doch die – mit Ausnahme der Corona-Zeit – regelmäßig stattfindenden Symposien dazu bei, gesellschaftliche Konflikte auch im interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs auszuloten. In die Zeit der 1. Symposien viel die sogenannte Psychiatrie-Enquete, die in Deutschland eine Reform der psychiatrischen Versorgung einleitete. Dort wurde dem psychiatrischen Maßregelvollzug eine Schlusslichtposition zugewiesen, die Psychiatrie im Justizvollzug wurde nicht einmal erwähnt.

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Kurz vor dieser Zeit passierte im Frühsommer 1969 das erste Strafrechtsreformgesetz den Bundestag und am 01.01.1975 das zweite Strafrechtsreformgesetz, das im Wesentlichen die aktuellen Schuldfähigkeitsregelungen markiert. Dabei wurde erst im Jahr 2021 der den Wehrmachtsvorschriften des 2. Weltkrieges entnommene Begriff der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ sowie der ebenfalls diskriminierende Begriff des „Schwachsinn“ in moderne Begrifflichkeiten übergeführt. Weitere Reformen, Unzulänglichkeiten der Rechtspraxis und des Umgangs mit psychisch gestörten Rechtsbrechern in der Gesellschaft einschließlich den Medien wurden in den Symposien reflektiert und somit zur kritischen Reflektion beigetragen, wenn nicht gar Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess genommen, wie es auch das aktuelle Symposium zu den sogenannten Entziehungsanstalten versucht. Dies scheint für die aktuelle Legislaturperiode aus meiner Sicht das einzige relevante Reformprojekt im kleinen Grenzverkehr zwischen Forensischer Psychiatrie und Rechtsprechung zu sein – es mag zur Zeit auch als wesentlich dringender empfundene politische Probleme geben.

In den letzten Jahren wurden zahlreiche Reformvorstellungen und auch Entwürfe publiziert. Zentral sind dabei Vorschläge zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB, wie sie in der Endfassung des Berichts der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Prüfung des Novellierungsbedarfs vom 22.11.2021 niedergelegt sind. Hierauf wird im Verlauf des Symposiums sicher in mehrfacher Hinsicht Bezug genommen. Entscheidend ist, dass die Möglichkeit der Anordnung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB als Maßregel im Grundsatz beibehalten wird. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde DGPPN hat ebenfalls einen konkreten Formulierungsvorschlag vorgelegt, auf den ich kurz eingehen möchte, da leider kein Vertreter der DGPPN – trotz Einladung – hierherkommen wollte. Aus Sicht der DGPPN muss die Unterbringung gemäß § 64 StGB auf die Behandlung von Menschen mit klinisch relevanten Substanzkonsumstörungen beschränkt werden. Entscheidend für die Erfolgsaussicht seien die Behandlungsbereitschaft und Selbstbestimmung bei Aufnahme in die Klinik. Um die Therapie von behandlungsfremden Einflüssen des Strafvollstreckungsrechtes zu entlasten sollte aus Sicht der DGPPN bei Antritt der Behandlung bereits so viel Strafe verbüßt sein, dass die Unterbringung nur noch dem Behandlungs- und Resozialisierungszweck und dem Ziel dient, das Risiko weiterer Substanzmittel bedingter Straftaten zu senken. Der Begriff „Entziehungsanstalt“ soll durch die Bezeichnung „Forensische Klinik für Abhängigkeitskrankheiten“ ersetzt werden. Dabei soll der Unterbringungskandidat vor der Behandlung verlässlich an suchtspezifischen Behandlungsangeboten im Haftsetting teilnehmen. An diesem Positionspapier wurde Kritik geübt, beispielsweise jüngst in einer Publikation von Herrn Querengässer, der hier anwesend ist, so dass ich die von ihm zu erwartenden Ausführungen nicht vorweg nehmen möchte. Ergänzend möchte ich jedoch zwei Punkte herausstellen:

Bis vor wenigen Jahren wurden über Jahrzehnte im Strafvollzug Behandlungsangebote etabliert, die ursprünglich in der Psychiatrie bzw. Psychotherapie entwickelt wurde: Man denke an die vielerorts – oft als externe Psychotherapie – etablierten tiefenpsychologisch orientierten Einzelbehandlungen, die häufig als Gruppentherapie etablierten verhaltenstherapeutisch orientierten Behandlungsprogramme wie zum Beispiel das kognitiv behavioral ausgerichtete Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter. Die rechtlichen Rahmenbedingungen im psychiatrischen Maßregelvollzug, insbesondere die Maßregelvollzugsgesetze der letzten Jahrzehnte haben sich jedoch an den Strafvollzugsbestimmungen orientiert. Aus meiner Sicht mögen dabei die Maßregelvollzugspatienten durch die ausgefeiltere Maßregelvollzugsgesetzgebung sicher mehr Rechtssicherheit gewonnen haben, ihre Unterbringungsdauer hat sich dadurch nicht verkürzt. Wenn im Positionspapier der DGPPN formuliert wird: „leidet eine Person an einer Substanzmittelabhängigkeit oder einer sonstigen zumindest mittelschweren Alkohol- oder Drogenkonsumstörung (Substanzkonsumstörung), zu und wird sie wegen einer erheblichen rechtswidrigen Tat, die in der Substanzkonsumstörung begründet ist, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, so soll das Gericht die Anordnung der Unterbringung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen vorbehalten, wenn die Gefahr besteht, das sie in Folge ihrer Substanzkonsumstörung weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird und eine Suchtbehandlung angezeigt und geeignet erscheint, dieser Gefahr entgegen zu wirken“, wird mit dem Begriff „vorbehalten“ – ob intendiert oder nicht – ein Bezug zur Sicherungsverfahrungsgesetzgebung hergestellt. Die im Zuge der zunehmenden gesellschaftlichen Repression Ende des vergangen Jahrhunderts erfolgt der Ausweitung der Sicherungsverfahrung, die mit der Einführung der vorbehaltenen und nachträglichen Sicherungsverwahrung einherging, hat Gott sei Dank das Bundesverfassungsgericht aber insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Grenzen gesetzt. Viele europäische Länder, nicht zuletzt die ehemalige DDR, kamen ohne das Instrument der Sicherungsverfahrung aus.

Des Weiteren sollte man aus meiner Sicht auch diskutieren, ob die Anordnung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB als Maßregel nicht gänzlich abgeschafft wird, was mein Lehrer Wilfried Rasch bereits in der 2. Auflage seines Lehrbuchs vor der Jahrhundertwende vorgeschlagen hatte. Dabei müssten die existierenden Einrichtungen gemäß § 64 StGB nicht zwangsläufig aufgelöst, sondern könnten in Einrichtungen mit besonderen Behandlungsangeboten für Straftäter mit Suchterkrankung weiter genutzt werden, in dem die Betreffenden zum Beispiel über § 65 StGB zur Aufnahme kommen sofern nicht – auch dies wurde bereits vor vielen Jahren diskutiert und letztlich auf politischer Ebene verworfen – das grundsätzliche Prinzip „Therapie statt Strafe“, dass den § 35 BTMG (Betäubungsmittelgesetzt) bestimmt, auch auf alkoholabhängige angewandt wird. Dann könnte die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts die Vollstreckung der Strafe oder eines Strafrestes zurückstellen, wenn sich der Betreffende in eine entsprechende Einrichtung zur medizinischen Rehabilitation begibt. Aus meiner Sicht würde für eine derartige Lösung auch sprechen, dass in den letzten Jahrzehnten bei abhängigkeitserkrankten Straftätern zunehmend keine „reine“ Alkohol-oder Drogenabhängigkeit vorliegt, sondern ein Mischkonsum, der für eine gemeinsame Behandlung spricht. Die DGSP hat in einer Stellungnahme vom 2.3.2022 sowohl die Abschaffung der Maßregeln gemäß §§ 63,64 StGB als auch die Abschaffung der Schuldfähigkeitsbestimmungen gefordert.

Ich möchte jetzt an dieser Stelle die weitere Diskussion nicht vertiefen, das Spannungsfeld – Beibehaltung/Modernisierung auf der einen Seite – Abschaffung des § 64 StGB bzw. Ersetzung ist abgesteckt, ich erhoffe mir eine spannende Diskussion über die in Betracht kommenden Selektionswege, denn eines ist aus meiner Sicht unzweifelhaft : Suchtkranke Rechtsbrecher sollen nicht einfach weggesperrt werden, es sollte der bestmögliche Weg zur bestmöglichen Therapie gefunden werden denn die beste Sicherung ist die sichere Besserung.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!

Einführung in das Tagungsthema

PROF. DR. IUR. HABIL.HELMUT POLLÄHNE, Bremen
Rechtsanwalt, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Konfliktforschung e. V.

Entziehungsanstalten im Übermaß
Strafe – Sucht – Therapie – Reform des § 64 StGB

1. Konfliktforschung im Übermaß?

50 Jahre Konfliktforschung – 50 Jahre IfK – 50 Jahre Maria Laach

Dies ist das verflixte 49. Symposium, das eigentlich schon das 51. sein sollte, wenn nicht – ja: wenn Corona nicht wäre, oder darf man schon sagen: gewesen wäre? Corona bzw. Pandemie – auch ein spannendes Thema der Konfliktforschung: Der Versuchung sind wir aber nicht erlegen, das diesjährige Symposium, was trotz allem noch immer das 49. ist, dem Infektionsschutz zu widmen.

Sagen wir mal: 50 jähriges Jubiläum plus/minus x, das muss reichen. Die dem entsprechende Dokumentation liegt seit vorgestern druckfrisch vor. Daraus hier nur wenige Zitate:

„Das kann kein Zufall (gewesen) sein! In den 1970er Jahren gibt es – im deutschsprachigen Raum – gleich vier Gründungen von Instituten für Konfliktforschung: Den An-fang macht 1970 das Leibniz-Institut der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (hsfk), ein Jahr später (1971) folgt ‚unser‘ Institut für Konfliktforschung (IfK) in Köln, 1972 das Institut für Konfliktforschung und Krisenberatung (IfKK) in Aschheim bei München und 1975 das Institut für Konfliktforschung (ikf) in Wien.

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Waren es Zeiten besonderer Konflikte, war es das zunehmende Bedürfnis, Konflikte auszutragen, oder ‚nur‘ das wachsende Bewusstsein, Konflikte – ob nationale oder internationale, soziale oder interpersonale – anders als bisher (und das hieß: nicht mehr primär repressiv oder gar militärisch) bearbeiten und demgemäß erforschen zu müssen? Wie dem auch sei: Es war offenbar das Jahrzehnt der Konfliktforschung – und alle genannten Institute existieren übrigens noch immer.

Als das IfK (faktisch bereits 1969, formal dann 1971, das erste Symposium fand 1970 statt) gegründet wurde, war der heutige wissenschaftliche Leiter noch nicht einmal Teenager, trug zwar sicher schon den einen oder anderen Konflikt aus, verschwendete jedoch (noch) keine Gedanken daran, was es mit Forschung auf sich haben und wofür ein Institut – gar eines für Konfliktforschung – gut sein könnte. Auch die Themen der ersten Stunden und Jahre (Schuldstrafrecht 1975; Pönometrie 1977; politisch motivierte Kriminalität 1978; Radikalismus 1979; Obsessionsdelikte 1980) waren ihm fremd, mit Ausnahme vielleicht der „Kinderkriminalität“ (1976), aber das würde hier zu weit führen.

Das >Symposium< wird gängiger Weise mit Konferenz oder Tagung assoziiert: Schade eigentlich, denn das griechische Original >Symposion< geht wohl zurück auf >Gastmahl & Trinkgelage<: Das was da alljährlich in Maria Laach stattfindet, ist eben nicht ‚nur‘ eine Zweitagung, sondern – um im Bilde zu bleiben – immer auch eine Nächtigung, >Gastmahl & Trinkgelage< inbegriffen. Die Fachlichkeit der Tagungen ist bei alledem aber noch nie in Zweifel gezogen worden.

Bisweilen gerät man in innere Konflikte mit der eigenen Außendarstellung: Das Institut für Konfliktforschung >richtet seit 1971 in Maria Laach jährlich ein Symposium aus, auf dem Themen aus den Bereichen Recht, Psychiatrie (Maßregelvollzug) und Gesellschaft kontrovers erörtert werden<, ist der Kölner Homepage zu entnehmen. So weit, so gut, nur: der inhaltliche Rahmen >Recht, Psychiatrie (Maßregelvollzug) und Gesellschaft< ist damit – allemal im Mittelteil – zu knapp abgesteckt. Zum >Recht< muss jedenfalls die Justiz hinzugedacht werden, aber auch Gesetzgebung und Kriminalpolitik. >Gesellschaft< ist ein weites Feld, das in Maria Laach zweifellos bestellt, vor allem aber repräsentiert wird durch Akteure: Der Forschungsansatz (s.u.) sei >inter-disziplinär und praxisorientiert<, weshalb sich das Institut an alle Berufsgruppen wende, die professionell mit Konflikten umzugehen haben, vor allem >forensische PsychiaterInnen und PsychologInnen, SozialarbeiterInnen und BewährungshelferInnen sowie StrafjuristInnen, darunter alle StrafverteidigerInnen<.

>Wir erforschen< – so ist weiter zu lesen – >die Ursachen, die Verhütung und die Lösung von Konflikten<, sowie: >Es gibt kein menschliches Zusammenleben ohne individuelle und soziale Konflikte.< Letzteres mag man ohne Wenn und Aber unterschreiben, Ersteres bedarf der Konkretisierung:

Forschungsschwerpunkt des IfK war von Anfang an das sog. >abweichende Verhalten<. Mit Unterstützung und in enger Zusammenarbeit mit dem Verein >Deutsche Strafverteidiger e.V.< untersucht das Institut dementsprechend u.a. >Ätiologie, Prävention und Therapie von kriminellem Verhalten< und analysiert >die legislativen und justiziellen Formen der Konfliktlösung und macht deren Alternativen bewusst<. Dabei gilt seine besondere Aufmerksamkeit >den Konflikten zwischen den Verfahrensbeteiligten im Gerichtsverfahren<. Wir betrachten Konflikte – auch auf Seiten von Straftäter*innen (bei aller Hochschätzung der Unschuldsvermutung) – als >Erscheinungsformen menschlichen Daseins, die nicht ausgegrenzt und dämonisiert werden dürfen.< Mit Prävention und Therapie liegt man bei vielen Symposien nach wie vor richtig, was für die >Ätiologie< so nicht (mehr) stimmen dürfte, sind doch Fragen der Kriminalisierung zunehmend in den Fokus geraten.

Das IfK tritt (auch) deshalb ein für >eine humane, tolerante und liberale Rechtskultur, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie auch dem von den geltenden Normen ab-eichenden Menschen Verständnis entgegenbringt<. Auf dieser Basis informieren wir – auch so steht es auf der Homepage zu lesen – die Öffentlichkeit, führen >Forschungsvorhaben und wissenschaftliche Veranstaltungen durch und nehmen auch zu aktuellen rechts- und kriminalpolitischen Fragen kritisch Stellung<. Schön wäre es?! Forschungsvorhaben i.e.S. führen wie nicht durch, will man nicht die letzten 50 Jahre IfK als ein einziges solches Vorhaben i.w.S. einordnen. Und, seien wir ehrlich: Zu aktuellen rechts- und kriminalpolitischen Fragen, derer es wahrlich genug gibt, nimmt das Institut als solches nicht kritisch Stellung – aber immerhin bieten wir jahraus jahrein ein Forum, auf dem kritische und wahrlich nicht konfliktscheue Stellungnahmen zur Genüge zu vernehmen sind.

Ausblick: Wo stehen oder sitzen wir in 50 Jahren? Hoffentlich nicht in Video-Sessions! Das Kloster in Maria Laach jedenfalls wird noch stehen, der Vulkan also wohl noch nicht wieder ausgebrochen sein, und Konflikte wird es weiterhin geben, ebenso den Bedarf, diese auszu(er)tragen und zu erforschen. Dass es dereinst ‚out‘ sein sollte, sich dafür ein >Gastmahl & Trinkgelage< (Symposion) zu organisieren, kann und will sich der Verfasser nicht vorstellen.“

 

2. Entziehungsanstalten im Übermaß ?

Und damit zurück zum Thema des diesjährigen Symposiums

Hat eine Person „den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen,“ so heißt da in § 64 S. 1 StGB, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht „die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.“ Die Anordnung ergeht aber nur, wenn eine „hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt …. zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.“

Haben Kriminalpolitik und Strafjustiz den Hang, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Übermaß anzuordnen und zu vollstecken? Offenbar, wenn man sich aktuelle Zahlen und Meldungen anschaut … dazu später. Damit wäre ein Tatbestand erfüllt, wie die Jurist*innen das nennen – was aber wäre dann die Rechtsfolge?

Diese Frage ließe sich vielleicht justiziell beantworten, de lege lata wie das heißt, also nach geltendem Recht, nur: wie? Vielleicht lässt sich die Frage aber auch nur noch kriminalpolitisch beantworten, also de lege ferenda: weil das Recht geändert werden muss, nur: wie?

Diese Fragen, die bereits notorisch lange diskutiert werden (auch dazu gleich mehr), haben uns hier zusammengeführt, Diskussionen ihrerseits mit dem Hang zum Übermaß, aber sie müssen geführt werden, nicht zuletzt weil es sich bereits um einen Vorgang im BMJ handelt.

Aber, und dafür steht der Untertitel dieses Symposiums, es muss um mehr gehen als nur die „Reform des § 64 StGB“, nämlich um das Gesamtsystem aus „Strafe, Sucht und Therapie“ – dass in diesem Untertitel auch eine Strafe steckt, die die Therapie sucht, ist selbstverständlich kein Versehen:

Mit einer Reduktion der Einweisungen in die Entziehungsanstalten und deren Belegung haben sich die damit – also mit dieser Klientel und ihren Taten – verbundenen Probleme ja noch lange nicht reduziert. Sie stattdessen in den Strafvollzug einzuweisen, ist jedenfalls beim gegenwärtigen Zustand der Gefängnisse keine Lösung sondern zweifellos eine Verschärfung der dort ohnehin vorherrschenden Probleme. Aber der Reihe nach:

Entziehungsanstalten im Übermaß I: drei Meldungen

 

Zitate aus dem Weser-Kurier v. 31.3.2021:

Im Niedersächsischen Maßregelvollzug sind die Betten knapp – derzeit warten rund 200 verurteilte suchtkranke und psychisch kranke Straftäter auf einen Platz. >Die Aufnahme- und Unterbringungskapazitäten sind angespannt, auch gibt es teilweise Überbelegungen<, sagte eine Sprecherin des Sozialministerium in Hannover. Hintergrund sei, dass Gerichte immer häufiger eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach Paragraf 64 Strafgesetzbuch anordneten. … >Der Aufnahmedruck im Maßregelvollzug betrifft alle Bundesländer und stellt alle Einrichtungen vor Probleme<, sagte die Sprecherin. ..… Am 26. März waren 198 Verurteilte auf der Warteliste, davon 121 auf freiem Fuß. … In Niedersachsen gibt es aktuell 1231 Plätze im Maßregelvollzug. … Das Land arbeite daran, die Zahl der Plätze deutlich zu erhöhen, hieß es. … Die [FDP]-Fraktion fordere, den Bestand an leer stehenden Liegenschaften und kurzfristige Unterbringungsmöglichkeiten zu prüfen, auch private Kliniken oder die Unterbringung in andere Bundesländern kämen infrage. >Für einige Täter kann auch eine ambulante Therapie ausreichend sein, … Es sei nicht hinnehmbar, dass Verurteilte in der Wartezeit teils schwere Straftaten begingen.

Zitate aus SWR-aktuell v. 18.10.2021:

Die jüngsten Ausbrüche aus der Psychiatrie in Weinsberg haben landesweit für Aufregung gesorgt. BW-Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) will ein reformiertes Strafrecht. In einer Sondersitzung das Landtags-Sozialausschusses am Montag verwies Lucha auf die hohe Zahl von zu Unrecht in die Psychiatrie eingewiesenen Straftätern. Immer mehr Straftäter mit vermeintlicher Suchtproblematik kämen in den sog. Maßregelvollzug, weil der entsprechende Paragraf im Strafgesetzbuch unscharf gefasst sei. Man brauche so schnell wie möglich eine Gesetzesänderung, die bereits eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe angeregt habe. In den letzten vier Jahren sei die Zahl der Patienten im Maßregelvollzug um mehr als 20 % auf knapp 1.300 gestiegen, gleichzeitig werde jede zweite Suchttherapie abgebrochen, betonte der Minister.

Zitate aus DLF v. 09.02.2022:

Klinik oder Knast – Warum immer mehr süchtige Straftäter im Maßregelvollzug landen; die Gerichte schicken immer mehr drogenabhängige Straftäter in den Maßregelvollzug. Die forensischen Kliniken sind überfüllt, die Wartelisten lang. Das Bundesjustizministerium will jetzt das Strafgesetzbuch reformieren (von Timo Stukenberg)

Matthias Jacobi ist Sozialarbeiter auf einer Station für die 64er im Berliner Krankenhaus des Maßregelvollzugs. Die meisten seiner Patienten kommen direkt aus dem Gefängnis hierher.

„Im Moment sieht es so aus, dass die Abteilung weiterhin bis zum letzten Platz belegt ist, es allerdings auch einen Rückstau gibt im Sinne einer Warteliste von Patienten, die sich im Moment noch im regulären Justizvollzug befinden, bei denen der Paragraf 64 angeordnet ist.“

Jacobis Patienten sitzen dann nicht wegen ihrer Freiheitsstrafe im Gefängnis, sondern sie befinden sich offiziell in Organisationshaft. Das heißt, eigentlich müssten sie in die Klinik, um dort einen Entzug zu machen. Stattdessen sitzen sie aber im Gefängnis und warten auf einen freien Behandlungsplatz.

„Aber, wenn jemand dann sitzt und ist eigentlich primär hoch motiviert und hat dann das Gefühl ich warte hier, ich warte hier und die Haftzeit nimmt gar nicht mehr ab. Dabei erlebe ich das oftmals auch durch die Berichte der Patienten, wenn sie dann endlich angekommen sind. Das ist relativ demotivierend schon im Vorfeld.“

Im Maßregelvollzug werden neben den 64ern auch Menschen behandelt, bei denen ein Gericht wegen einer psychischen Erkrankung eine Unterbringung angeordnet hat. Doch im Fokus stehen seit einiger Zeit die 64er, deren Taten also im Zusammenhang mit Drogen- oder Alkoholmissbrauch stehen. Ihre Zahl hat sich deutschlandweit in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Das geht aus dem Bericht einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe hervor, der im Januar veröffentlicht wurde. Im Schnitt waren 2020 demnach 5280 Personen untergebracht. Einige von ihnen auf geschlossenen Hochsicherheitsstationen, andere in Einrichtungen, die eher einer herkömmlichen Psychiatrie ähneln. Maßgeblich verantwortlich für den Anstieg der Patientenzahl im Maßregelvollzug ist der Paragraph 64 des Strafgesetzbuches.

Er wurde bei der großen Strafrechtsreform 1975 neu gefasst. Demnach sollen Menschen, die im Zusammenhang mit einer Drogensucht straffällig geworden sind, in einer Entziehungsanstalt untergebracht und behandelt werden. Die dafür zuständigen Kliniken des Maßregelvollzugs sind vielerorts jedoch überbelegt und das Personal an seinen Belastungsgrenzen. Mehrere Bundesländer müssen die nach Paragraf 64 Verurteilten längst anderswo unterbringen. So auch in Thüringen, heißt es aus dem dortigen Sozialministerium.

„Mangels anderweitiger Unterbringungsmöglichkeiten ist es mit Blick auf die akute Überbelegung der § 64-Maßregelvollzugseinrichtung sowohl aus vollzugsorganisatorischen Gründen, als auch zur Wahrung der Sicherheit des Vollzugs erforderlich, geeignete Patientinnen und Patienten abweichend vom Vollstreckungsplan zuzuweisen.“

In Bremen waren zum Stichtag 31. Dezember 2021 nur noch zwei reguläre Betten in Entziehungsanstalten frei, in Brandenburg war es nur noch eins. Das zeigt eine Abfrage des Deutschlandfunks unter den Bundesländern. Sachsen-Anhalt hatte seine Belastungsobergrenze bereits überschritten. Auch in Baden-Württemberg reichten die Behandlungsplätze nicht aus, sagt Manfred Lucha, gelernter Psychiatriepfleger und grüner Sozialminister in Baden-Württemberg. Das habe teils drastische Folgen.

„Also im schlimmsten Falle werden Verurteilte auf freien Fuß entlassen, wenn sie kein entsprechendes therapeutisches Angebot im Maßregelvollzug vorfinden. Und das gilt es auf alle Fälle zu verhindern.“

Das Land will nun in den Entziehungsanstalten mehr Betten schaffen, teils durch Doppelbelegung. Wo das nicht geht, wohnen die Menschen auf dem Gelände der Entziehungsanstalt in Containern.

Norbert Schalast, Psychotherapeut und Forscher an der Uni Bielefeld, untersucht seit vielen Jahren den Maßregelvollzug in Deutschland. Seiner Ansicht nach kann sich die Überbelegung sehr wohl auf die Behandlungsqualität auswirken.

„Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass gerade in den letzten Jahren Behandlungsteams einfach erschöpft sind und sich überfordert fühlen. Und das ist dann auch nicht unbedingt die beste Voraussetzung dafür, um Patienten zu motivieren und mit den Untergebrachten vernünftige Ziele definieren und auf die hinarbeiten. Und eigentlich ist der Paragraf 64 Maßregelvollzug ganz erfolgreich als sozialtherapeutische Maßnahme. Aber unter der Entwicklung der letzten 15 Jahre leidet das ganze System.“

Schon lange beschweren sich Kliniken des Maßregelvollzugs bei den zuständigen Gesundheits- und Sozialministerien der Länder über die Zustände. Rund zwei Jahre lang haben die Ministerien nun Reformvorschläge geprüft. In ihrem Abschlussbericht kommen sie zu dem Ergebnis, dass zu viele Menschen im Maßregelvollzug untergebracht werden, die eigentlich ins Gefängnis gehörten. Matthias Koller ist Vorsitzender Richter am Landgericht Göttingen und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Als Richter hat auch er bereits Menschen in einer Entziehungsanstalt unterbringen lassen.

„Das hat sicher auch was mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu tun, der dann doch häufig anmahnt, dass die Frage einer Schuldminderung und mehr noch die Frage einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt von den Gerichten in ihren Urteilen nicht näher geprüft worden ist.

Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe vermutet hinter den steigenden Zahlen einen – Zitat – „Missbrauch der Entziehungsanstalten“. Das zeige sich auch in der wachsenden Zahl der Untergebrachten, deren Therapie abgebrochen wird, weil sie als aussichtslos gilt. Die müssen wieder zurück ins Gefängnis. Im Berliner Krankenhaus des Maßregelvollzugs würden derartige Patienten schon auf der Aufnahmestation erkannt, sagt Sozialarbeiter Matthias Jacobi, etwa, wenn sie „Mitpatienten auch zum Beispiel zum Konsum wieder auffordern, auch Leute, also Mitpatienten, unter Druck setzen, bedrohen, teilweise auch Mitarbeiter versuchen, unter Druck zu setzen, um Drogen einzuschmuggeln, um Handys einzuschmuggeln, was ja letztendlich alles schon ein guter Indikator für eine schlechte Motivationshaltung ist. Und es schafft halt ein schlechtes Klima insgesamt.“

Bereits 2007 und zuletzt 2016 hatte die Bundesregierung versucht, den Anstieg zu bremsen – ohne Erfolg, gibt auch Axel Müller zu. Er ist Richter in Baden-Württemberg und sitzt als CDU-Bundestagsabgeordneter im Rechtsausschuss.

„Ja, wir haben ganz offen gestanden, natürlich auch ein Stück weit die Entwicklung beobachten müssen und dass es so aus dem Ruder läuft, wie es die letzten drei Jahre der Fall war. Das war da noch nicht abzusehen. Also die ganz exorbitanten Steigerungen haben wir, denke ich, in den Jahren 19 bis 21 gehabt. Diese Steigerungen hatten wir davor in dieser exorbitanten Form nicht.“

Während das Strafgesetzbuch Bundesangelegenheit ist, müssen sich die Bundesländer um die Unterbringung kümmern. Mehr als die Hälfte der Bundesländer plant oder prüft Neubauten, wie eine Umfrage des Deutschlandfunks zeigt. Hamburg will demnach seine Kapazitäten fast verdoppeln. In Nordrhein-Westfalen sind insgesamt zusätzliche 700 Betten geplant. Die ersten Neubauten könnten im kommenden Jahr fertig sein.

Bis dahin sind Übergangslösungen notwendig, also kurzfristig mehr Betten, sagt Sozialminister Manfred Lucha. Clara Bünger ist seit Januar rechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Sie hält den Ansatz für total verkürzt.

„Weder würde es Sinn machen, jetzt neue Kliniken zu bauen oder Entziehungsanstalten, noch würde das Sinn machen, jetzt einfach nur den Straftatbestand zu verkleinern, weil, dann verschiebt man und verlagert man nur das Problem.“

Ein Referentenentwurf soll „zeitnah“ folgen: Bünger kritisiert, dass sich der Vorschlag ausschließlich auf die Strafrechtsnorm beschränke. Sie vermisst bei dem Reformvorschlag ein Gesamtkonzept, das auch auf Prävention setzt.

„Dass da jetzt einfach nur ein Rumdoktern an strafrechtlichen Vorschriften bei herauskommt, ist aus meiner Sicht eine herbe Enttäuschung, weil es … sehr viele Experten, aber auch Angehörigenverbände natürlich auch viel dazu beigetragen haben, und Vorschläge gemacht haben, was man besser machen könnte.“

 

Entziehungsanstalten im Übermaß II: eigene Fälle

Revisionen

Immer häufiger kommen Kolleg*innen nach Verurteilungen oder Verurteilte selbst auf mich zu mit der Bitte, Revision einzulegen mit dem Ziel, doch noch eine Unterbringung gem. § 64 StGB durchzusetzen. Hintergrund sind zumeist horrende Strafen gegen Drogenhändler, zuletzt oft im Zusammenhang mit der Welle sog. EncroChat-Verfahren. Und diese Strafen haben – so mein Eindruck – in den vergangenen Jahren beständig zugenommen. In einem anderen Zusammenhang habe ich dies vor kurzem problematisiert unter dem Titel „Strafrecht und Kriminaljustizsystem im Drogenelend“. Das ist Teil jenes Problems, dass Norbert Schalast wiederum problematisiert hat unter dem Titel „Missbrauch der Entziehungsanstalten“. Dazu später …

Eine dieser Revisionen habe ich unlängst für den Mandanten gewonnen, das wird alsbald neu verhandelt; eine weitere Revision läuft noch, die nächste ist bereits angekündigt. Und auf der Grundlage der Rechtsprechung des BGH (dazu gleich) sind die Erfolgsaussichten nicht schlecht. Ob diese Mandanten – die ich mich immer bemühe, umfassend über Risiken und Nebenwirkungen aufzuklären – in einer Entziehungsanstalt gut aufgehoben sind, ist eine ganz andere Frage.

Dass diese Revisionen bzw. die ihnen zugrunde liegende Revisionsrechtsprechung mit beitragen zum Übermaß der Einweisungen in die Entziehungsanstalten und zu den erwähnten Wartelisten, versteht sich von selbst. Und damit zu weiteren Fällen, zunächst zur

 

sog. Organisations-Haft (O-Haft)

Die Wartelisten führen zu dem Phänomen, das findige Jurist*innen „Organisationshaft“ getauft haben: Ein Begriff, den das Gesetz nicht kennt, für eine Konstruktion von Freiheitsentzug, die das Gesetz ebenfalls nicht kennt. Zwei Konstellationen lassen sich unterscheiden:

  1. Die U-Haft-Fälle: Der zu einer Freiheitsstrafe und zu einer Maßregel gem. § 64 StGB Verurteilte sitzt bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils in U-Haft. Da ein Vorwegvollzug nicht angeordnet wurde, hat unverzüglich die Verlegung in den Maßregelvollzug zu erfolgen (§ 67 Abs. 1 StGB). Weil dort keine Plätze frei sind, sitzt er weiter im Justizvollzug, wo er nicht hingehört, und wartet – nicht selten drei Monate, weil noch findigere Jurist*innen sich einst ausgedacht haben, diese sog. O-Haft dürfe allemal drei Monate andauern – wie gesagt: das Gesetz kennt solches nicht, diese O-Haft ist rechtswidrig. Wenn Betroffene dagegen einen Antrag gem. § 458 StPO wegen Unzulässigkeit der Vollstreckung stellen, kommt es bisweilen dazu, dass Gerichte ihre Freilassung anordnen, damit sie dort, also in Freiheit, auf ihre Ladung zum Antritt des Maßregelvollzuges abwarten. Ob das alles im Sinne des Gesetzes und der Justiz ist, ist wieder eine andere Frage, die wir sicher noch eingehend diskutieren werden – und damit zur Konstellation
  2. Die Vorwegvollzugs-Fälle: Das Gericht hat die Maßregel gem. § 64 StGB und eine Freiheitsstrafe verhängt, die so hoch ist, das gem. § 67 Abs. 2 S. 2 StGB der Vorwegvollzug eines Teils dieser Strafe vor der Maßregel anzuordnen war. Nach Ablauf dieses Vorwegvollzuges steht die Verlegung in den Maßregelvollzug an, wenn die StVK dies gem. § 67c Abs. 1 StGB anordnet – eine Entscheidung, die beizeiten zu ergehen hat. Dass Betroffene länger als das Gericht es angeordnet hat, im Vorwegvollzug der Begleitstrafe verbleiben, ist inakzeptabel. Das OLG Oldenburg war anderer Meinung, was mich zu einer ausführlichen Anmerkung veranlasst hat, die in der aktuellen Ausgabe des Strafverteidiger (5/22) nachzulesen ist.

 

Dreijahres-Fälle/-Falle

Vorgestern, Anruf aus dem Nds. Justizministerium, kurz vor meiner Abreise. Da werde ein Gnadenantrag bearbeitet, dem wolle man stattgeben, es sei aber noch nicht über Bewährungsauflagen geredet worden, deshalb der Anruf, quasi eine telefonische Anhörung … was war geschehen?

Wie den gen. Meldungen zu entnehmen, gibt es nicht wenige rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe und der Maßregel gem. § 64 StGB Verurteilte, die sich ohne Bewährung auf freiem Fuß befinden und auf die Ladung zum Antritt des Maßregelvollzuges warten. Die Ladung könnte jederzeit kommen, sie könnte aber auch drei Jahre auf sich warten lassen – kein Wunder bei den Wartelisten und der Priorisierung von U-Haft- bzw. O-Haft-Fällen.

Und dann kommt eine Vorschrift in den Blick, die bis vor kurzem noch dem sog. ‚toten Land‘ zugeordnet wurde, weil sie praktisch keine Anwendung fand: § 67c Abs. 2 StGB. Wenn eine Maßregel drei Jahre nach Rechtskraft ihrer Anordnung noch immer nicht vollzogen wird (ohne dass der Betroffene anderweitig in Haft ist), kann sie nur noch vollstreckt werden, wenn das Tatgericht es ausdrücklich anordnet.

Wenn es so lief, wie in den zwei Fällen, mit denen ich jetzt zu tun hatte, dann kommt es zur Erledigung der Maßregel: Die Mandanten sind offenbar nicht rückfällig geworden, d.h. weder in puncto Sucht, noch in puncto Kriminalität. So weit so gut und so geschehen: in beiden Fällen wurden die Maßregeln von dem Gericht, das sie rund drei Jahre zuvor angeordnet hatte, für erledigt erklärt. Aber, was wird nun aus der Begleitstrafe, oder aus der Reststrafe nach Anrechnung von U-Haft? Da es sich in beiden Fällen um Strafen bzw. Reststrafen von mehr (wenn auch nur wenig mehr) als zwei Jahren handelt, kam und kommt eine Aussetzung zur Bewährung dem Gesetz zufolge nicht in Betracht – wobei man dazu sagen muss: § 67c Abs. 2 StGB schweigt sich dazu aus. Meine Versuche, dies gerichtlich vorab klären zu lassen, sind am OLG Celle gescheitert (s. StV 5/22). Blieb also nur der Gnadenantrag.

Wer glaubt – das am Rande bei dieser Gelegenheit – das Gnadenrecht habe in unserem heutigen Rechtsstaat nichts (mehr) zu suchen: Gerade im Vollstreckungsrecht und z.B. in solchen Fällen hilft nur noch das Gnadenrecht. Und in einem der Fälle (der andere wird noch geprüft) mit Erfolg: Die Reststrafe von 2 J. 4 M. wird zu Bewährung ausgesetzt. Dass der Mandant damit – von einer gewissen Dauer der U-Haft abgesehen – letztlich weder in den Maßregel- noch in den Justizvollzug muss, ist sachgerecht. Aber so wie die Zeiten sind: in der Zeitung sollte das wohl eher nicht stehen …

 

Entziehungsanstalten im Übermaß III: die Rolle des BGH

In dem von Müller und Koller (die leider beide nicht hier sind) 2020 hrsg. Sammelband „Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB“ äußerte Radtke (aaO S. 61 mwN) die Vermutung, die Tatgerichte seien allzu „anordnungsfreundlich“. Meine eigene Auswertung (für die 5. Aufl. des NK-StGB, der hoffentlich noch dieses Jahr erscheint) der aus dem Jahr 2020 (bei juris) veröffentlichten Rspr. des BGH ergab, dass in insg. 75% der Fälle entweder eine Anordnung nicht beanstandet (48%) oder eine Nichtanordnung beanstandet wurde (27%); vor diesem Hintergrund dürfte die Vermutung von Radtke, die Tat-Gerichte seien allzu „anordnungsfreundlich“, mindestens zu relativieren sein. Und damit komme ich zu meinem letzten Punkt:

 

Entziehungsanstalten im Übermaß IV: Positionen

Gemeinsam mit Andrea Kemper habe ich 2007 „Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum nordrhein-westfälischen Maßregelvollzug – Entlassungsjahrgang 2005“ veröffentlicht. Der „Ausblick“ las sich so:

Vor dem Hintergrund der hier präsentierten Ergebnisse drängt sich – nicht nur als naheliegendes Wortspiel – die Schlussfolgerung auf, § 64 stelle sowohl im Strafgesetzbuch als auch im psycho-sozialen und suchttherapeutischen Versorgungssystem eine kriminalpolitische Fehleinweisung dar. Das >Scheitern< so vieler >Einzelfälle< muss zumindest auch im System angelegt sein und strukturellen Schwächen angelastet werden: Wenn der >irreguläre Verlauf< zur Regel und der >reguläre< zur Ausnahme wird, läuft etwas grundsätzlich schief.

Für machen Verurteilte mag die längerfristige stationäre Unterbringung als vermeintliche oder reale >Alternative< zum Strafvollzug eine Chance sein, vielleicht sogar seine >letzte<. Es bleibt aber die offenbar noch immer nichthinreichend treffsicher zu beantwortende Frage: für welche Verurteilte? Sicher ist der Hinweis berechtigt, dass auch der >irreguläre< Verlauf (hier als Kategorisierung der Fehleinweisung) nicht per se >sinnlos< ist bzw. gewesen sein muss. Dies mag im Einzelfall mit dem Untergebrachte im therapeutischen Alltag ausgehandelt werden – eine schlüssige kriminalpolitische und therapeutische Konzeption lässt das aber nicht erkennen!

Die Suche nach den Prädiktoren der >Aussichtslosigkeit< erwies sich im vorliegenden Design jedenfalls als aussichtslos. Ob die praktische und legislative Kriminalpolitik gut beraten ist, weiterhin und zum Teil sogar verstärkt auf >den 64er< zu setzen und ihn mit vollstreckungsrechtliche Maßnahmen zu >sichern<, erscheint fraglich. Diese Frage zu beantworten, war freilich nicht primäres Erkenntnisinteresse dieser Studie: Einen wichtigen Beitrag zu den absehbar andauernden Debatten um die Zukunft der Unterbringung gemäß § 64 StGB dürften die vorliegenden Erkenntnisse allemal liefern. Es drängt sich der Eindruck auf, als habe diese Maßregel mit der jüngst in Kraft getretenen Reform eine letzte Bewährungschance erhalten – bevor sie kriminalpolitisch endgültig erledigt wird.

Was bleibt ist die empirisch abgesicherte Erschütterung von >Alltagsannahmen< und die erfahrungswissenschaftliche Relativierung des in der Praxis und bei Gutachtern verbreiteten Erfahrungswissens.

Der Kollege Lutz Eisel aus Bochum, eine der treuesten Teilnehmer unserer Symposien, war diesmal leider verhindert. Es lässt schön grüßen und übersandte mir ein „Pamphlet“ aus dem Jahre 2006 mit der – auf Nachfrage – ausdrücklichen Genehmigung, dies hier zu Gehör zu bringen. Er hatte es am 29.11.2006 beim Expertengespräch >Psychiatrie & Recht< der LWL-Maßregelvollzugsabteilung Westfalen vorgelegt.

Anfang der 90-er Jahre schien das Ende des § 64 StGB gekommen zu sein; nachdem der BGH es schon 1992 ermöglicht hatte, bei einer Revision die Nichtanwendung des § 64 StGB von der Revisionsrüge auszunehmen (StV 1992, 572), hatte das BVerfG durch Urteil v. 16.03.1994 (StV 1994, 594) die Vorschrift insoweit für nichtig erklärt, als eine hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolgs nicht besteht.

Doch die Zuweisungszahlen in diese Maßregel wurden nicht geringer, sondern nahmen – und nehmen – vielmehr zu. Auch erfolgen die >Erledigungen< nach § 67d Abs. 5 StGB nicht (nur) in den ersten Monaten der Unterbringung, sondern gleichermaßen nach 1, 1 ½ oder 2 Jahren. Wenn man die Gesamtheit der >Erledigungen< den Zahlen der Aussetzungen bei positiver Prognose (§ 67d Abs. 2 StGB) gegenüberstellt, dann scheint diese Maßregel – zumindest im Drogenbereich – ihre Berechtigung verloren zu haben.

Wenn man aber die >Konkurrenz< der Vollstreckungslösung der §§ 35, 36 BtMG betrachtet, dann ist der § 64 StGB doch in einem anderen Licht zu sehen. Denn die unendliche Zahl von Abbrüchen beim § 35 BtMG und die dort zu findende >Drehtür-Therapie< (bis sich kein Kostenträger mehr findet) offenbart, dass bei >Therapie statt Strafe< die Angst vor der Staatsanwaltschaft oft die einzige Motivation ist, sich in eine solche Therapie zu begeben (was nicht heißt, sich dort therapieren zu lassen). Die viel zu kurzen Zeiten der Kostenzusage für eine Therapie im Rahmen des § 35 BtMG lassen ein Scheitern solcher Therapien fast schon als vorprogrammiert erscheinen. Demgegenüber ist der – viel intensivere und auch viel langfristiger angelegte – Therapieansatz beim § 64 StGB erfolgversprechender – auch wenn es dennoch viel zu oft zu einer Erledigung nach § 67d Abs. 5 StGB kommt.

In einer solchen Situation drängt sich als Lösung eine entsprechende Anwendung des § 9 StVollzG auf. Denn die – nie als § 65 StGB in Kraft getretene – Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt findet seit vielen Jahren – durchaus erfolgreich – als Vollzugslösung im Rahmen der Strafvollzuges statt. Die Motivation der Gefangenen, aus der JVA in eine Einrichtung gem. § 9 StVollzG verlegt zu werden, ist recht hoch. Denn die sozialtherapeutische Anstalt wird nicht als >Strafversetzung< empfunden, sondern eher als >Sprungbrett< auf dem Weg zu Lockerungen und zur Entlassung.

Wenn also die Vorschrift des § 64 StGB ersatzlos aus dem StGB gestrichen wird und stattdessen ein § 9a StVollzG eingefügt wird, der die Verlegung von Gefangenen mit einem Suchthintergrund in eine Entziehungsanstalt ermöglicht, dann hätte diese (nicht mehr Maßregel, sondern) Therapieform eine neue, bessere Zukunft. Die Kliniken (und das Personal) blieben erhalten; sie wären dann halt im Bereich des Justizministeriums den Justizvollzugsanstalten gleichgestellt.

Die Akzeptanz der Entziehungsanstalten wäre dann auch bei den Gefangenen erhöht, weil die Verlängerung der Haftzeit entfiele (die 2 Jahre des § 67d Abs. 1 StGB würden ja auch gestrichen) und die gesamte Zeit der Therapie auf die Strafe angerechnet würde. Auch das leidige Problem des Vorwegvollzuges (§ 67 Abs. 2 StGB) hätte sich erledigt.

Ob die derzeitige Regelung der §§ 35, 36 BtMG dann noch eine eigenständige Berechtigung hätte, wäre gesondert zu überlegen. Hier wäre evtl. an Therapie im Rahmen des § 56c Abs. 3 S. 1 StGB (d.h.: als Bewährungsauflage) zu denken, ggf. auch im Rahmen einer Reststrafenaussetzung nach § 57 Abs. 1, Abs. 3 StGB, so dass auch diese – bei der hohen Zahl der Drogenabhängigen sicherlich auch weiterhin erforderlichen – Therapieplätze erhalten blieben.

Im 8. Alternativen Drogen- und Suchtbericht (ADSB) 2021 habe ich über die Reformdebatte zu § 64 StGB berichtet. Daraus in Kürze (und ohne die Nachweise) das Fazit unter der Überschrift „Eine Reform scheint also überfällig: aber welche?“

Auf ein >so kann es nicht weitergehen< können sich alle mühelos verständigen, eher gestern als heute. Reformvorschläge liegen auf dem Tisch.

>More of the same< darf es nicht geben. Den letztlich justiziell erzeugten Belegungsdruck durch den weiteren Ausbau von Entziehungsanstalten aufzufangen, ist keine Lösung. Die bestehenden strukturellen und praktischen Probleme stationärer Kriminal-Sucht-Therapie würden damit allenfalls zeitlich verlagert, die Lage nur vorübergehend entspannt, letztlich aber auf quantitativ höherem Niveau perpetuiert.

>Weg damit< (esse delendam) ist aktuell aber auch keine Forderung, die weiter hilft: Ob und ggf. wofür und in welchem rechtlichen Rahmen die bestehenden >Entziehungsanstalten<, die durchweg ohnehin mal mehr mal weniger an Justizvollzugsanstalten erinnern, gebraucht werden, wäre eine fachliche Debatte wert – die beschriebenen Probleme wären damit aber  auch nicht >weg<. Ob es dafür des § 64 StGB (zzgl. all der z.T. erwähnten Begleitvorschriften) als Grundlage bedarf, ist jedoch eine andere Frage. Die Abgrenzung der Anwendungsbereiche des § 35 BtMG einerseits und des § 64 StGB andererseits ist (ungeachtet des Sonderproblems der von § 35 BtMG nicht erfassten Alkoholiker) ohnehin kaum nachvollziehbar.

Das Ganze als >Zusatzangebot< zum Regelvollzug zu organisieren erscheint diskutabel, wobei Blicke über den nationalen Tellerrand hilfreich sein können, blendet aber die notorischen Unzulänglichkeiten des Justizvollzugssystems gerade in puncto Gesundheitsversorgung, Drogenberatung und Suchttherapie aus.

Der Versuch, die Einweisungszahlen über eine Änderung der Rechtsgrundlagen im StGB zu reduzieren, ist 2007 pp. bereits einmal gescheitert: Aktuelle Vorschläge zur Umformulierung des § 64 erweisen sich auch deshalb als nicht zielführend. Den Begriff >Hang< z.B. durch >Abhängigkeit< o.Ä. zu ersetzen, hilft nicht wirklich weiter und könnte sich letztlich als wirkungslose Modernisierung erweisen; auch die Anknüpfung an eine Verminderung der Schuldfähigkeit.

Vorschläge, das Vollstreckungsrecht rund um § 64 StGB unattraktiver zu gestalten, um Angeklagten einen Anreiz zu nehmen, dem Weg in die Entziehungsanstalt den mutmaßlichen Vorzug zu geben, sind zurückzuweisen: Ganz abgesehen davon, dass zahlreiche Angeklagte ohnehin nicht gut beraten sind, auf die § 64-Karte zu setzen, sollte z.B. nicht weiter darüber nachgedacht werden, die in § 67 Abs. 5 StGB verankerte Erleichterung der Halbstrafenaussetzung – in der Praxis ohnehin nur selten erreichbar (s.o.) – zu streichen, sondern den Anwendungsbereich der vorzeitigen Aussetzung bereits nach der Hälfte der Strafe für alle Gefangenen auszuweiten. Wer vermeintliche Fehlanreize beseitigen will, müsste ja konsequenterweise auch das Recht des Maßregel-Vollzuges verschärfen, also etwa sog. Lockerungen oder den offenen Vollzug reduzieren: Rechtlich und fachlich ein Weg in die Irre.

Es fällt nach allem schwer, ein Patentrezept zu formulieren, dass es in Anbetracht der Komplexität der Problemlagen auch nicht geben wird. Wichtig wäre, das Gesamtsystem auf den Prüfstand zu stellen, also den drogen- und kriminalpolitischen, strafrechtlichen und -justiziellen Umgang mit Drogen und Sucht. Die aktuelle Fixierung auf die „Entziehungsanstalten“ wird der Herausforderung nicht gerecht. Die Reformvorschläge erscheinen kurzsichtig und werden die meisten Probleme eher verschieben als lösen.“

Die DGSP hat (unter Federführung von Feißt, Lewe und Kammeier) am 01. März 2022 das „Plädoyer für eine Transformation der Maßregeln der §§ 63 und 64 StGB“ veröffentlicht mitsamt „organisationaler, empirischer und rechtspolitischer Argumente für eine Änderung des Sanktionenrechts“. Im Mittelpunkt des Plädoyers zur „Abschaffung der §§ 63, 64 StGB sowie der §§ 20, 21 StGB“ steht der psychiatrische Maßregelvollzug gem. § 63 StGB – es entsteht leicht der Eindruck, das ‚Kind des § 64‘ sei irgendwie mit dem Bade ausgeschüttet worden. Warum ausgerechnet die Unterbringung in einer sog. „Entziehungsanstalt“ als Maßregel erhalten bleiben sollte, wenn man diejenige in der forensischen Psychiatrie gem. § 63 StGB abschafft, drängt sich freilich als Folgefrage auf, wäre aber für sich genommen noch kein hilfreicher Beitrag zur vorliegende Debatte.

Die Ergebnisse der sog. Bund-Länder-AG „zur Prüfung des Novellierungsbedarfs im Recht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des Strafgesetzbuches (StGB)“ legte am 22.11.2021 „Vorschläge zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB“ vor, die Anfang 2022 vom BMJ veröffentlicht wurden. Sie sollen hier nicht einzeln abgearbeitet werden, zumal sie in den Diskussionen des Symposiums sicher eine erhebliche Rolle spielen werden. Auf S. 35 dieses Entwurfs der Bund-Länder-AG heißt es wörtlich: „Alternativen [keine]“. Auch weil das eklatant falsch ist, sitzen wir hier. Die Vorschläge jener AG sind eine Alternative zur derzeitigen Rechtslage, aber es gibt – wie dargelegt – diverse Alternativen.

In diesem Sine wünsche ich dem Symposium einen konstruktive Diskurs im Übermaß!

 

Literaturhinweise:

Bund-Länder-AG (BMJ) (2022) zur Prüfung des Novellierungsbedarfs im Recht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des Strafgesetzbuches (StGB). Vorschläge zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB. www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Bericht_Massregelvollzug.html

DGSP (Feißt/Lewe/Kammeier) (2022) Plädoyer für eine Transformation der Maßregeln der §§ 63 und 64 StGB. www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/2022/Plaedoyer_fuer_eine_Transformation_der_Massregel.pdf (Teilveröffentlichung in StV 2022, S. 343)

Eisel (2006) § 64 ist tot – es lebe die Entziehungsanstalt! unveröff. Diskussionspapier, vorgelegt am 29.11.2006 beim Expertengespräch >Psychiatrie & Recht< der LWL-Maßregelvollzugsabteilung Westfalen

Müller/Koller (Hrsg.) (2020) Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB. Stuttgart

Pollähne (2021) Strafrecht und Kriminaljustizsystem im Drogenelend. BAGS-Info Heft 2, S. 39

Pollähne (2021) „Entziehungsanstalten“ zur Disposition gestellt: Vom Scheitern des Maßregelvollzuges in der Suchttherapie, in: akzept e.V. Bundesverband (Hrsg.) 8. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2021. Lengerich S. 112

Pollähne (2022) Vorwegvollzug und Organisationshaft. Anmerkung zu OLG Oldenburg, Beschl. v. 09.03.2021 – 1 Ws 44/21, StV 2022, 316. StV S. 318

Pollähne/Kemper (2007): Fehleinweisungen in die Entziehungsanstalt (§ 64 StGB): Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum nordrhein-westfälischen Maßregelvollzug – Entlassungsjahrgang 2005. Berlin

Die Vorträge 2022

Entziehungsanstalten am Limit? Erkenntnisse aus Stichtagserhebungen

DR. MED. CHRISTIAN RIEDEMANN, Bad Rehburg
Chefarzt Krankenhaus Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen

Entziehungsanstalt am Limit?

In dem Vortrag im Rahmen der Tagung im Mai 2022 in Maria Laach sollen zunächst 2 Patienten vorgestellt werden aus dem Klinikalltag in Bad Rehburg. Ein Patient wurde zu 5 Jahren Haft verurteilt wegen eines schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Er durchlief die Unterbringung im Maßregelvollzug ohne besondere Vorkommnisse. Es wurde ihm in der Probewohnphase nachgewiesenen, dass er wieder erheblich straffällig wurde. Ein anderer Patient, der im intoxikierten Zustand wahnhaft verkennend einen Mann, von dem er sich verfolgt gefühlt habe, mit einem Messer schwer verletzt hatte vor einem Bahnhof, wurde nicht zu einer Begleitstrafe verurteilt (gem. § 20 StGB). Er profitierte subjektiv deutlich von der Unterbringung und er ließ sich auf das therapeutische Setting ein, ohne auf der zeitlichen Ebene davon profitieren zu können.

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Bei den beiden Patienten konnte die zukünftige zufriedene sozialen Integration als Ziel der Unterbringung im Maßregelvollzug dargestellt werden, der Versuch, die Patienten aus dem früheren Milieu, in dem es zu den Straftaten kam, in eine andere soziale Gruppe zu integrieren, in der sie als kompetent wahrgenommen werden und in der sie ausreichende Freiheits- und Gestaltungsräume haben, um subjektiv zufriedener zu sein.

Im Verlauf des Vortrags sollen daran anschließend die aktuellen Ergebnisse der früheren und der letztmaligen Stichtagserhebungen (letztmalig aus dem Herbst 2021) dargestellt werden. Es kann gezeigt werden, dass sich im Maßregelvollzug zurzeit mehr Patienten mit einer höheren Anzahl an Vordelikten und mit längeren Begleitstrafen befinden als noch in den Vorjahren. Es kann dargestellt werden, dass sich weniger primär alkoholabhängige Patienten in stationärer Behandlung befanden und dass der Anteil – sowohl absolut als auch prozentual – der Patienten, die sich wegen Betäubungsmitteldelikten im Vollzug gem. § 64 StGB befanden am Stichtag, deutlich zugenommen haben.

Es wird kritisch diskutiert, dass die gleichen Unterbringungsvoraussetzung seit Jahren bestehen, wobei sich die Rahmenbedingungen und die Patientenpopulation deutlich verändert haben in den letzten Jahren.

Es kann aus der Stichtagserhebung entnommen werden, dass über 90 % der Patienten, denen kein Rückfall während der Maßregelvollzugsunterbringung nachgewiesen wurde, von ihren Behandlern zur Bewährungsentlassung vorgeschlagen wurden. Weiterhin konnte dargestellt werden, dass seit dem Jahr 2019 (also schon vor dem Beginn der Corona-Pandemie) mehr Patienten zur Bewährungsentlassung empfohlen wurden als zur Verlegung in den Strafvollzug, es war für über 20 Jahre davor andersherum.

Zukünftig sollen im Rahmen der Stichtagserhebung auch die vom Bundesjustizministerium genehmigte Auswertung der Bundeszentralregisterauszüge der beteiligten Probanden deutlicher die Risikofaktoren für eine erfolgreiche und für eine scheiternde Unterbringung im Maßregelvollzug identifizieren werden können.

Es wird konstatiert, dass ein Dekompensieren der Mitarbeiter im Maßregelvollzug dadurch verhindert werden kann, dass sie sich als Teil einer zufriedenen Gruppe wahrnehmen, die kompetent von außen wahrgenommen wird. Wichtig scheint es die Kommunikation zwischen den professionell beteiligten Berufsgruppen zu verbessern und den fachlichen Austausch zu fördern, um die Belastung der Beteiligten zu verringern. Durch die Darstellung von Missverständnissen und falschen Heilsversprechen, soll es gelingen einen realistischen Blick auf die Möglichkeiten und die Grenzen des Maßregelvollzugs zu entwickeln.

Meschen haben – aus psychiatrischer Sicht – das Recht, kriminell zu leben. Sie müssen nur bereit sein, die Folgen ihres Handelns dann zu akzeptieren.

knast sucht therapie – Justizvollzugs- und andere Defizite

PROF. DR. RER. POL. HEINO STÖVER, Frankfurt/Main
Geschäftsführender Direktor Institut für Suchtforschung Frankfurt (ISFF)

knast sucht therapie – Justizvollzugs- und andere Defizite

Trotz gegenläufig ausgerichteter Sicherungsbestrebungen wird deutlich, dass der Konsum illegaler und auch legaler Drogen für Inhaftierte in den letzten 40 Jahren zur Alltagsrealität geworden ist – und zwar mit steigender Tendenz. Damit verbunden für die Betroffenen sind gesundheitliche Folgeprobleme (vor allem Abhängigkeiten, virale Infektionskrankheiten, Drogennotfälle, Komorbiditäten) und weitere soziale Notlagen (Beschaffungsdruck im Gefängnis mit neuen Abhängigkeiten, Risiken, Verschuldungen, Gewalt). Das Gefängnis bildet spiegelbildlich gesellschaftliche Probleme und individuelle Notlagen Drogenabhängiger ab: Drogennotfall, Drogentod in Haft, aber vor allem unmittelbar nach Haftentlassung, Zunahme der Zahl der DrogengebraucherInnen, Händlerhierarchien, verunreinigte und gestreckte Stoffqualitäten mit unkalkulierbaren Reinheitsgehalten (auch sog. Neue Psychoaktive Substanzen/NPS), Infektionsrisiken (HIV/Hepatitiden) durch gemeinsamen Gebrauch insterilen Spritzbestecks, da offiziell keine sterilen Spritzen im Vollzug erhältlich sind. In vielen Haftanstalten ist das Drogenthema sehr dominant und bestimmt letztlich die Haftbedingungen für alle Gefangenen.

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Laut der letzten bundeseinheitlichen Erhebung zur Drogenproblematik im Vollzug haben mehr als  40% aller Gefangenen Drogenprobleme (Schädlicher Gebrauch/Missbrauch oder Abhängigkeit).  Diesen Menschen stellt sich die Frage, ob sie ihre Drogenproblematik bei der Inhaftierung verschweigen, um befürchteten Nachteilen während des Vollzugs der Strafe zu entgehen (Angst vor Stigmatisierung, oder davor von Mitgefangenen unter Druck gesetzt zu werden, keinen Zugang zu bestimmten Privilegien und Tätigkeiten – wie z.B. Küchendienst – zu erhalten etc.). Allerdings sind viele Gefangene bereits in den Anstalten als “Drogenabhängige/-gefährdete” bekannt oder es geht aus dem Urteil, persönlichen Angaben oder positiver Urinkontrollen bei der Inhaftierung hervor. Kann die Abhängigkeit oder der fortgesetzte Missbrauch von Drogen verschwiegen werden, wird der Gefangene versuchen seine Entzugssymptome selbst zu bewältigen, ggf. unter Zuhilfenahme bestimmter schmerzlindernden Substanzen. Möglicherweise ist auch bereits im Polizeiarrest ein Entzug durchgeführt worden. Wird der Drogenkonsum, die Abhängigkeit in der Eingangsuntersuchung benannt, kann der Medizinische Dienst adäquate Entzugsbehandlungen einleiten. Dies ist vor allem für Opioidabhängige von besonderer Bedeutung, denn eine qualifizierte Entzugsbehandlung sieht die Anwendung anerkannter Substitutionsmittel – wie Methadon oder Buprenorphin – in angemessenen Schritten vor.

Der Drogenkonsum im Gefängnis unterscheidet sich vom Konsum in Freiheit sowohl in Bezug auf die Motive für oder gegen den Konsum, als auch auf die präferierten Substanzen, die Häufigkeit und Applikationsform des Konsums. So konsumieren einige Gefangene ähnlich wie in Freiheit weiter, andere Gefangene ändern die präferierten Substanzen, Konsumformen oder die Häufigkeit des Konsums, wieder andere entscheiden sich dafür, nicht in Haft zu konsumieren. Auch ist die Verfügbarkeit von und Zugänglichkeit zu Drogen oft abhängig von den jeweiligen Anstalten, oft nicht dieselbe wie in Freiheit; neben anstaltsspezifischen Unterschieden sind Engpässe für einzelne Substanzen weit verbreitet und das Angebot insgesamt weniger zahlreich und zudem teurer als in Freiheit. In Haft ist es schwieriger Kontrolle über Art und Qualität der konsumierten Substanzen zu erlangen, als in Freiheit. Aufgrund des Suchtdrucks kommt es häufig zu Mischkonsum oder zum Konsum nicht-präferierter Substanzen (z. B. Medikamente verschiedenster Art, Neue Psychoaktive Substanzen oder auch „härtere“ Drogen als bisher in Freiheit), wobei oft ein mangelnder Zugang zu sauberen Konsumutensilien gegeben ist, wobei das Risiko nur teilweise durch andere Konsumformen (etwa inhalieren statt injizieren) kontrolliert wird. Es gibt Konsument*innen, die in Freiheit konsumieren, jedoch während der Haft abstinent leben. Für einige Drogenkonsumenten bietet der Strafvollzug eine nutzbare Unterbrechung des Konsums und des Lebens aus der Szene. Die Haftzeit wird als Chance zur gesundheitlichen Stabilisierung genutzt, sowohl der physischen als auch psychischen Gesundheit, weiterhin werden soziale Kontakte gepflegt. Das Gefängnisumfeld kann somit zu einer Reduktion oder (vorübergehenden) Aufgabe des Konsums führen. Eine Reihe Gefangener beginnt wiederum erst in der Haft Drogen zu konsumieren, obwohl sie es draußen nicht getan haben. Dieses Drogenkonsum- oder auch Abstinenzverhalten von Gefangenen macht es für Mediziner*innen, Pflegepersonal und Bedienstete oft schwer, den Krankheitswert des Verhaltens einzuordnen und untermauert mitunter die Wahrnehmung von Drogenkonsum/-abhängigkeit als Willensstärke bzw. -schwäche.

Der Umgang mit Drogenkonsument*innen im Justizvollzug vollzieht sich zwischen den Polen „krank und kriminell“, so dass verschiedene Rollen bzw. Identitäten existieren: die zu bestrafenden “Kriminellen”, die zu behandelnden „Drogenabhängigen”, die hilfebedürftige Person, die auffällige Person, manchmal auch die mündige Person. Drogenhilfe im Vollzug wirkt nicht nur im Sinne ihrer jeweiligen Ziele (Abstinenz, Schadensminimierung, etc.), sondern auch zur Bildung bestimmter Identitäten. Die generelle Herangehensweise des Justizvollzuges an „das Drogenproblem“ wird bestimmt von Abstinenzorientierung und Kontrolle. So werden die Ziele „Verfestigung der Sucht entgegenzuwirken und Abstinenzverhalten zu stabilisieren“ genannt. Der Fokus der drogenbezogenen Angebote und Maßnahmen liegt auf abstinenzorientierten Angeboten, schadensminimierende Maßnahmen hingegen werden weitaus weniger regelmäßig umgesetzt. Hier ist ein klares Defizit in der Umsetzung des Äquivalenzprinzips zu beobachten. Die Behandlung einer Abhängigkeit steht zudem als zweitrangiges Ziel dem ordnungsgemäßen Ablauf des Anstaltslebens gegenüber.

 

Komorbiditäten Forensische Psychiatrie und Substanzmissbrauch

DR. MED. HERBERT STEINBÖCK
Leiter der Klinik für Forens. Psychiatrie u. Psychotherapie München-Haar a. D.

Komorbiditäten: Forensische Psychiatrie und Substanzmissbrauch

Komorbidität dient zur Bezeichnung zusätzlich zu einer Index-Diagnose vorhandener Erkrankungen und wurde 1970 zur Verbesserung medizinischer Statistiken eingeführt. In der forensischen Psychiatrie spielen Komorbiditäten eine wichtige Rolle sowohl im Begutachtungsprozess als auch für Therapiekonzepte und prognostische Einschätzungen im Bereich sowohl des § 63 StGB als auch des § 64 StGB. Im Fokus der hier vorgetragenen Überlegungen stehen Personen mit Suchterkrankungen, etwa in Kombination mit psychotischen Zuständen, aber auch mit Persönlichkeitsstörungen und mit somatischen Zusatzbelastungen. Als problematisch wurde am Komorbiditätskonzept insbesondere im Hinblick auf psychiatrisch-psychotherapeutische Kontexte kritisiert, dass es den ganzheitlichen Blick auf den Patienten verstellt und dessen Symptome, statt sie als Resultat gemeinsamer biographischer und konfliktdynamischer Entwicklungen zu verstehen, partikularistisch isolieren und so des Sinnzusammenhangs berauben. Gerade schwer psychisch und suchtkranke Personen mit Komorbiditäten bedürfen aber einer ganzheitlich-umfassenden gemeindenahen, auch aufsuchenden Hilfe und Behandlung. Lücken und Ausstattungsdefizite in diesen Bereichen dürfen nicht zur Verlagerung dieser Aufgaben aus der allgemeinen Suchtversorgung in Maßregelvollzug und Haftanstalten führen.

Vom Scheitern der Behandlungsprognose – Résumé nach 20 Jahren der Erforschung

DÖRTE BERTHOLD, Bad Rehburg & DR. RER. NAT. JAN QUERENGÄSSER, Bochum
Dipl.-Psych., MRVZN, Bad Rehburg; Ruhr-Universität Bochum, Forensische Psychiatrie

 

Vom Scheitern der Behandlungsprognose – Resümee nach 20 Jahren der Erforschung

Die Anordnung einer Unterbringung in einer Maßregelvollzugseinrichtung nach § 64 Strafgesetzbuch (StGB) erfordert u.a. die Feststellung einer hinreichend konkreten Aussicht auf Behandlungserfolg. Gutachterliche Sachverständige beraten regelhaft die erkennenden Gerichte und erstellen dabei auch eine „Behandlungsprognose“, um diese in die Lage zu versetzen, über die geforderte Aussicht auf Behandlungserfolg zu entscheiden. Dabei legt der Stand der empirischen Prognoseforschung nahe, dass über den erwartbaren Behandlungserfolg im Einzelfall zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung keine valide Aussage getroffen werden kann. 

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Im ersten Teil des Vortrags legen wir den aktuellen Forschungsstand sowie daraus ableitend die Schwierigkeiten der Prognosestellung dar. Deutlich wird dabei, dass in den mittlerweile zahlreichen Studien zu diesem Thema jeweils kaum mehr als 25% der Varianz des Therapieergebnisses vorhergesagt werden konnten.Dies bedeutet, dass das Behandlungsergebnis zum Zeitpunkt der Verurteilung zu drei Vierteln nicht absehbar ist. Selbst eine Prognose, die eine Vielzahl bekannter Faktoren berücksichtigt, kann keine sichere Vorhersage des tatsächlichen Behandlungsverlaufs leisten. Gleichzeitig beschrieb der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Urteil aus dem Jahr 2021, dass selbst eine 50%ige Chance auf einen Therapieerfolg als zu vage für die Erfüllung der „hinreichend konkreten Aussicht“ sei. Nichtsdestotrotz – und ungeachtet weiterer Fallstricke, mit denen sich Sachverständige konfrontiert sehen (bspw. der Interdependenz zwischen Behandlungs- und Kriminalprognose) – ist aktuell geplant die Behandlungsprognose auch nach erfolgter Novelle des § 64 StGB als Eingangsvoraussetzung beizubehalten. Dies legt jedenfalls der Abschlussbericht einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe nahe, die kürzlich einen Reformentwurf vorlegte.

Der aus empirischer Sicht naheliegenden Konsequenz der Streichung der Behandlungsprognose wurde von den aktuellen Arbeitsgruppen zur Reform des § 64

StGB offensichtlich nicht als Idee in Betracht gezogen. Ihr wird oft mit verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, die in einem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus 1994 formuliert wurden. Im zweiten Teil dieses Vortrags soll daher ausführlich auf das angesprochene Urteil bzw. dessen Annahmen und Begründung eingegangen werden. Aus Sicht der Autoren lassen sich bei näherer Betrachtung diese verfassungsrechtlichen Bedenken allesamt ausräumen bzw. erscheinen mittlerweile unzeitgemäß.

Im Fazit wird dargelegt, warum die geplante Gesetzesnovelle des § 64 StGB durch eine Streichung der „Behandlungsprognose“ in Kombination mit den andernorts diskutierten Reformvorschlägen, wie einer klareren Definition des Hang-Begriffs sowie einer stärkeren Betonung der (Mit-)Ursächlichkeit der Suchtproblematik hinsichtlich der Delinquenzneigung, tatsächlich viele Probleme in Behandlungs-, Begutachtungs- und Rechtspraxis lösen oder zumindest substanziell abmildern könnte.

Verteidigung für/gegen § 64 StGB? - Von Risiken und Nebenwirkungen

Christine Siegrot

CHRISTINE SIEGROT, Hamburg
Rechtsanwältin

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Erledigung des § 64 StGB? – Vollstreckungsrechtliche Fallstricke

BETTINA TRENCKMANN, Kleve
Vorsitzende Richterin LG Kleve

Erledigung des § 64 StGB?!

These:
Die für 2022 geplante Reform des § 64 StGB greift zu kurz und wird die Erwartungen an eine Reduzierung von Unterbringungszeiten und Belegungszahlen nicht erfüllen und die Schwierigkeiten in Anordnungs-, Vollzugs- und Vollstreckungspraxis kaum beeinflussen.
Die Entziehungsanstalten werden weiterhin in hohem Maße von süchtigen Straftätern mit sehr hohen und weiteren verfahrensfremden Strafen frequentiert werden, denen es im Wesentlichen auf Haftvermeidung und Hilfen bei der sozialen Rehabilitation und weniger auf Veränderung und/oder Abstinenz ankommt.

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Gründe:
1. Auch wenn der Anreiz der sog. Halbstrafenentlassung explizit aus der Norm des § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB nF gestrichen wird, wird eine ausdrückliche Verweisung auf § 57 Abs. 2 StGB den gleichen Effekt haben, weil damit eine erfolgreiche Therapie grundsätzlich als besonderer Umstand im Sinne dieser Norm betrachtet impliziert wird.

2. Die geplante Änderung des § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB nF legt diese Halbstrafenentlassung als Regel-Ausnahme auch bei der Berechnung des Vorwegvollzuges nahe.

3. Das mit § 67 Abs. 6 StGB gerade für hoch kriminelle Mehrfachstraftäter nach § 64 StGB besonders attraktive Angebot einer – sonst nicht möglichen – Anrechnung von Maßregelvollzug auf verfahrensfremde Strafen bis zum 2/3-Zeitpunkt …, privilegiert diese Tätergruppe weiterhin unangemessen und lässt diese eine Verlängerung der Unterbringungszeit deutlich über den 2/3-Zeitpunkt der Anlass-Strafe hinaus anstreben, möglichst im Dauerurlaub/Probewohnen, um überhaupt genügend anrechnungsfähige Zeit zur Verfügung zu haben.
Dies bewirkt weiterhin eine – u.U. psychologisch gar nicht erforderliche – Verlängerung der Unterbringungszeiten.

Vorschlag für eine wirksame Reform des § 64 StGB:
Vor dem Hintergrund einer überaus hohen Quote von süchtigen Straftätern im Strafvollzug (bis zu 50%), welcher seinerseits bisher nicht ausreichend Therapien anbieten kann, werden qualifizierte Suchttherapien auch im Strafvollzug gebraucht. Die vorhandenen Entziehungsanstalten mit ihren hervorragenden Ressourcen und Therapiekonzepten sollten als Spezial-Einrichtungen der Justizvollzugsanstalten etabliert werden, in denen inhaftierte Straftäter ihre Sucht und weitere Probleme bearbeiten und später auch unter weiteren Lockerungen ihre Abstinenz unter Beweis stellen können.
§ 64 StGB kann dann als Maßregel ersatzlos entfallen. § 67ff StGB sind anzupassen.

Konsequenzen:
Eine ausdrückliche Anordnung einer Suchttherapie bedarf es im Urteil nicht. Eine solche Behandlung gehört bei süchtigen Straftätern zum Resozialisierungsauftrag einer Justizvollzugsanstalt. Sachverständigengutachten zur Frage der Anordnung einer Suchttherapie im Prozess werden entbehrlich.
Alle Fragen im Zusammenhang mit der Sucht-Therapie (Wann? Wie? Warum nicht? Wie lange?…) werden Vollzugsfragen.
Auf aktuelle Entwicklungen kann von Seiten der Justizvollzugsanstalt flexibel reagiert werden (Therapiemotivation, Krisen, Rückfälle etc.)
Anrechnungsfragen stellen sich nicht mehr. Suchttherapie in der Justizvollzugsanstalt ist (rechnerisch) Strafhaft.
Eine während der Haft erfolgreich durchgeführte Suchttherapie ist ein wichtiges positives Prognosekriterium für eine künftige Aussetzung der Reststrafe(n) und wird die Haftzeit ebenfalls verkürzen.

Maßregelvollzug mit Migrationshintergrund – Sprach- und andere Probleme

PROF. DR. MED. MANUELA DUDECK, Ulm
Lehrstuhl für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm
Ärztliche Direktorin der Klinik für Forensische Psychiatrie, Uni Ulm

Maßregelvollzug mit Migrationshintergrund – Aufenthalts-, Sprach- und andere Probleme

Aktuell sind weltweit mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Nie zuvor hat es Migrationsbewegungen in dieser Größenordnung gegeben. Im Zeitraum von 1953 bis 2021 sind insgesamt 6,2 Millionen Menschen aus 200 verschiedenen Staaten nach Deutschland gekommen, 90% davon nach der politischen Wende. Seit Ausbruch des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 kamen ungefähr 700 000 Ukrainer hinzu. Durch das Zusammenleben mit allen ist unsere Gesellschaft einem stetigen Wandel unterworfen, was kulturelle, wirtschaftliche und nicht zuletzt politischen Veränderungen mit sich brachte und bringt.

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Ebenso stark hat der Anteil von Patient:innen mit Migrationshintergrund im Maßregelvollzug zugenommen, welcher sich gegenwärtig zwischen 35 und 52% bewegt. Ursachen dürften zum einen in der erhöhten Vulnerabilität von Migrant:innen liegen, nach Flucht und Vertreibung an einer psychischen Störung zu erkranken. Zum anderen haben sie ein erhöhtes Risiko, häufiger inhaftiert und zu härteren Strafen verurteilt zu werden. So wurden z.B. nicht-deutsche Tatverdächtige in den letzten zehn Jahren im Vergleich zu deutschen Tatverdächtigen häufiger polizeilich registriert.

Mit der unerwarteten Zuweisung von nicht Deutsch sprechenden Migrant:innen zeichneten sich ab 2015 Probleme ab, die mit einem geregelten Aufnahmeprocedere im Maßregelvollzug nicht mehr zu bewältigen waren. Die Patient:innen kamen zusätzlich zu den regulären Einweisungen zumeist gemäß §126a StPO und mit einem bislang ungekannten Zuweisungstempo. Schon der Beginn der Maßregelbehandlung war in der Regel durch die fragliche Identität und den ungeklärten ausländerrechtlichen Status erschwert. Hinzu kamen das völlige Unwissen der Patienten über die juristischen Unterbringungsgrundlagen und die regelhaft fehlende soziale Unterstützung der noch im Ursprungsland befindlichen Familienangehörigen. Durch die fehlenden Sprachkenntnisse konnte nur eine deutlich reduzierte Diagnostik vorgenommen werden und eine verlässliche Risikobeurteilung war aufgrund nur spärlich vorhandener Ermittlungsergebnisse der Behörden gar nicht möglich. Der Dolmetschereinsatz blieb begrenzt, da es für einige Sprachen gar keine Übersetzer:innen gab. So musste zwangsläufig in der Behandlungsplanung ein Schwerpunkt auf das Erlernen der deutschen Sprache gelegt werden, damit die Einbindung in die Therapieprozesse überhaupt möglich wurde. Allerdings ist deutschlandweit unklar, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund eigentlich untergebracht sind. Außerdem stehen bislang keine ausreichenden und geeigneten Ressourcen zur Verfügung, einen angemessenen Deutschunterricht gewährleisten zu können.

Aus diesem Grund förderte das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales 2019 eine Untersuchung, in der erstmals die Sprachkompetenz und die Akkulturation von Patient:innen mit Migrationshintergrund im bayerischen MRV erhoben wurde. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren 2409 Patient:innen untergebracht, wovon 895 (37%) einen Migrationshintergrund aufwiesen. Von diesen konnte ein Viertel der Patient:innen innerhalb von sieben Monaten zweimal untersucht und befragt werden. Insgesamt wiesen die Untergebrachten 44 Primärsprachen auf, wobei 60 Sprachen gekonnt wurden. Im Mittel war jeder der Teilnehmenden in der Lage, sich in drei Sprachen zu verständigen. Zum ersten Messzeitpunkt wiesen 51% der Teilnehmenden ein Sprachniveau der Stufe A, 15% der Stufe B und 35% der Stufe C auf. Etwa 50% der Teilnehmenden erhielten gar keinen Sprachunterricht. Von denen, die Sprachunterricht erhielten, profitierten nach sieben Monaten nur die Patient:innen, die bei Beginn schon das Sprachniveau B aufwiesen. Zudem erzielte der Einzelunterricht bessere Ergebnisse als der Gruppenunterricht.

Diese Ergebnisse legen nahe, dass unter ressourcenschonenden Gesichtspunkten ein gezielter Sprachunterricht von schon deutschsprechenden Migrant:innen in kleinen Gruppen sinnvoll ist. Ebenso sollten kleine Alphabetisierungsgruppen angeboten und das Ganze modulhaft in ein bestehendes Therapieprogramm integriert werden. Die Auswertung der Fragen zur Akkulturation ergab, dass die meisten Teilnehmenden im Status der Assimilierung und der Integration waren. Zur Förderung der weiteren Integration ist neben den Sprachkursen der Einsatz eines Integrationskurses vorteilhaft, um den Akkulturationsstress reduzieren zu können.

In Hessen wurde der gesteigerten Aufnahmezahl von Patient:innen mit Migrationshintergrund mit einem bundesweit neuen und bis dato einmaligen Projekt begegnet. Die Klinik für Forensische Psychiatrie der Vitos Weil- Lahn gGmbH am Standort Hadamar nahm sich in Kooperation mit der Klinik für Forensische Psychiatrie der Vitos Haina gGmbH den Herausforderungen geflüchteter Menschen mit der Erarbeitung eines auf diese Zielgruppe zugeschnittenen Konzeptes an, und eröffnete im April 2017 die Station für Spracherwerb und Integration (SPRINT). Das Projekt wurde von dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration fortwährend unterstützt und über die gesamte Laufzeit durch die Sektion Forensisch-Psychiatrische Versorgungsforschung des Lehrstuhls für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm evaluiert. Dank der Kreativität, des Engagements und der Initiative aller Mitarbeiter kann nach vier Jahren auf einen erfolgreichen Abschluss der Projektphase zurückgeschaut werden. Der Deutschunterricht wurde über 900 bzw. 1200 Stunden insgesamt und verteilt auf 20 Stunden wöchentlich in einem Setting angeboten, dass ganz auf das Erlernen der deutschen Sprache ausgerichtet war. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass von den 29 Teilnehmer:innen der ersten drei Sprachkurse, einer das Sprachniveau A1, elf das Sprachniveau A2 und sieben das Sprachniveau B1 erreichen konnten. Sie erarbeiteten sich damit die Grundlage für eine erfolgreiche Teilnahme an der Therapie in der Maßregel gemäß § 63 StGB. Eine vorzeitige Rückkehr ins Heimatland, die Verweigerung der Teilnahme oder eine Verlegung führten dazu, dass etwa ein Drittel der Teilnehmer den Kurs nicht beendet hat. Um flexibler auf den Abbruch der Kursteilnahme reagieren zu können, wird das Projekt in den kommenden zwei Jahren in einer modularen Form hessenweit angeboten werden. Außerdem konnte belegt werden, dass die Behandlung auf einer Spezialstation der Integration in die deutsche Gesellschaft nicht entgegensteht.

Blicke über den Tellerrand

Schweiz

DR. MED. FRIEDERIKE HÖFER, Zürich
Stellvertr. Chefärztin des Zentrums für Ambulante Forensische Therapien, Schweiz

Reformdebatten seit Dekaden – hat der Sanktionenvollzug in sog. Entziehungsanstalten ausgedient?

Dann braucht es aber quantitative und qualitative Alternativen. Was hat die Schweiz im Angebot? Sicherlich weder den Königsweg, aber auch keine Sackgasse, sondern ein ambulantes Angebot für forensische Suchtbehandlungen.

Der vorliegende Beitrag gibt zunächst einen kurzen Überblick über das Sanktionensystem der Schweiz.

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Auch hier gibt es stationäre Versorgungslücken für schwerstabhängige Systemsprenger, die oftmals mangels Alternative in ideologisch ausgerichteten Einrichtungen der Suchthilfe landen. Die sind häufig zu abstinenzorientiert oder sehr religiös. Die stationäre Suchtbehandlung gerät somit zunehmend ins Aus. Unterdessen ist die zunehmende Spezialisierung in der Psychiatrieentwicklung Fluch und Segen zugleich.

So geht Expertise in Schuldfähigkeits-beurteilung und risikoorientierter Behandlung mit dem Ziel der legalprognostischen Besserung psychisch kranker Straftäter*innen nicht zwingend mit ausdifferenzierten Kenntnissen aller psychiatrischer Entitäten – und vor allem nicht der Abhängigkeitserkrankungen – einher.

Mit einem Behandlungskonzept für ambulante Suchtmassnahmen hat die Klinik für Forensische Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich ein Angebot geschaffen, dass suchtkranke Rechtsbrecher*innen an einer Schnittstelle zwischen Suchtambulanz und Forensischer Psychiatrie behandelt.

Personell und inhaltlich besteht eine enge Verschränkung zwischen dem Sucht-Ambulatorium und dem für Forensische Psychiatrie durch gemeinsames Personal, gemeinsame Teamsitzungen und gegenseitiger Partizipation an Angeboten. Die Forensik mietet Räumlichkeiten in der Sucht, beteiligt sich an administrativen und infrastrukturellen Kosten und partizipiert bei der Behandlung. Für die forensisch geführten Patient*innen bedeutet die enge Zusammenarbeit, dass sie vom gesamten Angebot des Zentrums für Abhängigkeitskerkrankungen profitieren können. Standardmäßig erfolgt bei allen Patienten ein Risk-Assessment unter Verwendung standardisierter Risikoprognoseinstrumente, zumeist mit dem HCR-20V3 und häufig eine ressourcenorientierte Abklärung mit dem „Structured Assessment of Protective Factors for Violence Risk» (SAPROF). Die medikamentöse Behandlung kann von einer täglichen Abgabe am Schalter der Einrichtung ggf. unter Sicht über das Richten von Tages- bzw. Wochendosetten bis hin zum Ausstellen von Rezepten individuell an die Bedürfnisse der Patient*innen angepasst und regelmäßig verändert werden. Depots werden von Pflegekräften des ZAE appliziert. Darüber hinaus ist eine Einbettung in die gruppentherapeutische Wochenstruktur in der Tagesklinik und an fünf Tagen der Woche (Mo – Fr) die Einnahme einer Mittagsmahlzeit möglich. Bei stationären Aufenthalten in der Allgemeinpsychiatrie zur Krisenintervention, medikamentösen Neueinstellung oder Traumatherapie wird eine nahtlose und kontinuierliche Behandlung der Patient*innen durch das Forensische Behandlungsteam garantiert, das aufgrund der guten Zusammenarbeit auf den Suchtstationen bekannt ist und z.B. an gemeinsamen Visiten partizipiert. Forensische Patient*innen profitieren dabei nicht nur von einer Kontinuität der Behandlung, sondern erhalten schneller einen stationären

Behandlungsplatz und sind seltener Stigmatisierungen von Seiten der stationären Teams ausgesetzt. Neben sozialarbeiterischer Unterstützung bei Wohnen und Arbeiten besteht eine enge Zusammenarbeit mit verschiedenen Wohneinrichtungen. Im Bedarfsfall finden aufsuchende Kontakte zu Hause oder in der Wohneinrichtung durch das Forensische Team oder den Tagesarztdienst des ZAE statt. Zusätzlich besteht ein 24h-Notfalldienst, der auch über Ferien und Feiertage hinweg eine 365 Tage bestehende Ansprechbarkeit bietet. So kommt es kaum zu Versorgungslücken und Patient*innen können zeitnah, ambulant und unkompliziert gemäß der aktuellen psychopathologischen Situation aufgefangen werden.

Die hiesigen Erfahrungen im Spezialangebot ambulante Suchtmassnahmen sprechen eindeutig für einen ambulanten und gemeinsamen integrativen Ansatz bei der ambulanten Behandlung abhängiger Straftäter. Forensisch psychiatrische Angebote in der Suchtambulanz sind ein effizienter, qualitativ hochwertiger, risikoorientierter, stressneutraler und kostengünstiger Ansatz und stellen aus hiesiger Sicht eine gute Alternative zu der Behandlung in der stationären Forensischen Massnahmeinstitution oder zur vollzugsbegleitenden Behandlung dar.

Eine Zusammenarbeit, wie die hier beschriebene, zu etablieren, kann für Patient*innen, Behandelnde und Vollzugsbehörden gewinnbringend sein. Für die Patient*innen bedeutet es eine hochwertige und störungsspezifischere Behandlung, für die Vollzugsbehörden den Zugriff auf spezifisches Knowhow, 365tägier Abdeckung statt „9 to 5 Risiken“ und eine zielorientiertere, also auch kürzere Dauer von Maßnahmen.

USA

DR. JUR. EDGAR GÜLDÜ, Reutlingen

Reform von „Unten“ – Drug Treatment Courts & Problem-Solving Justice

Drug Treatment Courts“, häufig auch kurz als „Drug Courts“ referenziert, bezeichnen einen Diversionsansatz gegenüber suchtkranken Straftätern in den USA und den Ländern des Common Laws. Er hebt sich gegenüber dem Therapievorrang nach dem BtMG durch die unmittelbare Einbindung der Strafverfahrensbeteiligten in den Behandlungs- und Resozialisierungsprozess ab.

Damit stehen die Drogengerichtsprogramme emblematisch für einen lösungszentrierten Verfahrensansatz im angloamerikanischen Straf- und Strafprozessrecht, der sogenannten „Problem-Solving Justice“. Das Verfahrensmodell der „Problem-Solving Courts“ hat sich seit den frühen neunziger Jahren in vielfältiger Ausprägung vor allem im US-amerikanischen Gerichtsalltag fest etabliert. Der erste Drug Court mit therapeutischer Prägung wurde 1989 in Dade County als Gegenmodell zum „war on drugs“ und einer zunehmend punitiven Ausgestaltung des angloamerikanischen Strafrechts initiiert. Aktuell bestehen über 2.600 solcher Programme in den USA und das Modell fand auch in anderen Ländern des Common-Law Verbreitung.

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Treibende Kraft dieser Reformbewegung war nicht der US-amerikanische Gesetzgeber, sondern das praktische Bedürfnis für eine Therapieoption im Gerichtsalltag. Drug Treatment Courts zeichnen sich unter anderem deshalb durch ein ungewöhnlich starkes Engagement der Justiz im eigentlichen Behandlungsprozess aus. In dem holistischen Verfahrensmodell „Drug Treatment Court“ verstehen sich die juristischen Verfahrensbeteiligten – Strafrichter, Staatsanwalt und den Strafverteidiger – als Akteure im Therapiegeschehen. Sie sollen Straf- und Strafprozessrecht und das Behandlungsziel miteinander verbinden.

Dafür bedienen sie sich einer eigenen Rechtsmethode, der Lehre von der therapeutischen Jurisprudenz. Sie beschreibt die Rechtswirkung im Grenzbereich zwischen Strafjustiz und Gesundheitswesen und eröffnet den Juristen damit eine Möglichkeit, das Verhältnis von Recht und Behandlungsziel als eine empirisch messbare, aber auch durch persönliche Erfahrung im Umgang mit dem suchtkranken Täter geprägte Größe zu erfassen. Strafverfahren und Justiz können demzufolge selbst den Behandlungserfolg positiv oder negativ (mit-)beeinflussen.

Daraus leiten die Verfechter der Drug Treatment Courts und ähnlich gelagerter Rechtsinstitute einen lösungszentrierten Verfahrensansatz, die sog. „problem-solving justice“, ab. Das Resozialisierungs- und Behandlungsziel im Strafrecht

soll hierbei effektiver auf die Bedürfnisse bestimmter Gruppen von Intensivtätern ausgerichtet werden. Bezogen auf die Tätergruppe der suchtkranken Täter bedarf es daher vor allem der Integration des Therapieziels und Behandlungsplans in das Strafverfahren. Zugleich wird durch die Drug Treatment Courts ein rechtlicher Rahmen geschaffen, in dem die Verfahrensbeteiligten sich auf das Behandlungsziel fokussieren können, ohne in Widerspruch zur Rechtsordnung und den ihnen eingeräumten Kompetenzen zu geraten. Über sog. „Report-Backs“ wirken die juristischen Akteure an einem Drug Treatment Court für die Programmdauer unmittelbar am Therapieprozess mit, so dass das Rechtsinstitut unter anderem auch Züge eines Interlokuts trägt.

Damit können Drug Treatment Courts als Verfahrensmodell definiert werden, welches auf einem drogentherapeutischen Konsens der Verfahrensbeteiligten basiert und dem suchtkranken Straftäter eine Behandlung unter gerichtlicher Aufsicht als Alternative zur Haft ermöglicht, weil sein Therapiefortschritt und die Einhaltung der Programmvorgaben durch regelmäßiges Drogenscreening, eine fortgesetzte Zuständigkeit des Strafgerichts im Therapieprozess sowie gestufte strafrechtliche Sanktionen nach Maßgabe seines Behandlungsplans kontrolliert und gefördert werden.

 

England/UK

PROF. DR. MED. BIRGIT VÖLLM, Rostock
Direktorin Klinik für forensische Psychiatrie

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Impressionen Symposium 2022