Symposium 2023 - Abstracts und Vorträge

Begrüßung

DR. HERIBERT WAIDER, Düsseldorf
Rechtsanwalt, Vorstand Deutsche Strafverteidiger e. V.

Sehr geehrte Referenten,
sehr geehrte Teilnehmer!

Ich begrüße Sie zum 50. Symposium in Maria Laach im Namen des Deutsche Strafverteidiger e. V. sehr herzlich. Der relativ kleine Kreis der Teilnehmer, in dem wir uns in diesem Jahr zusammengefunden haben, erinnert an die Anfangsjahre der Symposien. Von einigen der Teilnehmer der ersten Jahre wurde mir als ich Referendar war berichtet, dass man sich sogar eher in Seminarstärke getroffen hat.

Wir haben uns in Zusammenarbeit mit dem Institut für Konfliktforschung für die Thematik „Armuts-Zeugnisse – Prekäre Verhältnisse in Justiz und Psychiatrie“ entschieden. Denn Armut wird in den vergangenen Jahren zunehmend in unterschiedlichsten Kontexten erörtert.

Was versteht man unter Armut und was beinhalten Armuts-Zeugnisse? Die Antworten auf diese Fragen hängen sicherlich von den unterschiedlichen Lebensbereichen, zeitlichem Kontext sowie politischen und sozialen Perspektiven ab. Daneben wird die Ortswahl eine erhebliche Bedeutung gewinnen, bedenkt man die Millionen hungernden Menschen weltweit.

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Zieht man den Armutsbericht des Wohlfahrtsverbands für 2022 zu Rate, wächst die Armut in Deutschland weiter. Hierzu haben in jüngerer Vergangenheit Corona-Pandemie, Inflation und Energiepreissteigerung wesentlich beigetragen (vgl. https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/neuer-armutsbericht-nrw-100.html, zuletzt abgerufen 12. April 2023). Zeichnen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes über den jährlichen Mikrozensus ein realistisches Bild bezüglich der Verhältnisse in Deutschland? Hiernach dürften als “arm” die Menschen gelten, die als Alleinstehende über nicht mehr als 15.000 € im Jahr verfügen. Bei einer Familie mit zwei Kindern soll die Grenze bei 31.000 € im Jahr liegen. Wie dieses Zahlenverhältnis zueinander passt, erschließt sich mir nicht ohne weiteres. Aber es wird für unsere Auseinandersetzung mit „Armuts-Zeugnissen“ nicht der Blick auf das absolute Minimum zum Überleben im Mittelpunkt stehen, sondern es wird viel mehr um Teilhabe am materiellen, kulturellen und sozialen Leben gehen oder besser ausgedrückt darum, wie weit der „Arme“ hiervon entfernt ist und was dies für Auswirkungen auf sein Leben insbesondere beim Kontakt mit der Justiz und der Psychiatrie zeitigt.

Der von der Bundesregierung im Auftrag des Deutschen Bundestages in jeder Legislaturperiode seit 2001 erstellte nationale Armuts- und Reichtumsbericht benennt aufgeteilt unter dem Label „Gesellschaft“, „Armut“ und „Reichtum“ verschiedene Indikatoren die Armut oder Reichtum begründen. Die Indikatoren werden im Interesse einer Versachlichung der Diskussion gewählt, weil die Begriffe Armut wie Reichtum sich aufgrund ihrer Vielschichtigkeit einer allgemein gültigen Definition entziehen. So wird Armutsbetroffenheit aktuell zum Beispiel durch Umstände wie Langzeitarbeitslosigkeit, Überschuldung sowie früher Schulabgang und Wohnungslosigkeit, stark beeinflusst. Die Lage Reichtum verstanden als Wohlhabenheit wird durch Einkommens- und Vermögensreichtum sowie materielle Übertragungen durch Erbschaften und Schenkungen begründet. Als Gesellschaftsindikatoren werden beispielsweise subjektiver Gesundheitszustand, Bildungsniveau, privates Wohnungseigentum, politisches Interesse und soziale Kontakte beleuchtet (vgl. https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Service/Meldungen/einfuehrung-in-arb.html, zuletzt abgerufen 12. April 2023).

Der Armuts- und Reichtumsbericht berücksichtigt straffällig gewordene Menschen nur im Bereich Wohnen. Im Übrigen bleiben sie unberücksichtigt. Auffallend ist, dass straffällig gewordene Menschen im Bereich Bildung auch nicht erwähnt werden. Dabei dürfte es bekannt sein, dass im Justizvollzug Menschen ohne Schul- und Ausbildungsabschluss bzw. mit Niederlevel-Abschluss überrepräsentiert sind. Eine systematische Darstellung der Armutsbetroffenheit von Menschen mit psychischen Störungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen findet sich im Armuts- und Reichtumsbericht nicht. Damit fehlt auch beispielsweise jeder Hinweis darauf, welche Rolle ökonomische Bedingungen bei der Entstehung oder dem Fortbestand psychischer Krankheiten spielen und wodurch diesbezügliche Erkrankungsrisiken minimiert werden können (vgl. Stellungnahme der Diakonie Deutschland zum 6. Armuts- und Reichtumsbericht, S. 19). Vielleicht schaffen wir es mit diesem Symposium, solche Fragestellungen voranzubringen.

Begibt man sich auf die Suche nach Vorschlägen dazu und Bemühungen darum, wie die Lage „Armut“ eingedämmt werden könnte, stößt man schnell auf den Koalitionsvertrag. Der Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UND FDP arbeitet an verschiedenen Stellen mit dem Begriff „Armut“: „…mehr Kinder aus der Armut holen.“ (S. 5), „…ein vorsorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem, welches die Chancen biotechnologischer und medizinischer Verfahren nutzt, und das altersabhängige Erkrankungen sowie seltene oder armutsbedingte Krankheiten bekämpft.“ (S. 16), „…angemessene armutsfeste Mindestlöhne zur Stärkung des Tarifsystems.“ (S. 55), „… Bei der Erstellung des 7. Armuts- und Reichtumsberichts richten wir auch einen Fokus auf verdeckte Armut und beziehen Menschen mit Armutserfahrung stärker ein.“ (S. 61) oder „… Bekämpfung von armutsassoziierten und vernachlässigten Tropenkrankheiten intensivieren.“ (S. 120). In Bezug auf das Strafjustizsystem wird das Thema allenfalls gestreift, wenn man die Formulierung „Wir stellen die Verteidigung der Beschuldigten mit Beginn der ersten Vernehmung sicher.“ (vgl. Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag [2021 – 2025] zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UND FDP, S. 85]) extensiv auslegt.

So benennt der Koalitionsvertrag expliziet das strafrechtliche Sanktionensystem einschließlich der Ersatzfreiheitsstrafen, das mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung überarbeitet werden soll (S. 84). So sollen im Fall einer nicht bezahlten Geldstrafe pro zwei verhängten Tagessätzen nur noch ein Tag Freiheitsstrafe vollstreckt werden, anstatt im Verhältnis von eins zu eins. Nach der Begründung zu dem Gesetzesentwurf aus Dezember 2022 bringe der Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe “in der Regel keinen Beitrag zur Resozialisierung der Betroffenen” (https://www.bmj.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/1221_Gesetz_Ueberarbeitung_Sanktionenrecht.html, zuletzt abgerufen am 12. April 2023).

Damit wird eine seit langer Zeit schwelende Diskussion aufgegriffen (vgl. Radtke, Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen?, ZRP 2018, S. 58), die neben der Frage nach der Resozialisierung durch Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe auch den Gedanken der ultima ratio des Strafrechts und schuldstrafrechtlich begründete Bedenken gegen den Umrechnungsmaßstab des § 43 S. 2. StGB (vgl. Radtke, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2020, § 43 Rdnr. 2) zum Gegenstand haben. Während diejenigen, die unter das Label „reich“ fallen, die Geldstrafe schon über eine gediegene Tagessatzhöhe aushandeln können, ist dies bei Armut nicht der Fall. Nicht umsonst wird die Ersatzfreiheitsstrafe auch als „Zusatzstrafe für Armut“ (Guthke, Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen?, ZRP 2018, S. 58) bezeichnet. Helmut Pollähne wird uns über die kürzlich erfolgte Anhörung im Gesetzgebungsausschuss berichten.

Auf EU-Ebene ist die Armutslage schon lange bekannt und thematisiert: Mit der sogenannten Prozesskostenhilfe-Richtlinie der EU (Richtlinie (EU) 2016/1919) vom 26. Oktober 2016 für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Dabei geht auf das Jahr 2009 der sogenannte Fahrplan des Rates zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren zurück, der unter anderem eine schrittweise Herangehensweise zum Recht auf Übersetzungen und Dolmetscherleistungen, dem Recht auf Belehrung über die Rechte und Unterrichtung über die Beschuldigung und das Recht auf Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe vorsah.

Wie ist diese Rechtslage auf nationaler Ebene bei uns umgesetzt worden? Mit dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. BGBl 2019 Teil I Nr. 46 vom 12. Dezember 2019) ist die Umsetzung der PKH-Richtlinie „unter grundsätzlicher Beibehaltung des bewährten Systems der notwendigen Verteidigung“ (https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/notwendige_Verteidigung.html, zuletzt abgerufen am 12. April 2023) erfolgt. Dogmatisch gesehen geht die Richtlinie von einem in Europa auch in Strafverfahren weit verbreiteten System der Prozesskostenhilfe und einer grundsätzlichen Verzichtbarkeit des Rechts auf Zugang zum Rechtsbeistand aus. Zur Umsetzung der Richtlinie bedurfte es nach Auffassung der damaligen Bundesregierung keines reinen Prozesskostenhilfesystems. Die Richtlinie war auch innerhalb des bestehenden Systems der notwendigen Verteidigung vollständig umsetzbar, so jedenfalls die damalige Meinung. Indem unabhängig von dessen finanzieller Leistungsfähigkeit sowie auch gegebenenfalls unabhängig von dessen Willen jedem unverteidigten Beschuldigten ein (zunächst) staatlich finanzierter Pflichtverteidiger beigeordnet wird, soweit dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist, sollte der Schutz des Beschuldigten und die bessere Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sichergestellt werden. Für die internationale Rechtshilfe in Strafsachenden wurde als funktionales Äquivalent der Prozesskostenhilfe die notwendige Rechtsbeistandschaft eingeführt (vgl. ebenda). Anpassungsbedarf bestand schon deswegen, weil nach der PKH-Richtlinie bereits dann dem Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen ist, sobald er im Anwendungsbereich der Richtlinie zur Entscheidung über Haft oder Unterbringung dem Gericht vorgeführt werden soll (vgl. Jahn, in LR(StPO), 27. Aufl. 2012, § 140 Rdnr. 30). Wie die aufgrund der Prozesskostenhilfe-Richtlinie geänderte staatliche Finanzierung von Strafverteidigung in Deutschland zukünftig aussehen dürfte, wird uns Frau Kollegin Dr. Zink mit ihrem Beitrag morgen erläutern.

Die Symposien in den zurückliegenden Jahren haben sich nur beiläufig mit „Pflichtverteidigung“ beschäftigt, obwohl hiermit das verfassungsrechtlich und in Art. 6 Abs. 3 c EMRK verbürgte Recht des Beschuldigten verdichtet wird, sich in jeder Lage des Verfahrens eines Verteidigers zu bedienen. Zu nennen ist hierbei vor allem der Beitrag von Frau Kollegin Ursula Knecht auf dem Symposium im Jahr 2012, welches unter dem Tagungsthema „Heilung erzwingen?“ stand. Ihr Beitrag „Zur Interpretation der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 2011 aus Verteidigersicht“ (abgedruckt in Band 35 der Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, S. 63 ff.) arbeitet heraus, dass dem Richtervorbehalt bei einer Zwangsbehandlung die Beiordnung eines Rechtsanwalts von Amtswegen folgen muss. Gegenstand der Entscheidung (2 BvR 882/09) war die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines im Maßregelvollzug Untergebrachten gegen medizinische Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels, die zugrundeliegende Rheinlandpfälzische gesetzliche Regelung war verfassungswidrig.

Ich freue mich auf interessante Beiträge und eine spannende Diskussion und hoffe, dass wir einige Punkte unseres Gedankenaustauschs auf diesem Symposium mit in die tägliche Arbeit einbinden können.

PROF. DR NORBERT KONRAD, Berlin
Psychiater, Vorsitzender des Instituts für Konfliktforschung e. V.

Liebe Mitglieder und Freunde des Instituts für Konfliktforschung,
liebe Symposiumsteilnehmer/innen und Gäste,
zum 50. Symposium hier
ein herzliches Willkommen in Maria Laach!

Auch wenn unser Institut keine Forschung im engeren Sinne betreibt, tragen doch die – mit Ausnahme der Coronazeit – regelmäßig stattfindenden Symposien dazu bei, gesellschaftliche Konflikte auch im interdisziplinären, wissenschaftlichen Diskurs auszuloten. Anders als in den letzten Jahren haben wir dieses Jahr kein genuin psychiatrisch-psychologisches Thema wie etwa „Wahn“ oder „Therapie im Maßregelvollzug“ und auch kein genuin juristisches Thema wie etwa die Reform des Rechts der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB, der wir uns letztes Jahr gewidmet haben, oder bspw., was einmal einer näheren Betrachtung wert wäre, die Aktualisierung des JGG.

Das mag auch den anfangs eher stockenden Meldeprozess teilweise erklären, auch wenn unser Programm zahlreiche und aktuelle Facetten – sowohl psychowissenschaftlich als auch juristisch – zum Thema Armut darstellt, das durch die gesellschaftliche Entwicklung – Stichwort Corona/ Ukraine – noch mehr Bedeutung gewonnen hat.

Das hier letztendlich doch so viele Teilnehmer erschienen sind, freut mich; Sie haben die Qualität des Programms erkannt, das sich nicht nur prekären Verhältnissen, dem Wachstum der sozialen Ungleichheit, der Bestrafung von Armut und psychischem Elend, Systemsprengern, den Schattenseiten der sozialen Psychiatrie, sondern auch mit einer hoffentlich gelungenen Übertragung aus New York dem Armenrecht im Strafverfahren widmet.

Ich freue mich auf die Vorträge und insbesondere auch auf die Diskussionen und übergebe das Wort an unseren wissenschaftlichen Leiter Professor Helmut Pollähne.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

Einführung in das Tagungsthema

PROF. DR. IUR. HABIL.HELMUT POLLÄHNE, Bremen
Rechtsanwalt, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Konfliktforschung e. V.

Prekäre Verhältnisse
Armuts-Zeugnisse aus Justiz und Psychiatrie

Lassen Sie mich mit zwei Zitaten beginnen: Das eine ist nicht wirklich neu, aber relativ frisch, aufgeschnappt im Rahmen der Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestages am vergangenen Montag (17.04.2023) in Berlin, wobei es um den Gesetzentwurf zur „Überarbeitung des Sanktionenrechts“ ging (darauf werde ich später noch einmal zurückkommen). Nachdem einige der geladenen Expert*innen u.a. darauf hingewiesen hatten, mit der Ersatzfreiheitsstrafe werde vorrangig Armut bzw. würden vor allem Arme bestraft, sah sich die ebenfalls als Sachverständige geladene Richterin des BGH Frau Dr. Allgayer dazu veranlasst darauf hinzuweisen, es würden doch nur Straftaten bestraft, und nicht Arme (sinngemäß).

Dies wiederum hat mich dazu veranlasst, dem ein Zitat entgegenzusetzen – es handelt sich nicht zufällig um das Motto dieses Symposiums: „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“. (Anatole France)

Darauf – und auf jene Anhörung – werde ich, wie gesagt, später noch einmal zurückkom-men. Nur so viel vorab: Teile der Anhörung wirkten sowohl inhaltlich als auch personell wie eine Vorwegnahme dieses Symposiums (und teilweise auch wie ein Nachklapp zu unserem letzten Symposium, geht es in jenem Gesetzentwurf doch auch um die Reform des Rechts der Entziehungsanstalten). Sowohl Nicole Bögelein, die heute Nachmittag im Kontext „Ersatzfreiheitsstrafe“ (einem der Kernpunkte jenes Gesetzentwurfs) referiert zur „Bestrafung von Armut“, als auch Peter Brieger, morgen im Programm vertreten mit einem Referat zur Frage „Wie sozial ist die soziale Psychiatrie?“ waren am Montag im Bundestag vertreten.

Wer mich nicht zum ersten Mal als Referent hört, kennt vielleicht meinen Hang zur Etymologie, wenn auch auf dem Niveau des Küchenetymologen; nun ja: Was hat es insofern auf sich mit den Armuts-Zeugnissen? Und woher kommt das Gerede von prekären Verhältnissen?

Die Vorträge 2023

Die soziale Ungleichheit wächst – neue Armut, alte Probleme?

PROF. DR. CHRISTOPH BUTTERWEGGE, Köln
Hochschullehrer i. R., Humanwissenschaftliche Fakultät – Politikwissenschaft, Universität zu Köln

Die soziale Ungleichheit wächst – Neue Armut, alte Probleme?

Die wachsende Ungleichheit ist das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der Menschheit
insgesamt. Denn sie führt zu ökonomischen Krisen, ökologischen Katastrophen, (Gewalt-)Kriminalität sowie
Kriegen und Bürgerkriegen. Genauso wie die meisten Verbrechen hängen zwischenstaatliche Konflikte oft
mit der Kluft zwischen Arm und Reich zusammen. Das gilt auch für den Ukraine-Konflikt, der sich nicht
zuletzt auf die extreme Ungleichheit in beiden Ländern zurückführen lässt. Dort steht einem unvorstellbaren
Reichtum weniger Oligarchen das Elend eines Großteils der Bevölkerung gegenüber. Obwohl sich vor allem
das Finanz- und Betriebsvermögen hierzulande ebenfalls in wenigen Händen konzentriert, wird dieser Ausgangspunkt
und Kristallisationskern der Ungleichheit noch immer weitgehend tabuisiert.

Die relative Armut befindet sich auf Rekordniveau und absolute Armut gibt es auch in Deutschland

Differenziert wird zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut
andererseits. Nach dieser sinnvollen Unterscheidung ist absolut, extrem oder existenziell arm, wer seine
Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also nicht genug zu essen, kein sicheres Trinkwasser, keine
den klimatischen Verhältnissen angemessene Kleidung, kein Obdach und/oder keine medizinische Grundversorgung
hat. Relativ arm ist hingegen, wer zwar seine Grundbedürfnisse befriedigen, sich aber vieles von
dem nicht leisten kann, was für die allermeisten Gesellschaftsmitglieder als normal gilt, also beispielsweise
nicht ab und zu ins Restaurant, ins Kino oder ins Theater gehen kann. Man spricht in diesem Zusammenhang
auch von mangelnder sozialer, kultureller und politischer Teilhabe.

Für manche Beobachter existiert „wirkliche“ Armut ausschließlich in Staaten wie Burkina Faso, Bangladesch
oder Mosambik, aber nicht in der Bundesrepublik. Während niemand bezweifelt, dass es im globalen
Süden extreme Armut gibt, wird seit vielen Jahrzehnten mit Verve darüber gestritten, ob sie auch hierzulande
grassiert. Für die politisch Verantwortlichen wirkt es natürlich beruhigend und sie selbst entlastend, wenn
das Phänomen ausschließlich in Entwicklungsländern verortet wird. Realitätssinn beweist man aber nicht
durch die Ignoranz gegenüber einem sozialen Problem, das in wirtschaftlichen Krisen, Katastrophen wie
einer Pandemie und gesellschaftlichen Umbruchsituationen besonders krass zutage tritt.

Hierzulande manifestiert sich absolute Armut hauptsächlich in Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wohnungslos
sind Menschen, die weder über selbstgenutztes Wohneigentum noch über ein Mietverhältnis verfügen
und deshalb in Notunterkünften leben oder bei Freund(inn)en und Bekannten unterschlüpfen. Obdachlos
sind Menschen, die auf der Straße leben und auf Parkbänken nächtigen. Wohnungs- und Obdachlose, total
verelendete Drogenabhängige, „Straßenkinder“, bei denen es sich meist um obdachlose Jugendliche handelt,
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, EU-Ausländer/innen ohne Sozialleistungsansprüche und „Illegale“,
die man besser als illegalisierte Migrant(inn)en bezeichnet, gehören zu den Hauptbetroffenen von absoluter,
extremer bzw. existenzieller Armut.

Nach einem deutlichen Rückgang während der 1990er-Jahre gab es 2014 in Deutschland ca. 335.000 Wohnungslose,
vier Jahre später hatte sich ihre Zahl bereits mehr als verdoppelt. Für 2018 lag die Schätzung der
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, dem Dachverband der Initiativen im Bereich der Obdachund
Wohnungslosenhilfe, welchem mangels offizieller und exakter Daten auch die Armuts- und Reichtumsberichte
der Bundesregierung vertrauen, bei 678.000 Wohnungslosen, darunter 441.000 anerkannten Flüchtlingen.
41.000 Menschen, darunter in manchen Großstädten fast die Hälfte osteuropäische EU-Bürger/innen,
lebten vor der Covid-19-Pandemie auf der Straße. Auch unter den Betroffenen mit deutschem Pass befanden
sich immer weniger Berber oder Trebegänger, wie die „klassischen“ Obdachlosen genannt wurden. Gestiegen
ist zuletzt die Zahl der Mittelschichtangehörigen, von Freiberufler(inne)n, Soloselbstständigen und
gescheiterten Existenzgründer(inne)n, die auf der Straße landen.

Nach einer EU-Konvention aus dem Jahr 1984 gelten Menschen in einem Mitgliedsstaat als armutsgefährdet
oder -bedroht, die weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens (Armutsrisikoschwelle)
zur Verfügung haben. Treffender wäre ihre Bezeichnung als „einkommensarm“, denn von weniger als 1.145
Euro – da lag die Armutsgefährdungsgrenze im Jahr 2021 für Alleinstehende hierzulande – musste in aller
Regel auch Wohnungsmiete bezahlt werden. Von den Niedrigeinkommensbezieher(inne)n dürften schließlich
die allerwenigsten Wohneigentum besessen haben. Aufgrund des hohen Mietniveaus in den meisten
Groß- und Universitätsstädten der Bundesrepublik bedeutete dies, dass sehr wenig Geld für den Lebensunterhalt
übrigblieb.

Nach den neuesten Angaben des Statistischen Bundesamtes wurde 2021 mit 16,9 Prozent der Bevölkerung
oder 14,1 Millionen Betroffenen ein historischer Höchststand im vereinten Deutschland erreicht. Ein deutlich
höheres Armutsrisiko wiesen Erwerbslose mit 49,4 Prozent, Alleinerziehende mit 42,3 Prozent und
Nichtdeutsche mit 35,9 Prozent auf. Kinder, Jugendliche und Heranwachsende waren stark betroffen, während
das Armutsrisiko der Senior(inn)en seit geraumer Zeit am stärksten zunimmt. Zu befürchten ist, dass
die Zahl der Armutsgefährdeten oder -betroffenen aufgrund krisenbedingter Einkommensverluste in naher
Zukunft weiter steigt.

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Während junge Menschen manchmal jahrzehntelang im Bereich des Wohnens, der Gesundheit und der
Freizeitgestaltung sowie von Bildung und Kultur benachteiligt sind, wird Senior(inn)en der Lohn für ihre
Lebensleistung vorenthalten. Angehörige dieser Altersgruppe laufen überdies Gefahr, wegen des sinkenden
Rentenniveaus und der mehr als bescheidenen Grundsicherungsleistungen bis zu ihrem Tod sozial ausgegrenzt
zu werden, einsam oder isoliert zu bleiben. Während ihre Einkünfte tendenziell sinken, nehmen die
finanziellen Belastungen durch medizinische und Pflegeleistungen, die sie im Greisenalter häufiger in Anspruch
nehmen müssen, eher zu.

Seit die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zum 1. Januar 2003 eingeführt wurde, hat sich
die Zahl der älteren Menschen, die auf sie angewiesen sind, trotz einer strengen Bedürftigkeitsprüfung fast
verdreifacht. Im Dezember 2022 waren es neben knapp 531.000 dauerhaft voll Erwerbsgeminderten, die als
Menschen mit schweren Behinderungen ein sehr hohes Armutsrisiko haben, bereits annähernd 659.000
Senior(inn)en, die Leistungen nach dem SGB XII erhielten. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass sich
ältere Menschen damit schwertun, diese Transferleistung – früher hieß sie Fürsorge bzw. Sozialhilfe –
überhaupt zu beantragen, weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen oder weil sie irrtümlicherweise den
(bis zu einem Jahreseinkommen in Höhe von 100.000 Euro ausgeschlossenen) Unterhaltsrückgriff auf ihre
Kinder bzw. sogar auf ihre Enkel fürchten. Kein Wunder also, dass es im Jahr 2021 bereits über eine Million
Menschen gab, die vermutlich nicht zuletzt wegen einer zu geringen Rente in Deutschland mit 67 oder mehr
Jahren noch arbeiteten. Von ihnen waren 217.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigt, während 835.000
einen Minijob hatten, darunter auch viele, die 75 Jahre oder älter waren!

Das private Vermögen konzentriert sich immer stärker bei wenigen (Unternehmer-)Familien

Reichtum kennt im Unterschied zur Armut weder eine starre Mindest- noch eine absolute Höchstgrenze.
Weil alle verfügbaren Datengrundlagen die höchsten Einkommen entweder – wie die alle fünf Jahre erhobene
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes – aufgrund einer „Abschneidegrenze“
gar nicht erfassen oder aufgrund mangelnder Transparenz gerade im obersten Bereich der
Vermögen besonders ungenau sind, verkennt man die Konzentration des Reichtums für gewöhnlich. Stellt
man die statistische Unsicherheit bei der Erfassung von Hochvermögenden und ihres Vermögensreichtums
in Rechnung, dürfte die reale Ungleichheit noch größer sein, als es die verfügbaren Daten erkennen lassen.

Vermögen wirkt reichtumsfördernd und -erhaltend zugleich, Lohn oder Gehalt kann hingegen schlagartig
entfallen, wenn die Einkommensquelle mit dem Arbeitsplatz oder dem eigenen (Klein-)Unternehmen, wie
etwa in der Covid-19-Pandemie durch Kurzarbeit, Entlassungen und Insolvenzen geschehen, schlagartig
versiegt. Im vergangenen Vierteljahrhundert hat die Vermögensungleichheit deutlich zugenommen. Selbst
die CDU/CSU/FDP-Koalition unter Angela Merkel kam nicht umhin, die steigende Ungleichverteilung des
Vermögens im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu dokumentieren: Verfügten
die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung danach im Jahr 1998 über 45 Prozent des privaten Nettovermögens,
waren es im Jahr 2003 bereits 49 Prozent und im Jahr 2008 sogar fast 53 Prozent. Dagegen musste sich
die ärmere Hälfte der Bevölkerung in den Jahren 1998 und 2003 mit drei Prozent und im Jahr 2008 mit bloß
noch einem Prozent begnügen. Wie im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erneut
dokumentiert, zeigt sich die Verteilungsschieflage vornehmlich beim Vermögen. Während die reichsten
zehn Prozent der Bevölkerung laut dem Regierungsbericht 51,9 Prozent des Nettogesamtvermögens besaßen,
kam die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade mal auf ein Prozent.

Auch vor den Vermögenden selbst macht die ausgeprägte sozioökonomische Polarisierungsdynamik nicht
halt. Vielmehr spaltet sich diese Gruppe in Reiche (Multimillionäre), erheblich Reichere (Milliardäre) und
Hyperreiche (Multimilliardäre). Vor allem das Produktivvermögen konzentriert sich zunehmend bei den
Letzteren, die meistens auch große Erbschaften machen. Deshalb entscheidet in Deutschland weder die
persönliche Leistung der Menschen noch das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, die mehr Gleichheit erfordert,
über die Verteilung des Reichtums, sondern die Abstammung.

Zuletzt haben Carsten Schröder, Charlotte Bartels, Konstantin Göbler, Markus M. Grabka und Johannes
König frühere Untersuchungsergebnisse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Rahmen
eines Forschungsprojekts für den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aktualisiert.
Dabei griffen sie auf eine Spezialstichprobe von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)
zurück, nahmen eine Sonderbefragung von Vermögensmillionären vor und bezogen die Reichenliste eines
Wirtschaftsmagazins ein, um auch Hyperreiche im Rahmen dieser Sonderauswertung zu berücksichtigen.
Demnach entfallen heute 67,3 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Verteilung,
35,3 Prozent des Nettogesamtvermögens konzentrieren sich beim reichsten Prozent der Bevölkerung und das
reichste Promille kommt immer noch auf 20,4 Prozent des Nettogesamtvermögens. Aufgrund der neuen
Untersuchungsmethode stieg der auf Basis regulärer SOEP-Daten berechnete Gini-Koeffizient von 0,78 auf
0,83. Dabei handelt es sich um ein Ungleichheitsmaß, das bei völliger Gleichverteilung (alle Personen
besitzen das gleiche) 0 und bei extremer Ungleichverteilung (eine Person besitzt alles) 1 beträgt. 0,83 entspricht
fast dem US-amerikanischen Vergleichswert, der üblicherweise mit 0,85 bis 0,87 angegeben wird,
was die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage hierzulande zeigt.

Weil die Bundesregierung das Problem der Ungleichheit – falls irgend möglich – zu relativieren sucht,
finden sich diese Zahlen zur Verteilungsschieflage im Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht nicht. Vielmehr
wird in dem Regierungsdokument so getan, als hätte sich die Ungleichheit während der vergangenen
Jahre verringert. Die unterschiedliche Zusammensetzung der erfassten Vermögen berücksichtigte man nur
am Rande. Während es sich bei Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen traditionell vorwiegend um
Kapitalvermögen, Unternehmen(santeile) und hochwertigen Immobilienbesitz handelt, verfügt die ärmere
Hälfte der Bevölkerung immer noch hauptsächlich über Sparguthaben, die oft kaum Zinsen abwerfen.

Da hierzulande über die Hälfte der Einwohner/innen zur Miete wohnen, weist das Immobilienvermögen,
welches den Löwenanteil des erfassten Reichtums ausmacht, eine hohe Konzentration auf. Während das
Geldvermögen gleichmäßiger verteilt ist, gilt dies keineswegs für das Betriebsvermögen. Eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung haben in diesem Zusammenhang hyperreiche Unternehmerfamilien, die zum
Teil riesige Konzerne besitzen oder Mehrheitsaktionäre sind.

Über die Verteilung des Produktivvermögens ist hierzulande so gut wie nichts bekannt, obwohl diese Vermögensart
die Sozialstruktur der Gesellschaft entscheidend prägt. Die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse
würden sich nur erschließen, wenn mehr über die entsprechenden Vermögensbestände bekannt wäre. Um
eine hinreichend gute Datenbasis zu erhalten, müssten das Bank- und das Steuergeheimnis aufgehoben
werden sowie alle Informationen zu Privatstiftungen im In- und Ausland sowie zu in „Steueroasen“ wie den
Bahamas, den Bermudas oder den britischen Kanalinseln transferierten Vermögen vorhanden sein.

Aufgrund des Immobilienbooms im Gefolge der globalen Finanzmarkt- und Bankenkrise 2007/08 ist die
sozioökonomische Ungleichheit gewachsen. Da sich besonders die Luxusimmobilien bei den Hochvermögenden
konzentriert, hat die die Preisexplosion auf diesem Markt zur Vertiefung der Kluft zwischen Arm
und Reich beigetragen. Während die Mittelschicht, bei der Immobilienbesitz traditionell einen größeren Teil
des Gesamtvermögens ausmacht, aufgrund der massiven Wertsteigerungen ebenfalls nicht unwesentliche
Vermögenszuwächse verzeichnete, ging die untere Hälfte der deutschen Vermögensverteilung mangels
Wohnungseigentums praktisch leer aus.

Während einige Unternehmerfamilien den Industriesektor und hyperreiche Finanzfürsten den Bankensektor
und das Kreditwesen, damit jedoch auch andere Teile der Volkswirtschaft beherrschten, besaßen 40 Prozent
der Bevölkerung laut DIW-Präsident Marcel Fratzscher kein nennenswertes Vermögen, auf das sie im Alter
oder im Krankheitsfall zurückgreifen konnten. Demnach lebten rund 33 Millionen Menschen gewissermaßen
von der Hand in den Mund, waren sie doch nur eine Kündigung, einen Unfall oder eine schwere Krankheit
von der Armut entfernt.

Es kommt nicht bloß auf die Quantität, sondern auch auf die Qualität des Vermögens an. Letztlich entscheidet
nämlich seine Struktur darüber, welche Handlungs- und Entscheidungsspielräume es dem Eigentümer
bietet. Denn selbst viel Bargeld, das dieser auf dem Dachboden versteckt, weil er den Banken misstraut,
verleiht ihm keine unmittelbare Macht über andere Menschen, wohingegen der Besitz von Unternehmen
oder Unternehmensanteilen (Aktien) dem Kapitaleigentümer ganz andere Möglichkeiten eröffnet. Ähnliches
gilt für das Privateigentum an vermieteten Immobilien sowie an Grund und Boden. Nur wenn zwischen
diesen Vermögensarten, vor allem jedoch zwischen Betriebs-, Grund-, Immobilien- und Geldvermögen
unterschieden wird, kann man die reale Vermögensverteilung innerhalb einer Gesellschaft beurteilen.

Ursachen der wachsenden Ungleichheit

Um die Wurzeln der sozioökonomischen Ungleichheit in Deutschland erfassen zu können, sollte man zwischen
deren originären Ursachen, die mit den Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnissen und Verteilungsmechanismen
der Gesellschaft zu tun haben, sowie den Gründen für die jüngste Verschärfung der
Ungleichheit, die auf weiteren (Fehl-)Entscheidungen von Parlamenten, Regierungen und Verwaltungen
beruht, unterscheiden. Außerdem spielen bei diesem Polarisierungsprozess soziokulturelle, intellektuelle und
politisch-ideologische Rahmenbedingungen eine Rolle.

(Klassen-)Gesellschaften, deren Mitglieder sich durch ihr Verhältnis zum Privateigentum an Produktionsmitteln
voneinander unterscheiden, kennzeichnet sozioökonomische Ungleichheit. Wenn einer kleinen Minderheit
der Bevölkerung, wie das im kapitalistischen Wirtschaftssystem der Fall ist, die Unternehmen, Banken
und Versicherungen gehören, wohingegen eine große Mehrheit der Bevölkerung ihren Lebensunterhalt
durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft auf einem zum Teil schwierigen Markt sichern muss, kann von sozialer
Gleichheit natürlich keine Rede sein.

Der Soziologe Ulrich Beck sprach in seinem 1986 erschienenen Buch „Risikogesellschaft“ von einem sozialen
„Fahrstuhl-Effekt“, der während des westdeutschen „Wirtschaftswunders“ alle Klassen und Schichten
gemeinsam „eine Etage höher gefahren“ und sie nach der Weltwirtschaftskrise 1974/75 gemeinsam nach
unten befördert habe. Sowenig alle Gesellschaftsmitglieder, unabhängig von ihrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit,
„im selben Boot“ sitzen, sowenig benutzen sie jedoch einen gemeinsamen Fahrstuhl. Denn ihre
materiellen Interessen sind nicht gleichförmig, sondern unterschiedlich, zum Teil sogar gegensätzlich.

Die arbeitende und die (Kapital) besitzende Klasse haben zwar ihre Gestalt im Laufe der Zeit erheblich
verändert, sind also nicht mehr identisch mit dem Proletariat und der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts,
existieren jedoch modifiziert fort. Auch im digitalen Finanzmarktkapitalismus dominieren zwei Klassen,
deren Antagonismus die duale Sozialstruktur in Deutschland prägt. Diese basale Feststellung erklärt jedoch
weder, warum es zwischen einzelnen kapitalistischen Ländern immer schon große Unterschiede hinsichtlich
der Ungleichheit ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse gab, noch die weitere Auseinanderentwicklung
der meisten Gesellschaften im Zeitverlauf. Dafür waren im Wesentlichen drei Ursachenbündel maßgeblich:
die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Demontage des Sozialstaates und drittens eine unsoziale
Steuerpolitik.

Durch die vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 in seiner „Agenda 2010“
genannten Regierungserklärung als „gesellschaftliche Modernisierung“ bezeichnete Deregulierung des
Arbeitsmarktes ist ein breiter Niedriglohnsektor entstanden, der zwischen 20 und 25 Prozent aller Beschäftigten
umfasst. Man kann von einer Refeudalisierung der Arbeitswelt (Lockerung des Kündigungsschutzes,
Liberalisierung der Leiharbeit, Erleichterung von Werk- und Honorarverträgen sowie Einführung prekärer
Beschäftigungsverhältnisse) sprechen. Die mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
drastisch verschärften Zumutbarkeitsregelungen und drakonischen Sanktionen der Jobcenter
setzten auch Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften unter enormen Druck. Unter dem Damoklesschwert
von Hartz IV akzeptierten diese schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere (Real-)Löhne, die
wiederum zu höheren Profiten bei den Unternehmen bzw. den Kapitaleigentümern führten.

Die rot-grüne Koalition ging von einer schrittweisen Reduzierung bestimmter staatlicher Transferleistungen,
wie sie die schwarz-gelbe Koalition von Bundeskanzler Helmut Kohl praktiziert hatte, zu einer umfassenden
Revision der Leistungen des Wohlfahrtsstaates und zu seiner Restrukturierung im Sinne eines „investiven“
bzw. „aktivierenden Sozialstaates“ über. Das als „Hartz IV“ bekannte Gesetzespaket schaffte mit der Arbeitslosenhilfe
zum ersten Mal seit 1945 eine den Lebensstandard von Millionen Erwerbslosen (noch halbwegs)
sichernde Lohnersatzleistung ab. An deren Stelle trat mit dem Arbeitslosengeld II eine höchstens noch
das soziokulturelle Existenzminimum sichernde Fürsorgeleistung, die als Lohnergänzungsleistung im Sinne
eines „Kombilohns“ gedacht war und eigentlich „Sozialhilfe II“ hätte heißen müssen. Dies war der harte,
materielle Kern von Hartz IV, den auch die Bürgergeld-Reform der Ampel-Koalition nicht antastete.

Schließlich sorgte eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip dafür, dass Reiche noch reicher und Arme
noch ärmer wurden, heißt es im Buch dieses Evangelisten doch sinngemäß: „Wer hat, dem wird gegeben,
und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen.“ Spitzenverdiener und Hochvermögende wurden
immer weniger nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit besteuert, Geringverdiener/innen und Transferleistungsbezieher/
innen dafür umso stärker zur Kasse gebeten. In den vergangenen Jahrzehnten wurden alle
Kapital- und Gewinnsteuern entweder abgeschafft wie die Gewerbekapital- und die Börsenumsatzsteuer,
einfach nicht mehr erhoben wie die Vermögensteuer seit 1997, obwohl sie noch im Grundgesetz (Art. 106
GG) steht, oder drastisch gesenkt wie der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer (von 53 Prozent unter
dem Bundeskanzler Helmut Kohl auf 42 Prozent heute bzw. 45 Prozent als sog. Reichensteuer für ganz
wenige Hocheinkommensbezieher), die Kapitalertragsteuer auf Zinsen und Dividenden (von 53 Prozent
unter Helmut Kohl auf 25 Prozent) und die Körperschaftsteuer (von 45 bzw. 30 Prozent unter Helmut Kohl,
je nachdem, ob die Gewinne ausgeschüttet oder einbehalten wurden, auf 15 Prozent). Dagegen erhöhte die
erste Große Koalition unter Angela Merkel mit der Mehrwertsteuer ausgerechnet jene Steuerart, welche die
Armen besonders hart trifft, weil sie ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken und weil sie in
jedem Geschäft denselben Steuersatz zahlen müssen wie die Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen,
zum 1. Januar 2007 von 16 auf 19 Prozent.

Die neue Armut: Pandemie, Energiepreisexplosion und Inflation

Seit dem Frühjahr 2020 haben sich die Lebensbedingungen von Millionen Menschen in Deutschland zum
Teil drastisch verschlechtert, weil sich die Krisenphänomene häuften und verschärften. Mit der Covid-19-
Pandemie und dem ersten bundesweiten Lockdown setzten inflationäre Tendenzen ein, die sich mit dem
Ukrainekrieg und den westlichen Sanktionen gegenüber Russland als Reaktion darauf verschärften. Einerseits
deckten diese Entwicklungsprozesse seit Langem bestehende Missstände, soziale Ungleichheiten und
politische Versäumnisse auf. Andererseits verschärften die Pandemie selbst, die letztlich von den staatlichen
Infektionsschutzmaßnahmen (zweimaliger bundesweiter Lockdown, Kontaktverbote sowie Einreise- und
Ausgangsbeschränkungen) mit ausgelöste Rezession und die stark auf Wirtschaftsunternehmen bzw. ihre
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zugeschnittenen Hilfspakete, „Rettungsschirme“ und Finanzhilfen
die sozioökonomische Ungleichheit weiter.

Während des pandemischen Ausnahmezustandes wurde klarer als je zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg
erkennbar, dass trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards des Landes im Weltmaßstab
sowie entgegen allen Beteuerungen der politisch Verantwortlichen, die Bundesrepublik sei eine „klassenlose“
Gesellschaft mit einem gesicherten Wohlstand all ihrer Mitglieder, eine Mehrheit der Bevölkerung nicht
einmal wenige Wochen lang ohne ihre ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt. Da selbst nach einer
zweijährigen Diskussion kein Minimalkonsens über den Umgang mit SARS-CoV-2 herstellbar war, spitzten
sichuch die weltanschaulichen Gegensätze und die (partei)politischen Konflikte in der eher als harmoniesüchtig
geltenden Bundesrepublik stark zu.

Die herrschenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen bewirkten,
dass SARS-CoV-2 und Covid-19 den ohnehin bestehenden Trend zur sozioökonomischen Polarisierung
unterstützen. Die schwere wirtschaftliche Verwerfungen erzeugende Pandemie ließ das Kardinalproblem der
Bundesrepublik, die wachsende Ungleichheit, nicht bloß stärker ins öffentliche Bewusstsein treten, sondern
wirkte auch als Katalysator des Polarisierungsprozesses, der dazu beitrug, sie weiter zu verschärfen. Wenn
man so will, glich die Coronakrise einem Paternoster, der materiell Privilegierte nach oben und Unterprivilegierte
zur selben Zeit nach unten beförderte. In entgegengesetzte Richtungen bewegen sich auch die verschiedenen
Klassen und Schichten, was dem gesellschaftlichen Zusammenhalt schadet und eine Gefahr für
die Demokratie darstellt.

Von den immensen Preissteigerungen betroffen sind hauptsächlich einkommensarme und armutsgefährdete
Personengruppen, weil ihnen im Unterschied zu wohlhabenden Bevölkerungskreisen finanzielle Rücklagen
fehlen. Lebensmitteltafeln, Pfandleihhäuser und Schuldnerberatungsstellen sind dem Ansturm kaum noch
gewachsen. Längst breitet sich die Angst vor einem sozialen Abstieg oder Absturz auch in weiten Teilen der
Mittelschicht aus.

Aufgrund der Energiepreisexplosion und anhaltender Mietsteigerungen dürfte die Zahl der Wohnungskündigungen,
Räumungsklagen und Zwangsräumungen erheblich zunehmen. Steigen wird daher vermutlich auch
die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen, welche man für das Jahr 2020 schon auf 45.000 geschätzt hat.
Falls relative Armut verstärkt in absolute, existenzielle oder extreme Armut umschlägt, werden Not und
Elend deutlicher im Stadtbild sichtbar. Dazu heute gehören schon heute Bettler/innen, Flaschensammler/
innen und Verkäufer/innen von Straßenzeitungen.

Gleichzeitig wächst die statistisch nicht erfasste und auch nur schwer erfassbare, weil eher verborgene
Armut solcher Menschen, deren Einkommen nominal zwar über der Armutsrisikoschwelle liegt, real wegen
steigender Ausgaben aber nicht mehr ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Energiearmut, von
der man spricht, wenn die Kosten für Haushaltsenergie mehr als 10 Prozent des Nettoeinkommens verschlingen,
kann zur neuen Normalität werden. Zu befürchten ist, dass sich Wohn-, Energie- und Ernährungsarmut
zu der sozialen Frage schlechthin entwickeln.

Während die meisten Arbeitnehmer/innen seit Jahren schmerzhafte Reallohnverluste erleiden, die sich durch
auch für die Arbeitgeber steuer- und sozialabgabenfreie, als „Inflationsausgleichsprämie“ bezeichnete Einmalzahlungen
nicht im Mindesten ausgleichen lassen, gibt es gerade bei großen Unternehmen eine Inflation
der Gewinne, die zum Teil auf Mitnahmeeffekten beruht. DAX-Konzerne schütten Dividende in bisher nicht
gekannter Höhe an ihre Aktionäre aus, auf die Letztere nur 25 Prozent Kapitalertragsteuer entrichten müssen.
Somit wächst die sozioökonomische Ungleichheit und vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich
immer weiter.

Was zu tun ist: Ungleichheit bekämpfen, Armut beseitigen und Reichtum begrenzen!

Durch den geltenden Mindestlohn von 12 Euro brutto pro Stunde wird höchstens eine weitere Lohnspreizung
verhindert und der Niedriglohnsektor zwar nach unten abgedichtet, aber nicht eingedämmt oder gar
abgeschafft, was nötig wäre, um Armut und soziale Ausgrenzung wirksam zu bekämpfen. Nur ein Mindestlohn
in existenzsichernder Höhe, die Streichung sämtlicher (besonders vulnerable Gruppen wie Langzeitarbeitslose,
Jugendliche ohne Berufsabschluss und Kurzzeitpraktikanten treffender) Ausnahmen sowie eine
flächendeckende Überwachung durch die zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls könnten
bewirken, dass der Mindestlohn überall ankommt. Damit er seine Wirkung als Instrument zur Armutsbekämpfung
entfalten kann, sollte der Mindest- nach angloamerikanischem Vorbild zu einem „Lebenslohn“
(living wage) weiterentwickelt werden, der nicht bloß die Existenz, sondern auch die Teilnahme am gesell10
schaftlichen, kulturellen und politischen Leben ermöglicht. Dies hieße, dass der gesetzliche Mindestlohn auf
deutlich mehr als 12 Euro steigen müsste.

Zu den für eine Reregulierung des Arbeitsmarktes nötigen Maßnahmen gehört die Stärkung der Tarifbindung.
Das zuständige Bundesarbeitsministerium sollte Tarifverträge auch dann für allgemeinverbindlich
erklären können, wenn die Arbeitgeberseite damit nicht einverstanden ist. Mini- und Midijobs müssen in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt, sachgrundlose Befristungen ausgeschlossen
und Leiharbeitsverhältnisse entweder ganz verboten oder wieder stärker reguliert werden.
Eine konsequente Beschäftigungspolitik würde nicht bloß die Erwerbslosigkeit verringern, sondern auch der
sozialen Ungleichheit nachhaltig entgegenwirken. Sie müsste von einer Umverteilung der Arbeit durch den
Abbau von Überstunden und die Verkürzung der Wochen- wie der Lebensarbeitszeit über (kreditfinanzierte)
Zukunftsinvestitionsprogramme des Bundes und der Länder bis zur Schaffung eines öffentlich geförderten
Dienstleistungssektors alle Möglichkeiten der staatlichen Interventionstätigkeit für die Schaffung von mehr
Stellen nutzen.

Statt eines „Um-“ bzw. Ab- oder Rückbaus des Wohlfahrtsstaates wäre ein Ausbau des bestehenden Systems
zu einer Sozialversicherung für alle Bewohner/innen nötig. Dabei geht es im Unterschied zu einem bedingungslosen
Grundeinkommen, das die sozioökonomische Ungleichheit womöglich noch verschärfen würde,
nicht um einen Systemwechsel, sondern um eine Weiterentwicklung des bestehenden Sozialsystems, verbunden
mit innovativen Lösungen für Problemlagen, die aus den sich stark wandelnden Arbeits- und Lebensbedingungen
resultieren.

An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss eine solidarische Bürgerversicherung treten. Bürgerversicherung
heißt, dass alle Personen aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig
sind oder nicht. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige,
Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt
in der Bundesrepublik außen vor. Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den
ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht bloß auf Löhne und
Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse)
wären Beiträge zu erheben. Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch
Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme
auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte (ganz oder teilweise) zu
entziehen. Hinsichtlich der Beitragsbemessungsgrenzen stünde zumindest eine deutliche Erhöhung an.
Umgekehrt müssen jene Personen finanziell aufgefangen werden, die den nach der Einkommenshöhe gestaffelten
Beitrag nicht entrichten können.

Damit die Bürgerversicherung auf der Finanzierungsseite wirken kann, muss eine bedarfsgerechte, armutsfeste
und repressionsfreie Grundsicherung, die ohne Sanktionen auskommt, auf der Leistungsseite das Risiko
von Armut, Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung angehen. Auf diese Weise würde soziale Sicherheit
bzw. Verteilungsgerechtigkeit zum konstitutiven Bestandteil einer neuen Form der Demokratie, die
mehr beinhaltet als den regelmäßigen Gang zur Wahlurne, das Funktionieren der Parlamente und die Existenz
einer unabhängigen Justiz.

Mit dem Bürgergeld wurde am 1. Januar 2023 jedoch kein neues oder gar neuartiges Grundsicherungssystem
etabliert, die Architektur des bestehenden Leistungssystems blieb vielmehr unangetastet. Hätte man dagegen
Hartz IV „hinter sich lassen“ wollen, wie SPD und Bündnisgrüne immer wieder beteuerten, müssten tiefgreifende
Änderungen erfolgen, darunter die Wiedereinführung einer Lohnersatzleistung wie der am 1. Januar
2005 abgeschafften Arbeitslosenhilfe, die Entschärfung der strengen Zumutbarkeitsregelungen (Zwang zur
Annahme jedes Jobs, sofern er nicht sittenwidrig ist) und die Abschaffung der Bedarfsgemeinschaft (Berücksichtigung
des Einkommens von mit den Anspruchsberechtigten weder verwandten noch ihnen gegenüber
unterhaltspflichtigen Personen bei der Leistungsbemessung).

Wer den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken will, muss mehr Steuergerechtigkeit verwirklichen. Dazu
sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine vor allem große Betriebsvermögen
stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progressiver
verlaufender Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen
Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer (Abschaffung der Abgeltungsteuer) nötig. Korrekturen der Sekundärverteilung
durch eine Anhebung des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer oder die Einführung einer
Millionärsteuer reichen allerdings längst nicht mehr aus, um die Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen.
Vielmehr sind auch tiefgreifende Strukturveränderungen nötig, damit sich die sozioökonomische Ungleichheit
nicht permanent reproduziert.

Einkommensstarke und besonders vermögende Menschen sollten mehr finanzielle Verantwortung für eine
soziale, humane und nachhaltige Gesellschaftsentwicklung übernehmen. Zu diesem Zweck könnte man den
1995 unbefristet eingeführten Solidaritätszuschlag für den Inflationsausgleich, die Energiewende und den
Klimaschutz umwidmen – und ihn zu verdoppeln. Aktuell beträgt er 5,5 Prozent der Einkommensteuerschuld.
Nur rund 10 Prozent der Bevölkerung bezahlen ihn noch und bloß Spitzenverdiener in voller Höhe,
denn es gibt einen Freibetrag von 17.543 Euro für Alleinstehende und 35.086 Euro für Paare – wohlgemerkt
nicht auf das zu versteuernde Einkommen, sondern auf die Steuerschuld. Für Singles mit einem zu versteuernden
Jahreseinkommen von 100.000 Euro, also einem Bruttomonatsverdienst von rund 10.000 Euro, wird
Einkommensteuer in Höhe von 32.027 Euro und ein Solidaritätszuschlag von 1.723,59 Euro fällig.

Für die besonders Vermögenden wäre nach dem Vorbild des Lastenausgleichs im Jahr 1952 eine zusätzliche
Abgabe denkbar, etwa in Höhe von 10 Prozent gestreckt auf fünf Jahre – also 2 Prozent pro Jahr. Herangezogen
würden Vermögen, die 1 Million Euro übersteigen. Analog zur Erbschaft- und Schenkungsteuer
könnte man für Ehe- bzw. Lebenspartner/innen einen Freibetrag von 500.000 Euro und pro Kind einen
Freibetrag von 400.000 Euro vorsehen. Zusammen mit den Freibeträgen für Partner/in und beispielsweise
zwei Kinder würde die Vermögensabgabe bei einer vierköpfigen Familie ab einem Vermögen von 2,3 Millionen
Euro greifen. Unberücksichtigt bliebe wie bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer das Familienheim
als selbstgenutztes Wohneigentum.

Damit ließen sich Mehrausgaben finanzieren, um alte Probleme wie Obdach- und Wohnungslosigkeit zu
bekämpfen, den öffentlichen Wohnungsbau wiederzubeleben, den Pflegenotstand zu beseitigen, der Kinderarmut
entgegenzuwirken und die Alterssicherung für Arbeitnehmer/innen wieder auf eine solide Finanzierungsgrundlage
zu stellen.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln
gelehrt. Zuletzt sind von ihm die Bücher „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische
Ungleichheit in Deutschland“, „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“, „Kinder der Ungleichheit. Wie
sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ und „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“
erschienen.

Ein Gespenst geht um … Neue Klassenjustiz

PROF. DR. CHRISTINE GRAEBSCH, Dortmund
Hochschullehrerin für das Recht der Sozialen Arbeit, Fachhochschule Dortmund (ISFF)

i.V. PROF. DR. HELMUT POLLÄHNE, Bremen
Rechtsanwalt, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Konfliktforschung e. V.

„Ein Gespenst geht um …“
Bekanntlich die einleitenden Worte des Kommunistischen Manifests von Karl Marx und Friedrich Engels, erschienen – zunächst anonym – am 21.02.1848, also vor ziemlich genau 175 Jahren. In jenem Manifest findet sich der Begriff der Klassenjustiz – soweit ich weiß – nicht, die Grundlagen dafür gelegt hat Marx aber in seiner berühmten Kritik von 1875 am Entwurf für das sog. Gothaer Programm, dem Gründungspapier der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) Deutschlands, Vorläufer der späteren SPD. Wenn manche neuerdings von der Klassenjustiz – oder eben: von einer neuen Klassenjustiz – reden, sehen andere wohl Gespenster umgehen …

Bestrafung von Armut?

DR. NICOLE BÖGELEIN, Köln
Dipl.-Soziologin, Institut für Kriminologie der Universität zu Köln

Ersatzfreiheitsstrafe – Bestrafung von Armut?

Symposium Armuts-Zeugnisse | Prekäre Verhältnisse in Justiz und Psychiatrie,
Maria Laach am 22.04.2023

Regelmäßig werden in Deutschland 80 % der Strafen als Geldstrafen verhängt. Die Geldstrafe errechnet sich nach dem Tagessatzsystem und beträgt ein Dreißigstel des monatlichen Nettoeinkommens, zwischen 1 € und 30.000 € (§ 40 StGB). Geldstrafen werden durch die Staatsanwaltschaften – dort konkret durch Rechtspfleger:innen – vollstreckt. Wenn das Geld nicht eingeht, kann ein:e Gerichtsvollzieher:in eingesetzt werden. Ist die Geldstrafe uneinbringlich, so erfolgt die Ladung zur Ersatzfreiheitsstrafe (EFS). Dann verkehrt die Geldstrafe ihre Natur. Denn während die Geldstrafe unsichtbar bleibt, die Lebensführung nicht beeinträchtigt, Freund:innen und Familien i.d.R. nichts davon mitbekommen und sie kein soziales Stigma habt, verhält es sich bei der EFS anders. (Ersatz-)Freiheitsstrafen sind sichtbar (durch Entfernung aus sozialen Kontexten), man verliert seine Freiheit, das Umfeld bekommt das mit und ein Gefängnisaufenthalt ist hochgradig stigmatisierend.

Das Tagessatzsystem soll für alle gleich wirken, jedoch wird durch Einsatz der EFS dieses Prinzip umgangen. Zahlungsunfähigkeit führt in Haft. Befürwortende argumentieren, dass Armut nicht vor Strafe schützen dürfe. Kritiker:innen fragen, ob Geldstrafen für Gutverdienende tatsächlich eine Strafe sind, da sie aus Rücklagen bezahlt werden können. In der Schätzung der Tagessätze wird Armut oft nicht erkannt, zudem variieren die Tagessatzhöhen auch bei ALG-II Beziehender:innen erheblich (in der Untersuchung von Nagrecha/Bögelein 2019 zwischen 7-20 €). Zudem legen die Staatsanwaltschaften häufig in der Vollstreckung entstehende Verzögerungen als Mutwilligkeit aus.

Beim Übergang zur EFS zeigt sich der Einfluss von Armut. Die Wahrscheinlichkeit, in EFS zu tilgen, ist für Personen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein (§ 265 a StGB) verurteilt wurden, am höchs-ten: Jede:r Siebte tilgt in Haft. Hingegen gelangt nur jede 43. Person in EFS, die wegen Verstößen gegen die Abgabenordnung und Steuerdelikte verurteilt worden war. 1

Bei sog. »Reichtumsdelikten«, für die ein:e Täter:in über Zugang zu finanziellen Ressourcen verfügen muss, wird also be-zahlt, hingegen gelingt dies bei »Armutsdelikten«, die Personen ohne Geld verüben, nicht.

In EFS finden sich grob vier Gruppen: »persistent Straffällige mit Suchtproblematik«, »wenig auf-fällige Erstinhaftierte«, »Täter/innen mit Eigentumsdelikten und Suchtproblematik« und »wiederholt Schwarzfahrende«.

Oft wird behauptet, EFS seien lediglich Druckmittel und Gefangene würden bezahlen, sobald sie am Gefängnistor ankämen. Es besteht jedoch kein Wahlrecht zwischen EFS oder Zahlung. Wird die Vollstreckung konsequent durchgeführt (Einbezug von Gerichtsvollzieher:in), steht bei Haftantritt fest, dass kein Geld vorhanden ist. 68 % verbüßen die EFS voll (Bögelein et al. 2021; Geiter 2014).

Wieder ist der Zusammenhang von Delikt und Haftverkürzung überzufällig. Mehr Personen, die wegen eines Straßenverkehrsdelikts oder Betrugs verurteilt waren, konnten sich auslösen. Hingegen gelang dies Menschen, die wegen eines Eigentumsdeliktes inhaftiert waren, seltener. 2  Wegen Fahrens ohne Fahrscheins Inhaftierten gelang die Auslösung in höchstens 30 % der Fälle. 3

1 Bögelein, Ernst & Neubacher (2014a, S. 29).
Dr. Nicole Bögelein, Universität zu Köln
2 Bögelein, Graaff & Geisler (2021).
3 Geiter (2014). Laut Lobitz & Wirth (2018, S. 38) können sich rund 47 % „freikaufen“. Wie es zu diesem Un-terschied in den Daten kommt, ist nicht ersichtlich.

Literatur
Bögelein, N., Glaubitz, C., Neumann, M., & Kamieth, J. (2019). Bestandsaufnahme der Ersatzfreiheitsstrafe in Mecklenburg-Vorpommern. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 102, 282-296.
Bögelein, N., Graaff, A. & Geisler, M. (2021). Wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Verkürzung von Ersatzfreiheitsstrafen in der Justizvollzugsanstalt Köln. In: Forum Strafvollzug, 2, S. 59-64.
Geiter, H. (2014). Ersatzfreiheitsstrafe: Bitterste Vollstreckung der mildesten Hauptstrafe des StGB: Erfahrungen bei Haftreduzierungsaktivitäten im Strafvollzug. In Neubacher & Kubink (Hg.), Kriminologie-Jugendkriminal-recht-Strafvollzug. 559-578.

Bestrafung psychischen Elends?

PROF. DR. SEBASTIAN SCHILDBACH, Gais (CH)
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Leiter des Ambulatoriums Gais (Lehrpraxis FMH)

Ersatzfreiheitsstrafe: Bestrafung psychischen Elends ?

Durch Zunahme der Geschwindigkeit im Alltag, die permanente Überflutung mit Informationen,
die Fantasie der Optimierung und einen zunehmenden Bedeutungsverlust kommt es zu
einem Rückgang an Stabilität und Geborgenheit und zu einer Erosion der menschlichen Seele.
All dies führt zu einer Daueranspannung und einer Epidemie psychischer Störungen mit Verelendung
der Gesellschaft. Diese begünstigt eine Armutskriminalitäts-Falle: Voran stehen die
Belastungen der modernen Gesellschaft wie ein belastendes Erwerbsklima, prekäre Beschäftigungen,
eine Ideologie von Wachstum und Konsum, fehlende Zeit für die Familie und eine
schlechte Ausstattung der Schulen. Diese führen zu sozialen Problemen wie beispielsweise
befristete Jobs, Leiharbeit, Minijobs, mangelnde familiäre und soziale Bindungen, schlechte
Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum, Verlust des sozialen Zusammenhalts,
Verlust gemeinsamer Rituale, Konkurrenzdenken, narzisstische Individualisierung, Ideologie
der Eigenverantwortung und Bindungsmüdigkeit. Diese sozialen Probleme erhöhen den
Anpassungsdruck auf das Individuum, welcher zu gesundheitlichen Reaktionen führen kann,
im Sinne regulativer Verhaltensweisen wie beispielsweise Impulsivität, Grübeln, Ängste, Zaudern
und Verbitterung. Diese gesundheitlichen Reaktionen werden als Fehlanpassungen an
gesellschaftliche Verhaltensregeln psychiatrisiert und medikalisiert und gemäß Diagnoseschemata
wie DSM und ICD als krank bewertet. Es kommt zu einer Ausweitung psychiatrischer
Diagnosen, wobei die Prävalenz schwerer seelischer Störungen konstant ist, jedoch die Prävalenz
leichterer Fälle zunimmt. Es kommt zu einem Shift von der Makro- auf die Mikroebene:
Soziale Probleme werden dem Individuum zugeschrieben und führen zu einer Stigmatisierung.
Diese führt zur Ausgrenzung des Individuums mit sozialer Randständigkeit, Desintegration
und Überforderung und begünstigt einen Regelverstoß. Diese Ausgrenzung kann
zu Armutskriminalität führen wie beispielsweise Ladendiebstahl, Leistungserschleichung,
Sozialleistungsbetrug sowie Beschaffungskriminalität in Armut gefallener Drogenabhängiger.
Im der Folge kommt es zu Repression und Kontrolle und einer Entmachtung des Individuums.
Diese führt zu einer Schwächung der Protestfähigkeit; das Individuum kann keinen Protest
mehr gegen gesellschaftliche Zustände organisieren, und die Belastungen der modernen Gesellschaft
verstärken sich. Hier schließt sich der Verstärkerkreislauf des komplexen Zusammenspiels
von menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Prozessen.

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Jährlich büssen in Deutschland rund 50.000 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe in einem Gefängnis
ab. Für die Strafanstalten bedeutet dies eine erhebliche Zusatzbelastung, zumal die
Ersatzfreiheitsstrafer in der Regel zu sozialen Randgruppen gehören und häufig von Alkohol
und Drogen abhängig sind und zunächst gesundheitliche Belange im Vordergrund stehen. Es
handelt sich bei der Gruppe der EFS-Häftlinge um eine sozial deklassierte Gruppe, die
schwerwiegende Defizite sowohl im sozialen Status als auch in der Persönlichkeitsentwicklung
und der sozialen Handlungskompetenz aufweist, wodurch ihnen die Zahlung der Geldstrafe
erschwert wird. Die Gruppe der EFS-Häftlinge ist im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung
nicht nur sozial unterprivilegiert, sondern auch hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit.

Eine weltweit erste Untersuchung zur Frage der Prävalenz psychischer Störungen bei Ersatzfreiheitsstrafen
im selben Untersuchungsdesign über einen Zeitraum von 18 Jahren in der JVA
Berlin-Plötzensee ergab, dass die durchschnittlich 37-jährigen Probanden eine Haftstrafe von
weniger als einem Vierteljahr verbüßten und 94 % von ihnen alleinstehend waren. Über ein
Fünftel waren Obdachlose, knapp 60 % ohne einen Schulabschluss. Über zwei Drittel blickten
auf vorhergehende Hafterfahrungen zurück, ein Viertel auf vorangegangene psychiatrische
Hospitalisierungen, und Dreiviertel waren zum Untersuchungszeitpunkt arbeitslos. Über vier
Fünftel der Untersuchten waren alkoholabhängig, über ein Drittel litt unter Phobien und 9 %
waren psychotisch erkrankt.

Der Umgang mit Ersatzfreiheitsstrafern stellt die Justizvollzugsanstalten vor immer grössere
Probleme. Waren früher Ersatzfreiheitsstrafer generell im offenen Vollzug untergebracht, so
muss inzwischen ein nicht unerheblicher Anteil der Gefangenen dem geschlossenen Vollzug
zugeführt werden. Man reagierte hiermit auf eine erhöhte Unberechenbarkeit und die damit
verbundene verstärkte Fluchtgefahr von Ersatzfreiheitsstrafern in den letzten Jahren. Dieses
zunehmend unberechenbare Verhalten kann auf das immer häufigere Auftreten von psychischen
Erkrankungen bei den Inhaftierten zurückgeführt werden. Gemäß der wissenschaftlichen
Literatur als auch der vorgestellten Untersuchung weisen EFS-Häftlinge schwerwiegende
Defizite im sozialen Status sowie in der sozialen Handlungskompetenz auf. Sie sind auch
in Bezug auf ihre psychische Gesundheit erheblichen Beeinträchtigungen ausgesetzt, die deutlich
über dem Ausmaß der Prävalenz der Allgemeinbevölkerung liegen. Dies gilt insbesondere
für Abhängigkeitserkrankungen, Psychosen, affektive Störungen und Angsterkrankungen.

Das Problem der sogenannten Transinstitutionalisierung wird in der modernen Psychiatrie auf
vielen internationalen Kongressen diskutiert. Dabei spielen Studien, insbesondere aus dem
anglo-amerikanischen Bereich eine Rolle, nach denen im Rahmen der Deinstitutionalisierung,
insbesondere dem Abbau psychiatrischer Krankenhausbetten seit den fünfziger Jahren, bei
unzureichenden gemeindenahen Angeboten die psychiatrische Klientel in den Justizvollzug
verschoben wurde. In den USA gilt es als grosses Problem, dass sich mittlerweile innerhalb
der Justizvollzugsanstalten weitaus mehr psychisch Kranke befinden als in anderen Institutionen.
Auch wenn es in Deutschland nicht zu einem derart drastischen Bettenabbau in der allgemeinen
Psychiatrie gekommen ist und das gemeindenahe psychiatrische Versorgungsnetz
recht gut zu funktionieren scheint, wird immer wieder von einer hohen Prävalenz psychischer
Störungen unter den Gefangenen berichtet und das Stichwort der Transinstitutionalisierung
auch auf deutsche Verhältnisse übertragen. In den ersten beiden Erhebungen berichteten 60 %
der Probanden über Hafterfahrungen und rund ein Drittel über psychiatrische Krankenhausbehandlungen.
In den letzten beiden Untersuchungen waren bereits 83 % der Probanden zuvor
im Gefängnis und nur noch 15 % in einer psychiatrischen Klinik. Die Penrose-Hypothese (die
Anzahl der psychiatrischen Krankenhausbetten und die Größe der Gefangenenpopulation stehen
in inverser Relation zueinander) hat in Deutschland Gültigkeit. Die Gefangenenrate im
betrachteten 18-jährigen Beobachtungszeitraum reagierte invers zur Zahl der psychiatrischen
Betten. Während 1999 40 % der Untersuchten auf eigene vorhergehende psychiatrische Hospitalisierungen
zurückblickte, waren es im Jahr 2017 lediglich noch 4 %.

Die Ersatzfreiheitsstrafe erscheint funktional als Druckmittel für reiche, intelligente, sozialkompetente,
sozial gut integrierte und gesunde Individuen (95 % der Verurteilten zahlen ihre
Geldstrafe). Sie erscheint dysfunktional als unwirksame Strafe für arme, bildungsdefizitäre,
sozial inkompetente, sozial desintegrierte und kranke Individuen. 5 % aller verhängten Geldstrafen
sind uneinbringlich, so dass also vorwiegend arme und kranke Individuen zur Ersatzfreiheitsstrafe
verurteilt werden, obwohl Geldstrafenschuldner nicht in den Strafvollzug gehören.
Der Strafvollzug kann und darf nicht zur Lösung sozialer und gesundheitlicher Probleme
dienen, es müssen neue Wege zum Umgang mit zahlungsunfähigen Geldstrafern gefunden
werden, diese Wege müssen unterstützen statt aufzubewahren.

Wer sprengt hier die Systeme? – Wie Psychiatrie und Wohnungslosenhilfe „Systemsprenger“ produzieren

PROF. DR. VOLKER BUSCH-GEERTSEMA, Bremen
Projektleiter und Vorstand der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e. V.

Wer sprengt hier die Systeme? Wie Psychiatrie und Wohnungslosenhilfe „Systemsprenger“ produzieren.

Der Beitrag befasst sich mit den Problemen, die einer bedarfsgerechten Versorgung von Personen entgegenstehen, die aufgrund ihrer Verhaltensweisen von Dritten als „Systemsprenger*innen“ bezeichnet werden. Es wird beschrieben, wie unterschiedliche Bereiche des Hilfesystems (Eingliederungshilfe, Wohnungslosenhilfe, Psychiatrie) selbst die beklagten Verhaltensweisen evozieren.

Dabei wird u.a. rekurriert auf Aussagen und Erfahrungen von Teilnehmenden in Seminaren zu dieser Thematik und zur Wohnungsnotfallhilfe, auf Forderungen von Mediziner*innen und Fachkräften der Straßensozialarbeit nach mehr Zwangsmaßnahmen für psychisch Kranke, auf die Ergebnisse einer Befragung von Wohnungslosen, die „auf der Straße“ übernachten oder vorübergehend bei Bekannten und Verwandten Zuflucht suchen („Couchsurfer*innen“, „Sofa*hopperinnen“) und auf einschlägige Literatur.

Der Beitrag stellt Maßnahmen vor, die direkt an den Schnittstellen zwischen Wohnungslosenhilfe und Eingliederungshilfe und Psychiatrie ansetzen und auf Wohnungslose mit seelischen Erkrankungen und häufig „fehlender Krankheitseinsicht“ fokussiert sind (Hotel Plus, Obdach Plus, Pension Plus etc.). Aber auch Beschränkungen dieser Ansätze werden thematisiert.

Housing First wird als ein möglicher Ansatz vorgestellt, um Wohnungslose mit komplexen Problemlagen eine Bleibeperspektive in dauerhaftem Individualwohnraum zu ermöglichen, verbunden mit dem nachdrücklichen Angebot sehr stark personenbezogener wohnbegleitender Hilfen, deren Annahme auf Freiwilligkeit basiert und die ohne Sanktionen auskommen. Die acht Grundprinzipien des Ansatzes und die weitgehend positiven Evaluationsergebnisse werden präsentiert. Aber auch der Housing-First-Ansatz hat seine Grenzen.

Schließlich werden eine Reihe von Maßnahmen angesprochen, die die Hilfen für Wohnungslose und psychisch Kranke stärker gegen „Sprengung“ schützen und den Umgang mit Menschen, die als „Systemsprenger*innen“ etikettiert werden, erleichtern können. Dazu gehören unter anderem präventive Maßnahmen zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit, gezielte Maßnahmen zur Erleichterung des Zugangs von Wohnungslosen zu dauerhaftem Individualwohnraum, der Ausbau der ambulanten Psychiatrie auf der Straße und geeigneter Angebote der Eingliederungshilfe und eine bessere psychologisch/psychiatrische Qualifizierung der Fachkräfte in der Wohnungsnotfallhilfe, die Nutzung gemeindepsychiatrischer Verbünde, rechtskreisübergreifende Hilfen und kooperative Fallsteuerung sowie maßgeschneiderte Einzelfalllösungen für „schwierige Fälle“. Um die Wohnungsnotfallhilfe weiter zu entwickeln, sind Mindeststandards für die ordnungsrechtliche Unterbringung notwendig, es muss mehr akzeptierende Angebote geben und gerade Wohnungslose mit komplexen Problemlagen sollten einzeln untergebracht werden, weil die zwangsgemeinschaftliche Unterbringung häufig erst die Probleme evoziert, die bei der Klage über „Systemsprenger*innen“ angeführt werden. Empfehlenswert ist auch das sogenannte „Street-based Assertive Outreach“, ein Ansatz der Straßensozialarbeit, der die Wohnungslosen konsequent in Wohnraum und bedarfsgerechte Hilfen vermittelt, anstatt ihre Lebenslage auf der Straße zu stabilisieren.

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Vagabunden und Landstreicher Oder: Wohnungslosigkeit und seelische Erkrankungen

DR. STEFAN GUTWINSKI, Berlin
Oberarzt, Leiter der AG Mental Health Care Research for Vulnerable Groups, Charité

Vagabunden und Landstreicher Oder: Wohnungslosigkeit und seelische Erkrankungen

Obwohl Deutschland eines der reichsten Länder der Welt ist, sind in Deutschland laut Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe etwa 678.000 Menschen wohnungslos. Hierbei umfasst der Begriff Wohnungslosigkeit nicht nur Menschen, die auf der Straße leben, sondern auch Menschen, die in provisorischen Wohneinrichtungen leben, wie beispielsweise Obdachlosenunterkünfte, U-Bahnhöfe oder Mehrbettzimmern in Flüchtlingsunterkünften. Die genaue Anzahl der Personen, die in Deutschland auf der Straße leben, ist bisher unbekannt. In der bisher einzigen Zählung von wohnungslosen Menschen in Deutschland – in der „Nacht der Solidarität“ – im Januar 2020 in Berlin betrug die Anzahl derer, die direkt auf der Straße lebenden Personen 807, wobei etwa 1200 weitere Personen in provisorischen Unterkünften in dieser Nacht, wie beispielsweise U-Bahnhöfen oder Notunterkünften, untergekommen waren. Begleitend zur „Nacht der Solidarität“ in Berlin erfolgte in dieser Nacht eine Zählung der wohnungslosen Menschen in psychiatrischen Kliniken in Berlin, bei der 13,8% der psychiatrischen Patienten als wohnungslos eingestuft wurden. Dies beinhaltete 311 Personen von 2248 in Berlin belegter psychiatrischer Betten und macht deutlich, dass die psychiatrischen Kliniken in Berlin einen relevanten Anteil in der Versorgung wohnungsloser Menschen leisten.

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Dass es einen Zusammenhang zwischen seelischen Erkrankungen und Wohnungslosigkeit gibt, ist
in der psychiatrischen Forschung lange bekannt und intensiv untersucht. In einer Metaanalyse, die
39 Studien aus 11 Ländern umfasste, die von 1979 bis 2018 durchgeführt wurden und insgesamt
8049 Personen umfasste, konnte gezeigt werden, dass 76% der wohnungslosen Menschen in den
Studien eine Punktprävalenz einer seelischen Erkrankung aufwiesen. Dies bedeutete, dass die
seelische Erkrankung zum Untersuchungszeitpunkt der Studie vorlag. Lebenszeitprävalenzen bei
wohnungslosen Menschen wurden in verschiedenen Studien bei über 90% festgestellt. Demnach
ist davon auszugehen, dass vier von fünf wohnungslosen Menschen an einer
behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung in Deutschland und international leiden.
Hierbei zeigt sich, dass insbesondere die Häufigkeit von Substanzgebrauchsstörungen deutlich
erhöht ist. Diese liegt bei wohnungslosen Menschen, bezogen auf Alkoholgebrauchsstörungen, in
Deutschland bei 55,4% und liegt damit gegenüber der Allgemeinbevölkerung, bei der
Alkoholgebrauchsstörungen mit 2,5% angegeben werden, 22 Mal höher. Aber auch andere
behandlungsbedürftige seelische Erkrankungen, wie psychotische Störungen, welche mit 8,3%
und schwere Depressionen mit 11,6% in deutschen Populationen von wohnungslosen Menschen
festgestellt wurden liegen deutlich über der Punktprävalenz von psychotischen Störungen mit 1,5
und schweren seelischen Erkrankungen von 5,6 in der deutschen Allgemeinbevölkerung.

Internationale Studien, wie Arbeiten von North aus dem Jahr 1998, sowie die deutsche Seewolf-
Studie, konnten dabei belegen, dass zwischen 60% und 90% der seelischen Erkrankungen bereits
vor dem Auftreten der Wohnungslosigkeit bestanden. Dies weist darauf hin, dass die betroffenen
Personen möglicherweise nicht rechtzeitig psychiatrische Behandlungen erfahren hatten, oder im
Rahmen von psychiatrischen Behandlungen die Patienten nicht ausreichend erreicht wurden, so
dass es anschließend zu einer Verschlechterung der Lebenssituation kam, so dass die Personen
wohnungslos wurden. Als besonders vulnerable Subgruppen sind dabei Frauen zu nennen, hierbei
ist die Prävalenz seelischer Erkrankungen unter wohnungslosen Frauen höher als bei männlichen
wohnungslosen Personen und liegt mit 83,3% über der Prävalenz von Männern, die mit 76,6% in
einer deutschen Metaanalyse von Schreiter et al. beschrieben wird. Hierbei waren Frauen
besonders häufig von psychotischen Erkrankungen betroffen, so dass laut der Arbeit von Schreiter
et al. 23,10% der wohnungslosen Frauen eine psychotische Erkrankung aufwiesen. Insgesamt ist
zwar die Anzahl der Personen, die wohnungslos sind und weiblichen Geschlechts sind, geringer als
Personen mit männlichem Geschlecht, allerdings legen die aktuellen Daten nahe, dass die
weiblichen Personen häufiger und schwerer von seelischen Erkrankungen betroffen sind.
Ein bisher wenig untersuchter Faktor ist die Prävalenz von Spielsucht unter wohnungslosen
Menschen. In einer 2022 veröffentlichten Arbeit von Deutscher et al. konnte erstmalig gezeigt
werden, dass knapp 20% der wohnungslosen Menschen eine behandlungsbedürftige Spielsucht
aufweisen. Es ist davon auszugehen, dass Spielsucht vermutlich ein bisher unterschätzter Faktor
in der Literatur für die Entstehung von Wohnungslosigkeit ist.

Auch in der bisher größten deutschen Untersuchung zum Faktor „Wohnen“, in der „WOHINStudie“,
durchgeführt von Gutwinski und Schreiter an der Berliner Charité im Jahr 2016, zeigte
sich, dass in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus insbesondere Menschen mit
Substanzgebrauchsstörungen von Wohnungslosigkeit betroffen waren. Hierbei zeigte sich als
signifikanter Korrelationsfaktor, dass wohnungslose Menschen ein besonders junges
Erstbehandlungsalter der seelischen Erkrankung angaben, was häufig mit einem jungen
Ersterkrankungsalter korreliert. Ein junges Ersterkrankungsalter ist für die meisten seelischen
Störungen, wie psychotischen Störungen und Depressionen, zudem ein Risikofaktor für einen
schwereren Erkrankungsverlauf. Weiterhin zeigte sich als relevanter Korrelationsfaktor, dass
wohnungslose psychiatrische Patienten in 25% keinen Schulabschluss aufwiesen. Die Zahl der
psychiatrischen Patienten ohne Schulabschluss, die aber eine feste Wohnform haben, betrug im
Gegensatz dazu 10%. In eine ähnliche Richtung weisen auch Studiendaten der Seewolf-Studien, so
dass anzunehmen ist, dass Personen, die die Schule abbrechen und nicht abschließen, eine
besondere Risikogruppe für die Entstehung von Wohnungslosigkeit sind. Als weiterer Faktor, der
in der Literatur bisher wenig untersucht wurde, weisen nationale und internationale Daten darauf
hin, dass Traumatisierung im Kindesalter eine relevante Rolle bei der Entstehung von
Wohnungslosigkeit spielen. In einer kanadischen Studie von Witt et al. konnte gezeigt werden,
dass Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, auf den vier Domänen des Childhood
Trauma Questionnaire, nämlich im Bereich körperlichem Missbrauchs, sexuellem Missbrauchs,
körperlicher Vernachlässigung und emotionalem Missbrauch, jeweils 50% der wohnungslosen
Menschen angaben, im Kindesalter Traumatisierung erfahren zu haben. In der deutschen
Allgemeinbevölkerung liegen die Häufigkeiten von körperlichem und sexuellem Missbrauch, sowie
emotionalem Missbrauch, unter 10%, sowie die körperliche Vernachlässigung unter 30%. Dies
weist darauf hin, dass Traumatisierung im Kindesalter ein relevanter Faktor in der Entstehung von
Wohnungslosigkeit ist.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in Deutschland die Zahl der wohnungslosen
Menschen mit über 600.000 Personen trotz des Reichtums des Landes sehr hoch ist. Es zeigt sich,
dass Wohnungslosigkeit und psychiatrische Erkrankungen in hohem Maß miteinander korrelieren,
sogar laut internationaler Studien die Häufigkeit seelischer Erkrankungen bei wohnungslosen
Menschen insgesamt bei knapp 80% liegt, wobei Substanzgebrauchsstörungen, Depressionen und
psychotische Erkrankungen die häufigsten Störungen bei wohnungslosen Menschen sind. Hierbei
tritt die psychiatrische Erkrankung häufiger vor Beginn der seelischen Erkrankung auf, was darauf
hinweist, dass die betroffenen Personen entweder nicht rechtzeitig vom psychiatrischen
Hilfesystem erreicht werden oder, wenn in eine Behandlung gefunden haben, in der Behandlung
der Faktor Wohnen nicht ausreichend berücksichtigt wird, so dass eine Lebenssituation entsteht,
aus der die Wohnungslosigkeit resultiert.

Als besondere Risikofaktoren für die Entstehung von Wohnungslosigkeit sind ein junges
Ersterkrankungsalter, ein fehlender Schulabschluss, eine Substanzgebrauchsstörungen, sowie ein
männliches Geschlecht zu nennen.

Der Fokus zukünftiger psychiatrischer Behandlungen sollte zudem darauf liegen, dass die
Eingangsschwelle für psychiatrische Patienten, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind,
insbesondere im Bereich von Substanzgebrauchsstörungen niedriger gelegt wird (z.B. Verzicht auf
Wartelisten), so dass betroffene Personen leichter ins psychiatrische Hilfesystem gelangen
können. Weiterhin sollte bei psychiatrischen Entlassungen aus dem Krankenhaus, bei jungen
ersterkrankten Personen mit Suchterkrankungen ein besonderer Wert darauf gelegt, dass diese
Personen in stabile Wohnformen entlassen werden.

Wie sozial ist die Soziale Psychiatrie?

PROF. DR. PETER BRIEGER, München
Ärztlicher Direktor, Kbo-Isar-Amper-Klinikum, Akademisches Lehrkrankenhaus der LMU

Wie sozial ist die Soziale Psychiatrie? – Zum Widerspruch von Gemeindepsychiatrie und Psychiatriegemeinde

Die Gemeindepsychiatrie hat die anfangs in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Die dort Betreuten bleiben abhängig von Einrichtungen und Therapeuten, sie kommunizieren und verkehren unter ihresgleichen und schaffen es selten oder nie, sich in „normale“ Biografien einzufügen. Das Leben bleibt blass, die Lebensqualität wird eingeschränkt nicht zuletzt durch finanzielle Restriktionen, innere und äußere Distanz zu der Gemeinschaft der Gesunden“.

„Armenrecht“ im Strafverfahren? – Über notwendige Verteidigung und Prozesskostenhilfe

DR. SARAH ZINK, Frankfurt a. M./New York
Rechtsanwältin; Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität

 „Armenrecht“ im Strafverfahren? Über notwendige Verteidigung und Prozesskostenhilfe 

Wenn der Titel meines Vortrags „Über notwendige Verteidigung und Prozesskostenhilfe“ lautet, ist das eigentlich nicht ganz richtig, jedenfalls dann nicht, wenn man unter „Prozesskostenhilfe“ ein Angebot staatlicher Finanzierung meint, das an Bedürftigkeitsgesichtspunkten ausgerichtet ist. Denn über ein solches verfügen wir im deutschen Strafverfahren nicht. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Möglichkeiten für eine bedürftige Beschuldigte auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gibt. Auf diese Möglichkeiten möchte ich zunächst eingehen und dabei auch herausarbeiten, ob und ggf. inwiefern die notwendige Verteidigung ein „Armenrecht“ darstellt. Eingehen möchte ich hier außerdem auf das Institut der Beratungshilfe. Anschließend möchte ich Statistiken dazu präsentieren, wie viele Beschuldigte unverteidigt vor Gericht stehen. Sodann soll der Einfluss durch die sog. Prozesskostenhilfe-Richtlinie2 aus der EU beleuchtet werden und dargestellt, ob bei dem System notwendiger Verteidigung nicht vielleicht doch von „Prozesskostenhilfe“, zumindest im Sinne der Richtlinie, gesprochen werden kann. Im Anschluss möchte ich auf die Kostentragungsverpflichtung im Verurteilungsfall eingehen und Möglichkeiten zur Einführung eines an Bedürftigkeit ausgerichteten Prozesskostenhilfemodells aufzeigen. 

Impressionen Symposium 2023