Während junge Menschen manchmal jahrzehntelang im Bereich des Wohnens, der Gesundheit und der
Freizeitgestaltung sowie von Bildung und Kultur benachteiligt sind, wird Senior(inn)en der Lohn für ihre
Lebensleistung vorenthalten. Angehörige dieser Altersgruppe laufen überdies Gefahr, wegen des sinkenden
Rentenniveaus und der mehr als bescheidenen Grundsicherungsleistungen bis zu ihrem Tod sozial ausgegrenzt
zu werden, einsam oder isoliert zu bleiben. Während ihre Einkünfte tendenziell sinken, nehmen die
finanziellen Belastungen durch medizinische und Pflegeleistungen, die sie im Greisenalter häufiger in Anspruch
nehmen müssen, eher zu.
Seit die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zum 1. Januar 2003 eingeführt wurde, hat sich
die Zahl der älteren Menschen, die auf sie angewiesen sind, trotz einer strengen Bedürftigkeitsprüfung fast
verdreifacht. Im Dezember 2022 waren es neben knapp 531.000 dauerhaft voll Erwerbsgeminderten, die als
Menschen mit schweren Behinderungen ein sehr hohes Armutsrisiko haben, bereits annähernd 659.000
Senior(inn)en, die Leistungen nach dem SGB XII erhielten. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass sich
ältere Menschen damit schwertun, diese Transferleistung – früher hieß sie Fürsorge bzw. Sozialhilfe –
überhaupt zu beantragen, weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen oder weil sie irrtümlicherweise den
(bis zu einem Jahreseinkommen in Höhe von 100.000 Euro ausgeschlossenen) Unterhaltsrückgriff auf ihre
Kinder bzw. sogar auf ihre Enkel fürchten. Kein Wunder also, dass es im Jahr 2021 bereits über eine Million
Menschen gab, die vermutlich nicht zuletzt wegen einer zu geringen Rente in Deutschland mit 67 oder mehr
Jahren noch arbeiteten. Von ihnen waren 217.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigt, während 835.000
einen Minijob hatten, darunter auch viele, die 75 Jahre oder älter waren!
Das private Vermögen konzentriert sich immer stärker bei wenigen (Unternehmer-)Familien
Reichtum kennt im Unterschied zur Armut weder eine starre Mindest- noch eine absolute Höchstgrenze.
Weil alle verfügbaren Datengrundlagen die höchsten Einkommen entweder – wie die alle fünf Jahre erhobene
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes – aufgrund einer „Abschneidegrenze“
gar nicht erfassen oder aufgrund mangelnder Transparenz gerade im obersten Bereich der
Vermögen besonders ungenau sind, verkennt man die Konzentration des Reichtums für gewöhnlich. Stellt
man die statistische Unsicherheit bei der Erfassung von Hochvermögenden und ihres Vermögensreichtums
in Rechnung, dürfte die reale Ungleichheit noch größer sein, als es die verfügbaren Daten erkennen lassen.
Vermögen wirkt reichtumsfördernd und -erhaltend zugleich, Lohn oder Gehalt kann hingegen schlagartig
entfallen, wenn die Einkommensquelle mit dem Arbeitsplatz oder dem eigenen (Klein-)Unternehmen, wie
etwa in der Covid-19-Pandemie durch Kurzarbeit, Entlassungen und Insolvenzen geschehen, schlagartig
versiegt. Im vergangenen Vierteljahrhundert hat die Vermögensungleichheit deutlich zugenommen. Selbst
die CDU/CSU/FDP-Koalition unter Angela Merkel kam nicht umhin, die steigende Ungleichverteilung des
Vermögens im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu dokumentieren: Verfügten
die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung danach im Jahr 1998 über 45 Prozent des privaten Nettovermögens,
waren es im Jahr 2003 bereits 49 Prozent und im Jahr 2008 sogar fast 53 Prozent. Dagegen musste sich
die ärmere Hälfte der Bevölkerung in den Jahren 1998 und 2003 mit drei Prozent und im Jahr 2008 mit bloß
noch einem Prozent begnügen. Wie im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erneut
dokumentiert, zeigt sich die Verteilungsschieflage vornehmlich beim Vermögen. Während die reichsten
zehn Prozent der Bevölkerung laut dem Regierungsbericht 51,9 Prozent des Nettogesamtvermögens besaßen,
kam die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade mal auf ein Prozent.
Auch vor den Vermögenden selbst macht die ausgeprägte sozioökonomische Polarisierungsdynamik nicht
halt. Vielmehr spaltet sich diese Gruppe in Reiche (Multimillionäre), erheblich Reichere (Milliardäre) und
Hyperreiche (Multimilliardäre). Vor allem das Produktivvermögen konzentriert sich zunehmend bei den
Letzteren, die meistens auch große Erbschaften machen. Deshalb entscheidet in Deutschland weder die
persönliche Leistung der Menschen noch das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, die mehr Gleichheit erfordert,
über die Verteilung des Reichtums, sondern die Abstammung.
Zuletzt haben Carsten Schröder, Charlotte Bartels, Konstantin Göbler, Markus M. Grabka und Johannes
König frühere Untersuchungsergebnisse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Rahmen
eines Forschungsprojekts für den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aktualisiert.
Dabei griffen sie auf eine Spezialstichprobe von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)
zurück, nahmen eine Sonderbefragung von Vermögensmillionären vor und bezogen die Reichenliste eines
Wirtschaftsmagazins ein, um auch Hyperreiche im Rahmen dieser Sonderauswertung zu berücksichtigen.
Demnach entfallen heute 67,3 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Verteilung,
35,3 Prozent des Nettogesamtvermögens konzentrieren sich beim reichsten Prozent der Bevölkerung und das
reichste Promille kommt immer noch auf 20,4 Prozent des Nettogesamtvermögens. Aufgrund der neuen
Untersuchungsmethode stieg der auf Basis regulärer SOEP-Daten berechnete Gini-Koeffizient von 0,78 auf
0,83. Dabei handelt es sich um ein Ungleichheitsmaß, das bei völliger Gleichverteilung (alle Personen
besitzen das gleiche) 0 und bei extremer Ungleichverteilung (eine Person besitzt alles) 1 beträgt. 0,83 entspricht
fast dem US-amerikanischen Vergleichswert, der üblicherweise mit 0,85 bis 0,87 angegeben wird,
was die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage hierzulande zeigt.
Weil die Bundesregierung das Problem der Ungleichheit – falls irgend möglich – zu relativieren sucht,
finden sich diese Zahlen zur Verteilungsschieflage im Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht nicht. Vielmehr
wird in dem Regierungsdokument so getan, als hätte sich die Ungleichheit während der vergangenen
Jahre verringert. Die unterschiedliche Zusammensetzung der erfassten Vermögen berücksichtigte man nur
am Rande. Während es sich bei Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen traditionell vorwiegend um
Kapitalvermögen, Unternehmen(santeile) und hochwertigen Immobilienbesitz handelt, verfügt die ärmere
Hälfte der Bevölkerung immer noch hauptsächlich über Sparguthaben, die oft kaum Zinsen abwerfen.
Da hierzulande über die Hälfte der Einwohner/innen zur Miete wohnen, weist das Immobilienvermögen,
welches den Löwenanteil des erfassten Reichtums ausmacht, eine hohe Konzentration auf. Während das
Geldvermögen gleichmäßiger verteilt ist, gilt dies keineswegs für das Betriebsvermögen. Eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung haben in diesem Zusammenhang hyperreiche Unternehmerfamilien, die zum
Teil riesige Konzerne besitzen oder Mehrheitsaktionäre sind.
Über die Verteilung des Produktivvermögens ist hierzulande so gut wie nichts bekannt, obwohl diese Vermögensart
die Sozialstruktur der Gesellschaft entscheidend prägt. Die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse
würden sich nur erschließen, wenn mehr über die entsprechenden Vermögensbestände bekannt wäre. Um
eine hinreichend gute Datenbasis zu erhalten, müssten das Bank- und das Steuergeheimnis aufgehoben
werden sowie alle Informationen zu Privatstiftungen im In- und Ausland sowie zu in „Steueroasen“ wie den
Bahamas, den Bermudas oder den britischen Kanalinseln transferierten Vermögen vorhanden sein.
Aufgrund des Immobilienbooms im Gefolge der globalen Finanzmarkt- und Bankenkrise 2007/08 ist die
sozioökonomische Ungleichheit gewachsen. Da sich besonders die Luxusimmobilien bei den Hochvermögenden
konzentriert, hat die die Preisexplosion auf diesem Markt zur Vertiefung der Kluft zwischen Arm
und Reich beigetragen. Während die Mittelschicht, bei der Immobilienbesitz traditionell einen größeren Teil
des Gesamtvermögens ausmacht, aufgrund der massiven Wertsteigerungen ebenfalls nicht unwesentliche
Vermögenszuwächse verzeichnete, ging die untere Hälfte der deutschen Vermögensverteilung mangels
Wohnungseigentums praktisch leer aus.
Während einige Unternehmerfamilien den Industriesektor und hyperreiche Finanzfürsten den Bankensektor
und das Kreditwesen, damit jedoch auch andere Teile der Volkswirtschaft beherrschten, besaßen 40 Prozent
der Bevölkerung laut DIW-Präsident Marcel Fratzscher kein nennenswertes Vermögen, auf das sie im Alter
oder im Krankheitsfall zurückgreifen konnten. Demnach lebten rund 33 Millionen Menschen gewissermaßen
von der Hand in den Mund, waren sie doch nur eine Kündigung, einen Unfall oder eine schwere Krankheit
von der Armut entfernt.
Es kommt nicht bloß auf die Quantität, sondern auch auf die Qualität des Vermögens an. Letztlich entscheidet
nämlich seine Struktur darüber, welche Handlungs- und Entscheidungsspielräume es dem Eigentümer
bietet. Denn selbst viel Bargeld, das dieser auf dem Dachboden versteckt, weil er den Banken misstraut,
verleiht ihm keine unmittelbare Macht über andere Menschen, wohingegen der Besitz von Unternehmen
oder Unternehmensanteilen (Aktien) dem Kapitaleigentümer ganz andere Möglichkeiten eröffnet. Ähnliches
gilt für das Privateigentum an vermieteten Immobilien sowie an Grund und Boden. Nur wenn zwischen
diesen Vermögensarten, vor allem jedoch zwischen Betriebs-, Grund-, Immobilien- und Geldvermögen
unterschieden wird, kann man die reale Vermögensverteilung innerhalb einer Gesellschaft beurteilen.
Ursachen der wachsenden Ungleichheit
Um die Wurzeln der sozioökonomischen Ungleichheit in Deutschland erfassen zu können, sollte man zwischen
deren originären Ursachen, die mit den Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnissen und Verteilungsmechanismen
der Gesellschaft zu tun haben, sowie den Gründen für die jüngste Verschärfung der
Ungleichheit, die auf weiteren (Fehl-)Entscheidungen von Parlamenten, Regierungen und Verwaltungen
beruht, unterscheiden. Außerdem spielen bei diesem Polarisierungsprozess soziokulturelle, intellektuelle und
politisch-ideologische Rahmenbedingungen eine Rolle.
(Klassen-)Gesellschaften, deren Mitglieder sich durch ihr Verhältnis zum Privateigentum an Produktionsmitteln
voneinander unterscheiden, kennzeichnet sozioökonomische Ungleichheit. Wenn einer kleinen Minderheit
der Bevölkerung, wie das im kapitalistischen Wirtschaftssystem der Fall ist, die Unternehmen, Banken
und Versicherungen gehören, wohingegen eine große Mehrheit der Bevölkerung ihren Lebensunterhalt
durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft auf einem zum Teil schwierigen Markt sichern muss, kann von sozialer
Gleichheit natürlich keine Rede sein.
Der Soziologe Ulrich Beck sprach in seinem 1986 erschienenen Buch „Risikogesellschaft“ von einem sozialen
„Fahrstuhl-Effekt“, der während des westdeutschen „Wirtschaftswunders“ alle Klassen und Schichten
gemeinsam „eine Etage höher gefahren“ und sie nach der Weltwirtschaftskrise 1974/75 gemeinsam nach
unten befördert habe. Sowenig alle Gesellschaftsmitglieder, unabhängig von ihrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit,
„im selben Boot“ sitzen, sowenig benutzen sie jedoch einen gemeinsamen Fahrstuhl. Denn ihre
materiellen Interessen sind nicht gleichförmig, sondern unterschiedlich, zum Teil sogar gegensätzlich.
Die arbeitende und die (Kapital) besitzende Klasse haben zwar ihre Gestalt im Laufe der Zeit erheblich
verändert, sind also nicht mehr identisch mit dem Proletariat und der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts,
existieren jedoch modifiziert fort. Auch im digitalen Finanzmarktkapitalismus dominieren zwei Klassen,
deren Antagonismus die duale Sozialstruktur in Deutschland prägt. Diese basale Feststellung erklärt jedoch
weder, warum es zwischen einzelnen kapitalistischen Ländern immer schon große Unterschiede hinsichtlich
der Ungleichheit ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse gab, noch die weitere Auseinanderentwicklung
der meisten Gesellschaften im Zeitverlauf. Dafür waren im Wesentlichen drei Ursachenbündel maßgeblich:
die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Demontage des Sozialstaates und drittens eine unsoziale
Steuerpolitik.
Durch die vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 in seiner „Agenda 2010“
genannten Regierungserklärung als „gesellschaftliche Modernisierung“ bezeichnete Deregulierung des
Arbeitsmarktes ist ein breiter Niedriglohnsektor entstanden, der zwischen 20 und 25 Prozent aller Beschäftigten
umfasst. Man kann von einer Refeudalisierung der Arbeitswelt (Lockerung des Kündigungsschutzes,
Liberalisierung der Leiharbeit, Erleichterung von Werk- und Honorarverträgen sowie Einführung prekärer
Beschäftigungsverhältnisse) sprechen. Die mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
drastisch verschärften Zumutbarkeitsregelungen und drakonischen Sanktionen der Jobcenter
setzten auch Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften unter enormen Druck. Unter dem Damoklesschwert
von Hartz IV akzeptierten diese schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere (Real-)Löhne, die
wiederum zu höheren Profiten bei den Unternehmen bzw. den Kapitaleigentümern führten.
Die rot-grüne Koalition ging von einer schrittweisen Reduzierung bestimmter staatlicher Transferleistungen,
wie sie die schwarz-gelbe Koalition von Bundeskanzler Helmut Kohl praktiziert hatte, zu einer umfassenden
Revision der Leistungen des Wohlfahrtsstaates und zu seiner Restrukturierung im Sinne eines „investiven“
bzw. „aktivierenden Sozialstaates“ über. Das als „Hartz IV“ bekannte Gesetzespaket schaffte mit der Arbeitslosenhilfe
zum ersten Mal seit 1945 eine den Lebensstandard von Millionen Erwerbslosen (noch halbwegs)
sichernde Lohnersatzleistung ab. An deren Stelle trat mit dem Arbeitslosengeld II eine höchstens noch
das soziokulturelle Existenzminimum sichernde Fürsorgeleistung, die als Lohnergänzungsleistung im Sinne
eines „Kombilohns“ gedacht war und eigentlich „Sozialhilfe II“ hätte heißen müssen. Dies war der harte,
materielle Kern von Hartz IV, den auch die Bürgergeld-Reform der Ampel-Koalition nicht antastete.
Schließlich sorgte eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip dafür, dass Reiche noch reicher und Arme
noch ärmer wurden, heißt es im Buch dieses Evangelisten doch sinngemäß: „Wer hat, dem wird gegeben,
und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen.“ Spitzenverdiener und Hochvermögende wurden
immer weniger nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit besteuert, Geringverdiener/innen und Transferleistungsbezieher/
innen dafür umso stärker zur Kasse gebeten. In den vergangenen Jahrzehnten wurden alle
Kapital- und Gewinnsteuern entweder abgeschafft wie die Gewerbekapital- und die Börsenumsatzsteuer,
einfach nicht mehr erhoben wie die Vermögensteuer seit 1997, obwohl sie noch im Grundgesetz (Art. 106
GG) steht, oder drastisch gesenkt wie der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer (von 53 Prozent unter
dem Bundeskanzler Helmut Kohl auf 42 Prozent heute bzw. 45 Prozent als sog. Reichensteuer für ganz
wenige Hocheinkommensbezieher), die Kapitalertragsteuer auf Zinsen und Dividenden (von 53 Prozent
unter Helmut Kohl auf 25 Prozent) und die Körperschaftsteuer (von 45 bzw. 30 Prozent unter Helmut Kohl,
je nachdem, ob die Gewinne ausgeschüttet oder einbehalten wurden, auf 15 Prozent). Dagegen erhöhte die
erste Große Koalition unter Angela Merkel mit der Mehrwertsteuer ausgerechnet jene Steuerart, welche die
Armen besonders hart trifft, weil sie ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken und weil sie in
jedem Geschäft denselben Steuersatz zahlen müssen wie die Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen,
zum 1. Januar 2007 von 16 auf 19 Prozent.
Die neue Armut: Pandemie, Energiepreisexplosion und Inflation
Seit dem Frühjahr 2020 haben sich die Lebensbedingungen von Millionen Menschen in Deutschland zum
Teil drastisch verschlechtert, weil sich die Krisenphänomene häuften und verschärften. Mit der Covid-19-
Pandemie und dem ersten bundesweiten Lockdown setzten inflationäre Tendenzen ein, die sich mit dem
Ukrainekrieg und den westlichen Sanktionen gegenüber Russland als Reaktion darauf verschärften. Einerseits
deckten diese Entwicklungsprozesse seit Langem bestehende Missstände, soziale Ungleichheiten und
politische Versäumnisse auf. Andererseits verschärften die Pandemie selbst, die letztlich von den staatlichen
Infektionsschutzmaßnahmen (zweimaliger bundesweiter Lockdown, Kontaktverbote sowie Einreise- und
Ausgangsbeschränkungen) mit ausgelöste Rezession und die stark auf Wirtschaftsunternehmen bzw. ihre
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zugeschnittenen Hilfspakete, „Rettungsschirme“ und Finanzhilfen
die sozioökonomische Ungleichheit weiter.
Während des pandemischen Ausnahmezustandes wurde klarer als je zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg
erkennbar, dass trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards des Landes im Weltmaßstab
sowie entgegen allen Beteuerungen der politisch Verantwortlichen, die Bundesrepublik sei eine „klassenlose“
Gesellschaft mit einem gesicherten Wohlstand all ihrer Mitglieder, eine Mehrheit der Bevölkerung nicht
einmal wenige Wochen lang ohne ihre ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt. Da selbst nach einer
zweijährigen Diskussion kein Minimalkonsens über den Umgang mit SARS-CoV-2 herstellbar war, spitzten
sichuch die weltanschaulichen Gegensätze und die (partei)politischen Konflikte in der eher als harmoniesüchtig
geltenden Bundesrepublik stark zu.
Die herrschenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen bewirkten,
dass SARS-CoV-2 und Covid-19 den ohnehin bestehenden Trend zur sozioökonomischen Polarisierung
unterstützen. Die schwere wirtschaftliche Verwerfungen erzeugende Pandemie ließ das Kardinalproblem der
Bundesrepublik, die wachsende Ungleichheit, nicht bloß stärker ins öffentliche Bewusstsein treten, sondern
wirkte auch als Katalysator des Polarisierungsprozesses, der dazu beitrug, sie weiter zu verschärfen. Wenn
man so will, glich die Coronakrise einem Paternoster, der materiell Privilegierte nach oben und Unterprivilegierte
zur selben Zeit nach unten beförderte. In entgegengesetzte Richtungen bewegen sich auch die verschiedenen
Klassen und Schichten, was dem gesellschaftlichen Zusammenhalt schadet und eine Gefahr für
die Demokratie darstellt.
Von den immensen Preissteigerungen betroffen sind hauptsächlich einkommensarme und armutsgefährdete
Personengruppen, weil ihnen im Unterschied zu wohlhabenden Bevölkerungskreisen finanzielle Rücklagen
fehlen. Lebensmitteltafeln, Pfandleihhäuser und Schuldnerberatungsstellen sind dem Ansturm kaum noch
gewachsen. Längst breitet sich die Angst vor einem sozialen Abstieg oder Absturz auch in weiten Teilen der
Mittelschicht aus.
Aufgrund der Energiepreisexplosion und anhaltender Mietsteigerungen dürfte die Zahl der Wohnungskündigungen,
Räumungsklagen und Zwangsräumungen erheblich zunehmen. Steigen wird daher vermutlich auch
die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen, welche man für das Jahr 2020 schon auf 45.000 geschätzt hat.
Falls relative Armut verstärkt in absolute, existenzielle oder extreme Armut umschlägt, werden Not und
Elend deutlicher im Stadtbild sichtbar. Dazu heute gehören schon heute Bettler/innen, Flaschensammler/
innen und Verkäufer/innen von Straßenzeitungen.
Gleichzeitig wächst die statistisch nicht erfasste und auch nur schwer erfassbare, weil eher verborgene
Armut solcher Menschen, deren Einkommen nominal zwar über der Armutsrisikoschwelle liegt, real wegen
steigender Ausgaben aber nicht mehr ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Energiearmut, von
der man spricht, wenn die Kosten für Haushaltsenergie mehr als 10 Prozent des Nettoeinkommens verschlingen,
kann zur neuen Normalität werden. Zu befürchten ist, dass sich Wohn-, Energie- und Ernährungsarmut
zu der sozialen Frage schlechthin entwickeln.
Während die meisten Arbeitnehmer/innen seit Jahren schmerzhafte Reallohnverluste erleiden, die sich durch
auch für die Arbeitgeber steuer- und sozialabgabenfreie, als „Inflationsausgleichsprämie“ bezeichnete Einmalzahlungen
nicht im Mindesten ausgleichen lassen, gibt es gerade bei großen Unternehmen eine Inflation
der Gewinne, die zum Teil auf Mitnahmeeffekten beruht. DAX-Konzerne schütten Dividende in bisher nicht
gekannter Höhe an ihre Aktionäre aus, auf die Letztere nur 25 Prozent Kapitalertragsteuer entrichten müssen.
Somit wächst die sozioökonomische Ungleichheit und vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich
immer weiter.
Was zu tun ist: Ungleichheit bekämpfen, Armut beseitigen und Reichtum begrenzen!
Durch den geltenden Mindestlohn von 12 Euro brutto pro Stunde wird höchstens eine weitere Lohnspreizung
verhindert und der Niedriglohnsektor zwar nach unten abgedichtet, aber nicht eingedämmt oder gar
abgeschafft, was nötig wäre, um Armut und soziale Ausgrenzung wirksam zu bekämpfen. Nur ein Mindestlohn
in existenzsichernder Höhe, die Streichung sämtlicher (besonders vulnerable Gruppen wie Langzeitarbeitslose,
Jugendliche ohne Berufsabschluss und Kurzzeitpraktikanten treffender) Ausnahmen sowie eine
flächendeckende Überwachung durch die zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls könnten
bewirken, dass der Mindestlohn überall ankommt. Damit er seine Wirkung als Instrument zur Armutsbekämpfung
entfalten kann, sollte der Mindest- nach angloamerikanischem Vorbild zu einem „Lebenslohn“
(living wage) weiterentwickelt werden, der nicht bloß die Existenz, sondern auch die Teilnahme am gesell10
schaftlichen, kulturellen und politischen Leben ermöglicht. Dies hieße, dass der gesetzliche Mindestlohn auf
deutlich mehr als 12 Euro steigen müsste.
Zu den für eine Reregulierung des Arbeitsmarktes nötigen Maßnahmen gehört die Stärkung der Tarifbindung.
Das zuständige Bundesarbeitsministerium sollte Tarifverträge auch dann für allgemeinverbindlich
erklären können, wenn die Arbeitgeberseite damit nicht einverstanden ist. Mini- und Midijobs müssen in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt, sachgrundlose Befristungen ausgeschlossen
und Leiharbeitsverhältnisse entweder ganz verboten oder wieder stärker reguliert werden.
Eine konsequente Beschäftigungspolitik würde nicht bloß die Erwerbslosigkeit verringern, sondern auch der
sozialen Ungleichheit nachhaltig entgegenwirken. Sie müsste von einer Umverteilung der Arbeit durch den
Abbau von Überstunden und die Verkürzung der Wochen- wie der Lebensarbeitszeit über (kreditfinanzierte)
Zukunftsinvestitionsprogramme des Bundes und der Länder bis zur Schaffung eines öffentlich geförderten
Dienstleistungssektors alle Möglichkeiten der staatlichen Interventionstätigkeit für die Schaffung von mehr
Stellen nutzen.
Statt eines „Um-“ bzw. Ab- oder Rückbaus des Wohlfahrtsstaates wäre ein Ausbau des bestehenden Systems
zu einer Sozialversicherung für alle Bewohner/innen nötig. Dabei geht es im Unterschied zu einem bedingungslosen
Grundeinkommen, das die sozioökonomische Ungleichheit womöglich noch verschärfen würde,
nicht um einen Systemwechsel, sondern um eine Weiterentwicklung des bestehenden Sozialsystems, verbunden
mit innovativen Lösungen für Problemlagen, die aus den sich stark wandelnden Arbeits- und Lebensbedingungen
resultieren.
An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss eine solidarische Bürgerversicherung treten. Bürgerversicherung
heißt, dass alle Personen aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig
sind oder nicht. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige,
Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt
in der Bundesrepublik außen vor. Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den
ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht bloß auf Löhne und
Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse)
wären Beiträge zu erheben. Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch
Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme
auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte (ganz oder teilweise) zu
entziehen. Hinsichtlich der Beitragsbemessungsgrenzen stünde zumindest eine deutliche Erhöhung an.
Umgekehrt müssen jene Personen finanziell aufgefangen werden, die den nach der Einkommenshöhe gestaffelten
Beitrag nicht entrichten können.
Damit die Bürgerversicherung auf der Finanzierungsseite wirken kann, muss eine bedarfsgerechte, armutsfeste
und repressionsfreie Grundsicherung, die ohne Sanktionen auskommt, auf der Leistungsseite das Risiko
von Armut, Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung angehen. Auf diese Weise würde soziale Sicherheit
bzw. Verteilungsgerechtigkeit zum konstitutiven Bestandteil einer neuen Form der Demokratie, die
mehr beinhaltet als den regelmäßigen Gang zur Wahlurne, das Funktionieren der Parlamente und die Existenz
einer unabhängigen Justiz.
Mit dem Bürgergeld wurde am 1. Januar 2023 jedoch kein neues oder gar neuartiges Grundsicherungssystem
etabliert, die Architektur des bestehenden Leistungssystems blieb vielmehr unangetastet. Hätte man dagegen
Hartz IV „hinter sich lassen“ wollen, wie SPD und Bündnisgrüne immer wieder beteuerten, müssten tiefgreifende
Änderungen erfolgen, darunter die Wiedereinführung einer Lohnersatzleistung wie der am 1. Januar
2005 abgeschafften Arbeitslosenhilfe, die Entschärfung der strengen Zumutbarkeitsregelungen (Zwang zur
Annahme jedes Jobs, sofern er nicht sittenwidrig ist) und die Abschaffung der Bedarfsgemeinschaft (Berücksichtigung
des Einkommens von mit den Anspruchsberechtigten weder verwandten noch ihnen gegenüber
unterhaltspflichtigen Personen bei der Leistungsbemessung).
Wer den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken will, muss mehr Steuergerechtigkeit verwirklichen. Dazu
sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine vor allem große Betriebsvermögen
stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progressiver
verlaufender Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen
Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer (Abschaffung der Abgeltungsteuer) nötig. Korrekturen der Sekundärverteilung
durch eine Anhebung des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer oder die Einführung einer
Millionärsteuer reichen allerdings längst nicht mehr aus, um die Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen.
Vielmehr sind auch tiefgreifende Strukturveränderungen nötig, damit sich die sozioökonomische Ungleichheit
nicht permanent reproduziert.
Einkommensstarke und besonders vermögende Menschen sollten mehr finanzielle Verantwortung für eine
soziale, humane und nachhaltige Gesellschaftsentwicklung übernehmen. Zu diesem Zweck könnte man den
1995 unbefristet eingeführten Solidaritätszuschlag für den Inflationsausgleich, die Energiewende und den
Klimaschutz umwidmen – und ihn zu verdoppeln. Aktuell beträgt er 5,5 Prozent der Einkommensteuerschuld.
Nur rund 10 Prozent der Bevölkerung bezahlen ihn noch und bloß Spitzenverdiener in voller Höhe,
denn es gibt einen Freibetrag von 17.543 Euro für Alleinstehende und 35.086 Euro für Paare – wohlgemerkt
nicht auf das zu versteuernde Einkommen, sondern auf die Steuerschuld. Für Singles mit einem zu versteuernden
Jahreseinkommen von 100.000 Euro, also einem Bruttomonatsverdienst von rund 10.000 Euro, wird
Einkommensteuer in Höhe von 32.027 Euro und ein Solidaritätszuschlag von 1.723,59 Euro fällig.
Für die besonders Vermögenden wäre nach dem Vorbild des Lastenausgleichs im Jahr 1952 eine zusätzliche
Abgabe denkbar, etwa in Höhe von 10 Prozent gestreckt auf fünf Jahre – also 2 Prozent pro Jahr. Herangezogen
würden Vermögen, die 1 Million Euro übersteigen. Analog zur Erbschaft- und Schenkungsteuer
könnte man für Ehe- bzw. Lebenspartner/innen einen Freibetrag von 500.000 Euro und pro Kind einen
Freibetrag von 400.000 Euro vorsehen. Zusammen mit den Freibeträgen für Partner/in und beispielsweise
zwei Kinder würde die Vermögensabgabe bei einer vierköpfigen Familie ab einem Vermögen von 2,3 Millionen
Euro greifen. Unberücksichtigt bliebe wie bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer das Familienheim
als selbstgenutztes Wohneigentum.
Damit ließen sich Mehrausgaben finanzieren, um alte Probleme wie Obdach- und Wohnungslosigkeit zu
bekämpfen, den öffentlichen Wohnungsbau wiederzubeleben, den Pflegenotstand zu beseitigen, der Kinderarmut
entgegenzuwirken und die Alterssicherung für Arbeitnehmer/innen wieder auf eine solide Finanzierungsgrundlage
zu stellen.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln
gelehrt. Zuletzt sind von ihm die Bücher „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische
Ungleichheit in Deutschland“, „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“, „Kinder der Ungleichheit. Wie
sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ und „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“
erschienen.