Dass es einen Zusammenhang zwischen seelischen Erkrankungen und Wohnungslosigkeit gibt, ist
in der psychiatrischen Forschung lange bekannt und intensiv untersucht. In einer Metaanalyse, die
39 Studien aus 11 Ländern umfasste, die von 1979 bis 2018 durchgeführt wurden und insgesamt
8049 Personen umfasste, konnte gezeigt werden, dass 76% der wohnungslosen Menschen in den
Studien eine Punktprävalenz einer seelischen Erkrankung aufwiesen. Dies bedeutete, dass die
seelische Erkrankung zum Untersuchungszeitpunkt der Studie vorlag. Lebenszeitprävalenzen bei
wohnungslosen Menschen wurden in verschiedenen Studien bei über 90% festgestellt. Demnach
ist davon auszugehen, dass vier von fünf wohnungslosen Menschen an einer
behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung in Deutschland und international leiden.
Hierbei zeigt sich, dass insbesondere die Häufigkeit von Substanzgebrauchsstörungen deutlich
erhöht ist. Diese liegt bei wohnungslosen Menschen, bezogen auf Alkoholgebrauchsstörungen, in
Deutschland bei 55,4% und liegt damit gegenüber der Allgemeinbevölkerung, bei der
Alkoholgebrauchsstörungen mit 2,5% angegeben werden, 22 Mal höher. Aber auch andere
behandlungsbedürftige seelische Erkrankungen, wie psychotische Störungen, welche mit 8,3%
und schwere Depressionen mit 11,6% in deutschen Populationen von wohnungslosen Menschen
festgestellt wurden liegen deutlich über der Punktprävalenz von psychotischen Störungen mit 1,5
und schweren seelischen Erkrankungen von 5,6 in der deutschen Allgemeinbevölkerung.
Internationale Studien, wie Arbeiten von North aus dem Jahr 1998, sowie die deutsche Seewolf-
Studie, konnten dabei belegen, dass zwischen 60% und 90% der seelischen Erkrankungen bereits
vor dem Auftreten der Wohnungslosigkeit bestanden. Dies weist darauf hin, dass die betroffenen
Personen möglicherweise nicht rechtzeitig psychiatrische Behandlungen erfahren hatten, oder im
Rahmen von psychiatrischen Behandlungen die Patienten nicht ausreichend erreicht wurden, so
dass es anschließend zu einer Verschlechterung der Lebenssituation kam, so dass die Personen
wohnungslos wurden. Als besonders vulnerable Subgruppen sind dabei Frauen zu nennen, hierbei
ist die Prävalenz seelischer Erkrankungen unter wohnungslosen Frauen höher als bei männlichen
wohnungslosen Personen und liegt mit 83,3% über der Prävalenz von Männern, die mit 76,6% in
einer deutschen Metaanalyse von Schreiter et al. beschrieben wird. Hierbei waren Frauen
besonders häufig von psychotischen Erkrankungen betroffen, so dass laut der Arbeit von Schreiter
et al. 23,10% der wohnungslosen Frauen eine psychotische Erkrankung aufwiesen. Insgesamt ist
zwar die Anzahl der Personen, die wohnungslos sind und weiblichen Geschlechts sind, geringer als
Personen mit männlichem Geschlecht, allerdings legen die aktuellen Daten nahe, dass die
weiblichen Personen häufiger und schwerer von seelischen Erkrankungen betroffen sind.
Ein bisher wenig untersuchter Faktor ist die Prävalenz von Spielsucht unter wohnungslosen
Menschen. In einer 2022 veröffentlichten Arbeit von Deutscher et al. konnte erstmalig gezeigt
werden, dass knapp 20% der wohnungslosen Menschen eine behandlungsbedürftige Spielsucht
aufweisen. Es ist davon auszugehen, dass Spielsucht vermutlich ein bisher unterschätzter Faktor
in der Literatur für die Entstehung von Wohnungslosigkeit ist.
Auch in der bisher größten deutschen Untersuchung zum Faktor „Wohnen“, in der „WOHINStudie“,
durchgeführt von Gutwinski und Schreiter an der Berliner Charité im Jahr 2016, zeigte
sich, dass in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus insbesondere Menschen mit
Substanzgebrauchsstörungen von Wohnungslosigkeit betroffen waren. Hierbei zeigte sich als
signifikanter Korrelationsfaktor, dass wohnungslose Menschen ein besonders junges
Erstbehandlungsalter der seelischen Erkrankung angaben, was häufig mit einem jungen
Ersterkrankungsalter korreliert. Ein junges Ersterkrankungsalter ist für die meisten seelischen
Störungen, wie psychotischen Störungen und Depressionen, zudem ein Risikofaktor für einen
schwereren Erkrankungsverlauf. Weiterhin zeigte sich als relevanter Korrelationsfaktor, dass
wohnungslose psychiatrische Patienten in 25% keinen Schulabschluss aufwiesen. Die Zahl der
psychiatrischen Patienten ohne Schulabschluss, die aber eine feste Wohnform haben, betrug im
Gegensatz dazu 10%. In eine ähnliche Richtung weisen auch Studiendaten der Seewolf-Studien, so
dass anzunehmen ist, dass Personen, die die Schule abbrechen und nicht abschließen, eine
besondere Risikogruppe für die Entstehung von Wohnungslosigkeit sind. Als weiterer Faktor, der
in der Literatur bisher wenig untersucht wurde, weisen nationale und internationale Daten darauf
hin, dass Traumatisierung im Kindesalter eine relevante Rolle bei der Entstehung von
Wohnungslosigkeit spielen. In einer kanadischen Studie von Witt et al. konnte gezeigt werden,
dass Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, auf den vier Domänen des Childhood
Trauma Questionnaire, nämlich im Bereich körperlichem Missbrauchs, sexuellem Missbrauchs,
körperlicher Vernachlässigung und emotionalem Missbrauch, jeweils 50% der wohnungslosen
Menschen angaben, im Kindesalter Traumatisierung erfahren zu haben. In der deutschen
Allgemeinbevölkerung liegen die Häufigkeiten von körperlichem und sexuellem Missbrauch, sowie
emotionalem Missbrauch, unter 10%, sowie die körperliche Vernachlässigung unter 30%. Dies
weist darauf hin, dass Traumatisierung im Kindesalter ein relevanter Faktor in der Entstehung von
Wohnungslosigkeit ist.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in Deutschland die Zahl der wohnungslosen
Menschen mit über 600.000 Personen trotz des Reichtums des Landes sehr hoch ist. Es zeigt sich,
dass Wohnungslosigkeit und psychiatrische Erkrankungen in hohem Maß miteinander korrelieren,
sogar laut internationaler Studien die Häufigkeit seelischer Erkrankungen bei wohnungslosen
Menschen insgesamt bei knapp 80% liegt, wobei Substanzgebrauchsstörungen, Depressionen und
psychotische Erkrankungen die häufigsten Störungen bei wohnungslosen Menschen sind. Hierbei
tritt die psychiatrische Erkrankung häufiger vor Beginn der seelischen Erkrankung auf, was darauf
hinweist, dass die betroffenen Personen entweder nicht rechtzeitig vom psychiatrischen
Hilfesystem erreicht werden oder, wenn in eine Behandlung gefunden haben, in der Behandlung
der Faktor Wohnen nicht ausreichend berücksichtigt wird, so dass eine Lebenssituation entsteht,
aus der die Wohnungslosigkeit resultiert.
Als besondere Risikofaktoren für die Entstehung von Wohnungslosigkeit sind ein junges
Ersterkrankungsalter, ein fehlender Schulabschluss, eine Substanzgebrauchsstörungen, sowie ein
männliches Geschlecht zu nennen.
Der Fokus zukünftiger psychiatrischer Behandlungen sollte zudem darauf liegen, dass die
Eingangsschwelle für psychiatrische Patienten, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind,
insbesondere im Bereich von Substanzgebrauchsstörungen niedriger gelegt wird (z.B. Verzicht auf
Wartelisten), so dass betroffene Personen leichter ins psychiatrische Hilfesystem gelangen
können. Weiterhin sollte bei psychiatrischen Entlassungen aus dem Krankenhaus, bei jungen
ersterkrankten Personen mit Suchterkrankungen ein besonderer Wert darauf gelegt, dass diese
Personen in stabile Wohnformen entlassen werden.