Symposium 2023 - Abstracts und Vorträge

Begrüßung

DR. HERIBERT WAIDER, Düsseldorf
Rechtsanwalt, Vorstand Deutsche Strafverteidiger e. V.

Sehr geehrte Referenten,
sehr geehrte Teilnehmer!

Ich begrüße Sie zum 50. Symposium in Maria Laach im Namen des Deutsche Strafverteidiger e. V. sehr herzlich. Der relativ kleine Kreis der Teilnehmer, in dem wir uns in diesem Jahr zusammengefunden haben, erinnert an die Anfangsjahre der Symposien. Von einigen der Teilnehmer der ersten Jahre wurde mir als ich Referendar war berichtet, dass man sich sogar eher in Seminarstärke getroffen hat.

Wir haben uns in Zusammenarbeit mit dem Institut für Konfliktforschung für die Thematik „Armuts-Zeugnisse – Prekäre Verhältnisse in Justiz und Psychiatrie“ entschieden. Denn Armut wird in den vergangenen Jahren zunehmend in unterschiedlichsten Kontexten erörtert.

Was versteht man unter Armut und was beinhalten Armuts-Zeugnisse? Die Antworten auf diese Fragen hängen sicherlich von den unterschiedlichen Lebensbereichen, zeitlichem Kontext sowie politischen und sozialen Perspektiven ab. Daneben wird die Ortswahl eine erhebliche Bedeutung gewinnen, bedenkt man die Millionen hungernden Menschen weltweit.

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Zieht man den Armutsbericht des Wohlfahrtsverbands für 2022 zu Rate, wächst die Armut in Deutschland weiter. Hierzu haben in jüngerer Vergangenheit Corona-Pandemie, Inflation und Energiepreissteigerung wesentlich beigetragen (vgl. https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/neuer-armutsbericht-nrw-100.html, zuletzt abgerufen 12. April 2023). Zeichnen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes über den jährlichen Mikrozensus ein realistisches Bild bezüglich der Verhältnisse in Deutschland? Hiernach dürften als “arm” die Menschen gelten, die als Alleinstehende über nicht mehr als 15.000 € im Jahr verfügen. Bei einer Familie mit zwei Kindern soll die Grenze bei 31.000 € im Jahr liegen. Wie dieses Zahlenverhältnis zueinander passt, erschließt sich mir nicht ohne weiteres. Aber es wird für unsere Auseinandersetzung mit „Armuts-Zeugnissen“ nicht der Blick auf das absolute Minimum zum Überleben im Mittelpunkt stehen, sondern es wird viel mehr um Teilhabe am materiellen, kulturellen und sozialen Leben gehen oder besser ausgedrückt darum, wie weit der „Arme“ hiervon entfernt ist und was dies für Auswirkungen auf sein Leben insbesondere beim Kontakt mit der Justiz und der Psychiatrie zeitigt.

Der von der Bundesregierung im Auftrag des Deutschen Bundestages in jeder Legislaturperiode seit 2001 erstellte nationale Armuts- und Reichtumsbericht benennt aufgeteilt unter dem Label „Gesellschaft“, „Armut“ und „Reichtum“ verschiedene Indikatoren die Armut oder Reichtum begründen. Die Indikatoren werden im Interesse einer Versachlichung der Diskussion gewählt, weil die Begriffe Armut wie Reichtum sich aufgrund ihrer Vielschichtigkeit einer allgemein gültigen Definition entziehen. So wird Armutsbetroffenheit aktuell zum Beispiel durch Umstände wie Langzeitarbeitslosigkeit, Überschuldung sowie früher Schulabgang und Wohnungslosigkeit, stark beeinflusst. Die Lage Reichtum verstanden als Wohlhabenheit wird durch Einkommens- und Vermögensreichtum sowie materielle Übertragungen durch Erbschaften und Schenkungen begründet. Als Gesellschaftsindikatoren werden beispielsweise subjektiver Gesundheitszustand, Bildungsniveau, privates Wohnungseigentum, politisches Interesse und soziale Kontakte beleuchtet (vgl. https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Service/Meldungen/einfuehrung-in-arb.html, zuletzt abgerufen 12. April 2023).

Der Armuts- und Reichtumsbericht berücksichtigt straffällig gewordene Menschen nur im Be-reich Wohnen. Im Übrigen bleiben sie unberücksichtigt. Auffallend ist, dass straffällig gewordene Menschen im Bereich Bildung auch nicht erwähnt werden. Dabei dürfte es bekannt sein, dass im Justizvollzug Menschen ohne Schul- und Ausbildungsabschluss bzw. mit Niederlevel-Abschluss überrepräsentiert sind. Eine systematische Darstellung der Armutsbetroffenheit von Menschen mit psychischen Störungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen findet sich im Armuts- und Reichtumsbericht nicht. Damit fehlt auch beispielsweise jeder Hinweis darauf, welche Rolle ökonomische Bedingungen bei der Entstehung oder dem Fortbestand psychischer Krankheiten spielen und wodurch diesbezügliche Erkrankungsrisiken minimiert werden können (vgl. Stellungnahme der Diakonie Deutschland zum 6. Armuts- und Reichtumsbericht, S. 19). Vielleicht schaffen wir es mit diesem Symposium, solche Fragestellungen voranzubringen.

Begibt man sich auf die Suche nach Vorschlägen dazu und Bemühungen darum, wie die Lage „Armut“ eingedämmt werden könnte, stößt man schnell auf den Koalitionsvertrag. Der Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UND FDP arbeitet an verschiedenen Stellen mit dem Begriff „Armut“: „…mehr Kinder aus der Armut holen.“ (S. 5), „…ein vorsorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem, welches die Chancen biotechnologischer und medizinischer Verfahren nutzt, und das altersabhängige Erkrankungen sowie seltene oder armutsbedingte Krankheiten bekämpft.“ (S. 16), „…angemessene armutsfeste Mindestlöhne zur Stärkung des Tarifsystems.“ (S. 55), „… Bei der Erstellung des 7. Armuts- und Reichtumsberichts richten wir auch einen Fokus auf verdeckte Armut und beziehen Menschen mit Armutserfahrung stärker ein.“ (S. 61) oder „… Bekämpfung von armutsassoziierten und vernachlässigten Tropenkrankheiten intensivieren.“ (S. 120). In Bezug auf das Strafjustizsystem wird das Thema allenfalls gestreift, wenn man die Formulierung „Wir stellen die Verteidigung der Beschuldigten mit Beginn der ersten Vernehmung sicher.“ (vgl. Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nach¬haltigkeit. Koalitionsvertrag [2021 – 2025] zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UND FDP, S. 85]) extensiv auslegt.

So benennt der Koalitionsvertrag expliziet das strafrechtliche Sanktionensystem einschließlich der Ersatzfreiheitsstrafen, das mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung überarbeitet werden soll (S. 84). So sollen im Fall einer nicht bezahlten Geldstrafe pro zwei verhängten Tagessätzen nur noch ein Tag Freiheitsstrafe vollstreckt werden, anstatt im Verhältnis von eins zu eins. Nach der Begründung zu dem Gesetzesentwurf aus Dezember 2022 bringe der Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe “in der Regel keinen Beitrag zur Resozialisierung der Betroffenen” ( https://www.bmj.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/1221_Gesetz_Ueberarbeitung_Sanktionenrecht.html, zuletzt abgerufen am 12. April 2023).
Damit wird eine seit langer Zeit schwelende Diskussion aufgegriffen (vgl. Radtke, Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen?, ZRP 2018, S. 58), die neben der Frage nach der Resozialisierung durch Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe auch den Gedanken der ultima ratio des Strafrechts und schuldstrafrechtlich begründete Bedenken gegen den Umrechnungsmaßstab des § 43 S. 2. StGB (vgl. Radtke, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2020, § 43 Rdnr. 2) zum Gegenstand haben. Während diejenigen, die unter das Label „reich“ fallen, die Geldstrafe schon über eine gediegene Tagessatzhöhe aushandeln können, ist dies bei Armut nicht der Fall. Nicht umsonst wird die Ersatzfreiheitsstrafe auch als „Zusatzstrafe für Armut“ (Guthke, Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen?, ZRP 2018, S. 58) bezeichnet. Helmut Pollähne wird uns über die kürzlich erfolgte Anhörung im Gesetzgebungsausschuss berichten.

Auf EU-Ebene ist die Armutslage schon lange bekannt und thematisiert: Mit der sogenannten Prozesskostenhilfe-Richtlinie der EU (Richtlinie (EU) 2016/1919) vom 26. Oktober 2016 für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Dabei geht auf das Jahr 2009 der sogenannte Fahrplan des Rates zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren zurück, der unter anderem eine schrittweise Herangehensweise zum Recht auf Übersetzungen und Dolmetscherleistungen, dem Recht auf Belehrung über die Rechte und Unterrichtung über die Beschuldigung und das Recht auf Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe vorsah.

Wie ist diese Rechtslage auf nationaler Ebene bei uns umgesetzt worden? Mit dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. BGBl 2019 Teil I Nr. 46 vom 12. Dezember 2019) ist die Umsetzung der PKH-Richtlinie „unter grundsätzlicher Beibehaltung des bewährten Systems der notwendigen Verteidigung“ (https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/ notwendige_ Verteidigung.html, zuletzt abgerufen am 12. April 2023) erfolgt. Dogmatisch gesehen geht die Richtlinie von einem in Europa auch in Strafverfahren weit verbreiteten System der Prozesskostenhilfe und einer grundsätzlichen Verzichtbarkeit des Rechts auf Zugang zum Rechtsbeistand aus. Zur Umsetzung der Richtlinie bedurfte es nach Auffassung der damaligen Bundesregierung keines reinen Prozesskostenhilfesystems. Die Richtlinie war auch innerhalb des bestehenden Systems der notwendigen Verteidigung vollständig umsetzbar, so jedenfalls die damalige Meinung. Indem unabhängig von dessen finanzieller Leistungsfähigkeit sowie auch gegebenenfalls unabhängig von dessen Willen jedem unverteidigten Beschuldigten ein (zunächst) staatlich finanzierter Pflichtverteidiger beigeordnet wird, soweit dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist, sollte der Schutz des Beschuldigten und die bessere Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sichergestellt werden. Für die internationale Rechtshilfe in Strafsachenden wurde als funktionales Äquivalent der Prozesskostenhilfe die notwendige Rechtsbeistandschaft eingeführt (vgl. ebenda). Anpassungsbedarf bestand schon deswegen, weil nach der PKH-Richtlinie bereits dann dem Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen ist, sobald er im Anwendungsbereich der Richtlinie zur Entscheidung über Haft oder Unterbringung dem Gericht vorgeführt werden soll (vgl. Jahn, in LR(StPO), 27. Aufl. 2012, § 140 Rdnr. 30). Wie die aufgrund der Prozesskostenhilfe-Richtlinie geänderte staatliche Finanzierung von Strafverteidigung in Deutschland zukünftig aussehen dürfte, wird uns Frau Kollegin Dr. Zink mit ihrem Beitrag morgen erläutern.

Die Symposien in den zurückliegenden Jahren haben sich nur beiläufig mit „Pflichtverteidigung“ beschäftigt, obwohl hiermit das verfassungsrechtlich und in Art. 6 Abs. 3 c EMRK verbürgte Recht des Beschuldigten verdichtet wird, sich in jeder Lage des Verfahrens eines Verteidigers zu bedienen. Zu nennen ist hierbei vor allem der Beitrag von Frau Kollegin Ursula Knecht auf dem Symposium im Jahr 2012, welches unter dem Tagungsthema „Heilung erzwingen?“ stand. Ihr Beitrag „Zur Interpretation der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 2011 aus Verteidigersicht“ (abgedruckt in Band 35 der Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, S. 63 ff.) arbeitet heraus, dass dem Richtervorbehalt bei einer Zwangsbehandlung die Beiordnung eines Rechtsanwalts von Amtswegen folgen muss. Gegenstand der Entscheidung (2 BvR 882/09) war die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines im Maßregelvollzug Untergebrachten gegen medizinische Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels, die zugrundeliegende Rheinlandpfälzische gesetzliche Regelung war verfassungswidrig.

Ich freue mich auf interessante Beiträge und eine spannende Diskussion und hoffe, dass wir einige Punkte unseres Gedankenaustauschs auf diesem Symposium mit in die tägliche Arbeit einbinden können.

PROF. DR NORBERT KONRAD, Berlin
Psychiater, Vorsitzender des Instituts für Konfliktforschung e. V.

Liebe Mitglieder und Freunde des Instituts für Konfliktforschung,
liebe Symposiumsteilnehmer/innen und Gäste,
zum 50. Symposium hier
ein herzliches Willkommen in Maria Laach!

Auch wenn unser Institut keine Forschung im engeren Sinne betreibt, tragen doch die – mit Ausnahme der Coronazeit – regelmäßig stattfindenden Symposien dazu bei, gesellschaftliche Konflikte auch im interdisziplinären, wissenschaftlichen Diskurs auszuloten. Anders als in den letzten Jahren haben wir dieses Jahr kein genuin psychiatrisch-psychologisches Thema wie etwa „Wahn“ oder „Therapie im Maßregelvollzug“ und auch kein genuin juristisches Thema wie etwa die Reform des Rechts der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB, der wir uns letztes Jahr gewidmet haben, oder bspw., was einmal einer näheren Betrachtung wert wäre, die Aktualisierung des JGG.

Das mag auch den anfangs eher stockenden Meldeprozess teilweise erklären, auch wenn unser Programm zahlreiche und aktuelle Facetten – sowohl psychowissenschaftlich als auch juristisch – zum Thema Armut darstellt, das durch die gesellschaftliche Entwicklung – Stichwort Corona/ Ukraine – noch mehr Bedeutung gewonnen hat.

Das hier letztendlich doch so viele Teilnehmer erschienen sind, freut mich; Sie haben die Qualität des Programms erkannt, das sich nicht nur prekären Verhältnissen, dem Wachstum der sozialen Ungleichheit, der Bestrafung von Armut und psychischem Elend, Systemsprengern, den Schattenseiten der sozialen Psychiatrie, sondern auch mit einer hoffentlich gelungenen Übertragung aus New York dem Armenrecht im Strafverfahren widmet.

Ich freue mich auf die Vorträge und insbesondere auch auf die Diskussionen und übergebe das Wort an unseren wissenschaftlichen Leiter Professor Helmut Pollähne.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

Einführung in das Tagungsthema

PROF. DR. IUR. HABIL.HELMUT POLLÄHNE, Bremen
Rechtsanwalt, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Konfliktforschung e. V.

Armuts-Zeugnisse
Prekäre Verhältnisse in Justiz und Psychiatrie

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Die Vorträge 2023

Die soziale Ungleichheit wächst – neue Armut, alte Probleme?

PROF. DR. CHRISTOPH BUTTERWEGGE, Köln
Hochschullehrer i. R., Humanwissenschaftliche Fakultät – Politikwissenschaft, Universität zu Köln

Die soziale Ungleichheit wächst – Neue Armut, alte Probleme?

Die wachsende Ungleichheit ist das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der Menschheit insgesamt. Denn sie führt zu ökonomischen Krisen, ökologischen Katastrophen, (Gewalt-)Kriminalität sowie Kriegen und Bürgerkriegen. Genauso wie die meisten Verbrechen hängen zwischenstaatliche Konflikte oft mit der Kluft zwischen Arm und Reich zusammen. Das gilt auch für den Ukraine-Konflikt, der sich nicht zuletzt auf die extreme Ungleichheit in beiden Ländern zurückführen lässt. Dort steht einem unvorstellbaren Reichtum weniger Oligarchen das Elend eines Großteils der Bevölkerung gegenüber. Obwohl sich vor allem das Finanz- und Betriebsvermögen hierzulande ebenfalls in wenigen Händen konzentriert, wird dieser Ausgangspunkt und Kristallisationskern der Ungleichheit noch immer weitgehend tabuisiert.

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Die relative Armut befindet sich auf Rekordniveau und absolute Armut gibt es auch in Deutschland

Differenziert wird zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits. Nach dieser sinnvollen Unterscheidung ist absolut, extrem oder existenziell arm, wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also nicht genug zu essen, kein sicheres Trinkwasser, keine den klimatischen Verhältnissen angemessene Kleidung, kein Obdach und/oder keine medizinische Grund-versorgung hat. Relativ arm ist hingegen, wer zwar seine Grundbedürfnisse befriedigen, sich aber vieles von dem nicht leisten kann, was für die allermeisten Gesellschaftsmitglieder als normal gilt, also beispielsweise nicht ab und zu ins Restaurant, ins Kino oder ins Theater gehen kann. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von mangelnder sozialer, kultureller und politischer Teilhabe.

Für manche Beobachter existiert „wirkliche“ Armut ausschließlich in Staaten wie Burkina Faso, Bangla-desch oder Mosambik, aber nicht in der Bundesrepublik. Während niemand bezweifelt, dass es im globalen Süden extreme Armut gibt, wird seit vielen Jahrzehnten mit Verve darüber gestritten, ob sie auch hierzulande grassiert. Für die politisch Verantwortlichen wirkt es natürlich beruhigend und sie selbst entlastend, wenn das Phänomen ausschließlich in Entwicklungsländern verortet wird. Realitätssinn beweist man aber nicht durch die Ignoranz gegenüber einem sozialen Problem, das in wirtschaftlichen Krisen, Katastrophen wie einer Pandemie und gesellschaftlichen Umbruchsituationen besonders krass zutage tritt.

Hierzulande manifestiert sich absolute Armut hauptsächlich in Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wohnungs-los sind Menschen, die weder über selbstgenutztes Wohneigentum noch über ein Mietverhältnis verfügen und deshalb in Notunterkünften leben oder bei Freund(inn)en und Bekannten unterschlüpfen. Obdachlos sind Menschen, die auf der Straße leben und auf Parkbänken nächtigen. Wohnungs- und Obdachlose, total verelendete Drogenabhängige, „Straßenkinder“, bei denen es sich meist um obdachlose Jugendliche handelt, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, EU-Ausländer/innen ohne Sozialleistungsansprüche und „Illegale“, die man besser als illegalisierte Migrant(inn)en bezeichnet, gehören zu den Hauptbetroffenen von absoluter, extremer bzw. existenzieller Armut.

Ein Gespenst geht um … Neue Klassenjustiz

PROF. DR. CHRISTINE GRAEBSCH, Dortmund
Hochschullehrerin für das Recht der Sozialen Arbeit, Fachhochschule Dortmund (ISFF)

i.V. PROF. DR. HELMUT POLLÄHNE, Bremen
Rechtsanwalt, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Konfliktforschung e. V.

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„Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“.
Anatol France

Bestrafung von Armut?

DR. NICOLE BÖGELEIN, Köln
Dipl.-Soziologin, Institut für Kriminologie der Universität zu Köln

Ersatzfreiheitsstrafe – Bestrafung von Armut?

Symposium Armuts-Zeugnisse | Prekäre Verhältnisse in Justiz und Psychiatrie,
Maria Laach am 22.04.2023

Regelmäßig werden in Deutschland 80 % der Strafen als Geldstrafen verhängt. Die Geldstrafe errechnet sich nach dem Tagessatzsystem und beträgt ein Dreißigstel des monatlichen Nettoeinkommens, zwischen 1 € und 30.000 € (§ 40 StGB). Geldstrafen werden durch die Staatsanwaltschaften – dort konkret durch Rechtspfleger:innen – vollstreckt. Wenn das Geld nicht eingeht, kann ein:e Gerichtsvollzieher:in eingesetzt werden. Ist die Geldstrafe uneinbringlich, so erfolgt die Ladung zur Ersatzfreiheitsstrafe (EFS). Dann verkehrt die Geldstrafe ihre Natur. Denn während die Geldstrafe unsichtbar bleibt, die Lebensführung nicht beeinträchtigt, Freund:innen und Familien i.d.R. nichts davon mitbekommen und sie kein soziales Stigma habt, verhält es sich bei der EFS anders. (Ersatz-)Freiheitsstrafen sind sichtbar (durch Entfernung aus sozialen Kontexten), man verliert seine Freiheit, das Umfeld bekommt das mit und ein Gefängnisaufenthalt ist hochgradig stigmatisierend.

Das Tagessatzsystem soll für alle gleich wirken, jedoch wird durch Einsatz der EFS dieses Prinzip umgangen. Zahlungsunfähigkeit führt in Haft. Befürwortende argumentieren, dass Armut nicht vor Strafe schützen dürfe. Kritiker:innen fragen, ob Geldstrafen für Gutverdienende tatsächlich eine Strafe sind, da sie aus Rücklagen bezahlt werden können. In der Schätzung der Tagessätze wird Armut oft nicht erkannt, zudem variieren die Tagessatzhöhen auch bei ALG-II Beziehender:innen erheblich (in der Untersuchung von Nagrecha/Bögelein 2019 zwischen 7-20 €). Zudem legen die Staatsanwaltschaften häufig in der Vollstreckung entstehende Verzögerungen als Mutwilligkeit aus.

Beim Übergang zur EFS zeigt sich der Einfluss von Armut. Die Wahrscheinlichkeit, in EFS zu tilgen, ist für Personen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein (§ 265 a StGB) verurteilt wurden, am höchs-ten: Jede:r Siebte tilgt in Haft. Hingegen gelangt nur jede 43. Person in EFS, die wegen Verstößen gegen die Abgabenordnung und Steuerdelikte verurteilt worden war. 1

Bei sog. »Reichtumsdelikten«, für die ein:e Täter:in über Zugang zu finanziellen Ressourcen verfügen muss, wird also be-zahlt, hingegen gelingt dies bei »Armutsdelikten«, die Personen ohne Geld verüben, nicht.

In EFS finden sich grob vier Gruppen: »persistent Straffällige mit Suchtproblematik«, »wenig auf-fällige Erstinhaftierte«, »Täter/innen mit Eigentumsdelikten und Suchtproblematik« und »wiederholt Schwarzfahrende«.

Oft wird behauptet, EFS seien lediglich Druckmittel und Gefangene würden bezahlen, sobald sie am Gefängnistor ankämen. Es besteht jedoch kein Wahlrecht zwischen EFS oder Zahlung. Wird die Vollstreckung konsequent durchgeführt (Einbezug von Gerichtsvollzieher:in), steht bei Haftantritt fest, dass kein Geld vorhanden ist. 68 % verbüßen die EFS voll (Bögelein et al. 2021; Geiter 2014).

Wieder ist der Zusammenhang von Delikt und Haftverkürzung überzufällig. Mehr Personen, die wegen eines Straßenverkehrsdelikts oder Betrugs verurteilt waren, konnten sich auslösen. Hingegen gelang dies Menschen, die wegen eines Eigentumsdeliktes inhaftiert waren, seltener. 2  Wegen Fahrens ohne Fahrscheins Inhaftierten gelang die Auslösung in höchstens 30 % der Fälle. 3

1 Bögelein, Ernst & Neubacher (2014a, S. 29).
Dr. Nicole Bögelein, Universität zu Köln
2 Bögelein, Graaff & Geisler (2021).
3 Geiter (2014). Laut Lobitz & Wirth (2018, S. 38) können sich rund 47 % „freikaufen“. Wie es zu diesem Un-terschied in den Daten kommt, ist nicht ersichtlich.

Literatur
Bögelein, N., Glaubitz, C., Neumann, M., & Kamieth, J. (2019). Bestandsaufnahme der Ersatzfreiheitsstrafe in Mecklenburg-Vorpommern. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 102, 282-296.
Bögelein, N., Graaff, A. & Geisler, M. (2021). Wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Verkürzung von Ersatzfreiheitsstrafen in der Justizvollzugsanstalt Köln. In: Forum Strafvollzug, 2, S. 59-64.
Geiter, H. (2014). Ersatzfreiheitsstrafe: Bitterste Vollstreckung der mildesten Hauptstrafe des StGB: Erfahrungen bei Haftreduzierungsaktivitäten im Strafvollzug. In Neubacher & Kubink (Hg.), Kriminologie-Jugendkriminal-recht-Strafvollzug. 559-578.

Bestrafung psychischen Elends?

PROF. DR. SEBASTIAN SCHILDBACH, Gais (CH)
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Leiter des Ambulatoriums Gais (Lehrpraxis FMH)

Ersatzfreiheitsstrafe: Bestrafung psychischen Elends ?

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Im ersten Teil des Vortrags legen wir den aktuellen Forschungsstand sowie daraus ableitend die Schwierigkeiten der Prognosestellung dar. Deutlich wird dabei, dass in den mittlerweile zahlreichen Studien zu diesem Thema jeweils kaum mehr als 25% der Varianz des Therapieergebnisses vorhergesagt werden konnten.Dies bedeutet, dass das Behandlungsergebnis zum Zeitpunkt der Verurteilung zu drei Vierteln nicht absehbar ist. Selbst eine Prognose, die eine Vielzahl bekannter Faktoren berücksichtigt, kann keine sichere Vorhersage des tatsächlichen Behandlungsverlaufs leisten. Gleichzeitig beschrieb der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Urteil aus dem Jahr 2021, dass selbst eine 50%ige Chance auf einen Therapieerfolg als zu vage für die Erfüllung der „hinreichend konkreten Aussicht“ sei. Nichtsdestotrotz – und ungeachtet weiterer Fallstricke, mit denen sich Sachverständige konfrontiert sehen (bspw. der Interdependenz zwischen Behandlungs- und Kriminalprognose) – ist aktuell geplant die Behandlungsprognose auch nach erfolgter Novelle des § 64 StGB als Eingangsvoraussetzung beizubehalten. Dies legt jedenfalls der Abschlussbericht einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe nahe, die kürzlich einen Reformentwurf vorlegte.

Der aus empirischer Sicht naheliegenden Konsequenz der Streichung der Behandlungsprognose wurde von den aktuellen Arbeitsgruppen zur Reform des § 64

StGB offensichtlich nicht als Idee in Betracht gezogen. Ihr wird oft mit verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, die in einem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus 1994 formuliert wurden. Im zweiten Teil dieses Vortrags soll daher ausführlich auf das angesprochene Urteil bzw. dessen Annahmen und Begründung eingegangen werden. Aus Sicht der Autoren lassen sich bei näherer Betrachtung diese verfassungsrechtlichen Bedenken allesamt ausräumen bzw. erscheinen mittlerweile unzeitgemäß.

Im Fazit wird dargelegt, warum die geplante Gesetzesnovelle des § 64 StGB durch eine Streichung der „Behandlungsprognose“ in Kombination mit den andernorts diskutierten Reformvorschlägen, wie einer klareren Definition des Hang-Begriffs sowie einer stärkeren Betonung der (Mit-)Ursächlichkeit der Suchtproblematik hinsichtlich der Delinquenzneigung, tatsächlich viele Probleme in Behandlungs-, Begutachtungs- und Rechtspraxis lösen oder zumindest substanziell abmildern könnte.

Wer sprengt hier die Systeme? – Wie Psychiatrie und Wohnungslosenhilfe „Systemsprenger“ produzieren

PROF. DR. VOLKER BUSCH-GEERTSEMA, Bremen
Projektleiter und Vorstand der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e. V.

 WIE PSYCHIATRIE UND WOHNUNGSLOSENHILFE „SYSTEMSPRENGERPRODUZIEREN

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Vagabunden und Landstreicher Oder: Wohnungslosigkeit und seelische Erkrankungen

DR. STEFAN GUTWINSKI, Berlin
Oberarzt, Leiter der AG Mental Health Care Research for Vulnerable Groups, Charité

Vagabunden und Landstreicher Oder: Wohnungslosigkeit und seelische Erkrankungen

Obwohl Deutschland eines der reichsten Länder der Welt ist, sind in Deutschland laut Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe etwa 678.000 Menschen wohnungslos. Hierbei umfasst der Begriff Wohnungslosigkeit nicht nur Menschen, die auf der Straße leben, sondern auch Menschen, die in provisorischen Wohneinrichtungen leben, wie beispielsweise Obdachlosenunterkünfte, U-Bahnhöfe oder Mehrbettzimmern in Flüchtlingsunterkünften. Die genaue Anzahl der Personen, die in Deutschland auf der Straße leben, ist bisher unbekannt. In der bisher einzigen Zählung von wohnungslosen Menschen in Deutschland – in der „Nacht der Solidarität“ – im Januar 2020 in Berlin betrug die Anzahl derer, die direkt auf der Straße lebenden Personen 807, wobei etwa 1200 weitere Personen in provisorischen Unterkünften in dieser Nacht, wie beispielsweise U-Bahnhöfen oder Notunterkünften, untergekommen waren. Begleitend zur „Nacht der Solidarität“ in Berlin erfolgte in dieser Nacht eine Zählung der wohnungslosen Menschen in psychiatrischen Kliniken in Berlin, bei der 13,8% der psychiatrischen Patienten als wohnungslos eingestuft wurden. Dies beinhaltete 311 Personen von 2248 in Berlin belegter psychiatrischer Betten und macht deutlich, dass die psychiatrischen Kliniken in Berlin einen relevanten Anteil in der Versorgung wohnungsloser Menschen leisten.

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Dass es einen Zusammenhang zwischen seelischen Erkrankungen und Wohnungslosigkeit gibt, ist
in der psychiatrischen Forschung lange bekannt und intensiv untersucht. In einer Metaanalyse, die
39 Studien aus 11 Ländern umfasste, die von 1979 bis 2018 durchgeführt wurden und insgesamt
8049 Personen umfasste, konnte gezeigt werden, dass 76% der wohnungslosen Menschen in den
Studien eine Punktprävalenz einer seelischen Erkrankung aufwiesen. Dies bedeutete, dass die
seelische Erkrankung zum Untersuchungszeitpunkt der Studie vorlag. Lebenszeitprävalenzen bei
wohnungslosen Menschen wurden in verschiedenen Studien bei über 90% festgestellt. Demnach
ist davon auszugehen, dass vier von fünf wohnungslosen Menschen an einer
behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung in Deutschland und international leiden.
Hierbei zeigt sich, dass insbesondere die Häufigkeit von Substanzgebrauchsstörungen deutlich
erhöht ist. Diese liegt bei wohnungslosen Menschen, bezogen auf Alkoholgebrauchsstörungen, in
Deutschland bei 55,4% und liegt damit gegenüber der Allgemeinbevölkerung, bei der
Alkoholgebrauchsstörungen mit 2,5% angegeben werden, 22 Mal höher. Aber auch andere
behandlungsbedürftige seelische Erkrankungen, wie psychotische Störungen, welche mit 8,3%
und schwere Depressionen mit 11,6% in deutschen Populationen von wohnungslosen Menschen
festgestellt wurden liegen deutlich über der Punktprävalenz von psychotischen Störungen mit 1,5
und schweren seelischen Erkrankungen von 5,6 in der deutschen Allgemeinbevölkerung.

Internationale Studien, wie Arbeiten von North aus dem Jahr 1998, sowie die deutsche Seewolf-
Studie, konnten dabei belegen, dass zwischen 60% und 90% der seelischen Erkrankungen bereits
vor dem Auftreten der Wohnungslosigkeit bestanden. Dies weist darauf hin, dass die betroffenen
Personen möglicherweise nicht rechtzeitig psychiatrische Behandlungen erfahren hatten, oder im
Rahmen von psychiatrischen Behandlungen die Patienten nicht ausreichend erreicht wurden, so
dass es anschließend zu einer Verschlechterung der Lebenssituation kam, so dass die Personen
wohnungslos wurden. Als besonders vulnerable Subgruppen sind dabei Frauen zu nennen, hierbei
ist die Prävalenz seelischer Erkrankungen unter wohnungslosen Frauen höher als bei männlichen
wohnungslosen Personen und liegt mit 83,3% über der Prävalenz von Männern, die mit 76,6% in
einer deutschen Metaanalyse von Schreiter et al. beschrieben wird. Hierbei waren Frauen
besonders häufig von psychotischen Erkrankungen betroffen, so dass laut der Arbeit von Schreiter
et al. 23,10% der wohnungslosen Frauen eine psychotische Erkrankung aufwiesen. Insgesamt ist
zwar die Anzahl der Personen, die wohnungslos sind und weiblichen Geschlechts sind, geringer als
Personen mit männlichem Geschlecht, allerdings legen die aktuellen Daten nahe, dass die
weiblichen Personen häufiger und schwerer von seelischen Erkrankungen betroffen sind.
Ein bisher wenig untersuchter Faktor ist die Prävalenz von Spielsucht unter wohnungslosen
Menschen. In einer 2022 veröffentlichten Arbeit von Deutscher et al. konnte erstmalig gezeigt
werden, dass knapp 20% der wohnungslosen Menschen eine behandlungsbedürftige Spielsucht
aufweisen. Es ist davon auszugehen, dass Spielsucht vermutlich ein bisher unterschätzter Faktor
in der Literatur für die Entstehung von Wohnungslosigkeit ist.

Auch in der bisher größten deutschen Untersuchung zum Faktor „Wohnen“, in der „WOHINStudie“,
durchgeführt von Gutwinski und Schreiter an der Berliner Charité im Jahr 2016, zeigte
sich, dass in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus insbesondere Menschen mit
Substanzgebrauchsstörungen von Wohnungslosigkeit betroffen waren. Hierbei zeigte sich als
signifikanter Korrelationsfaktor, dass wohnungslose Menschen ein besonders junges
Erstbehandlungsalter der seelischen Erkrankung angaben, was häufig mit einem jungen
Ersterkrankungsalter korreliert. Ein junges Ersterkrankungsalter ist für die meisten seelischen
Störungen, wie psychotischen Störungen und Depressionen, zudem ein Risikofaktor für einen
schwereren Erkrankungsverlauf. Weiterhin zeigte sich als relevanter Korrelationsfaktor, dass
wohnungslose psychiatrische Patienten in 25% keinen Schulabschluss aufwiesen. Die Zahl der
psychiatrischen Patienten ohne Schulabschluss, die aber eine feste Wohnform haben, betrug im
Gegensatz dazu 10%. In eine ähnliche Richtung weisen auch Studiendaten der Seewolf-Studien, so
dass anzunehmen ist, dass Personen, die die Schule abbrechen und nicht abschließen, eine
besondere Risikogruppe für die Entstehung von Wohnungslosigkeit sind. Als weiterer Faktor, der
in der Literatur bisher wenig untersucht wurde, weisen nationale und internationale Daten darauf
hin, dass Traumatisierung im Kindesalter eine relevante Rolle bei der Entstehung von
Wohnungslosigkeit spielen. In einer kanadischen Studie von Witt et al. konnte gezeigt werden,
dass Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, auf den vier Domänen des Childhood
Trauma Questionnaire, nämlich im Bereich körperlichem Missbrauchs, sexuellem Missbrauchs,
körperlicher Vernachlässigung und emotionalem Missbrauch, jeweils 50% der wohnungslosen
Menschen angaben, im Kindesalter Traumatisierung erfahren zu haben. In der deutschen
Allgemeinbevölkerung liegen die Häufigkeiten von körperlichem und sexuellem Missbrauch, sowie
emotionalem Missbrauch, unter 10%, sowie die körperliche Vernachlässigung unter 30%. Dies
weist darauf hin, dass Traumatisierung im Kindesalter ein relevanter Faktor in der Entstehung von
Wohnungslosigkeit ist.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in Deutschland die Zahl der wohnungslosen
Menschen mit über 600.000 Personen trotz des Reichtums des Landes sehr hoch ist. Es zeigt sich,
dass Wohnungslosigkeit und psychiatrische Erkrankungen in hohem Maß miteinander korrelieren,
sogar laut internationaler Studien die Häufigkeit seelischer Erkrankungen bei wohnungslosen
Menschen insgesamt bei knapp 80% liegt, wobei Substanzgebrauchsstörungen, Depressionen und
psychotische Erkrankungen die häufigsten Störungen bei wohnungslosen Menschen sind. Hierbei
tritt die psychiatrische Erkrankung häufiger vor Beginn der seelischen Erkrankung auf, was darauf
hinweist, dass die betroffenen Personen entweder nicht rechtzeitig vom psychiatrischen
Hilfesystem erreicht werden oder, wenn in eine Behandlung gefunden haben, in der Behandlung
der Faktor Wohnen nicht ausreichend berücksichtigt wird, so dass eine Lebenssituation entsteht,
aus der die Wohnungslosigkeit resultiert.

Als besondere Risikofaktoren für die Entstehung von Wohnungslosigkeit sind ein junges
Ersterkrankungsalter, ein fehlender Schulabschluss, eine Substanzgebrauchsstörungen, sowie ein
männliches Geschlecht zu nennen.

Der Fokus zukünftiger psychiatrischer Behandlungen sollte zudem darauf liegen, dass die
Eingangsschwelle für psychiatrische Patienten, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind,
insbesondere im Bereich von Substanzgebrauchsstörungen niedriger gelegt wird (z.B. Verzicht auf
Wartelisten), so dass betroffene Personen leichter ins psychiatrische Hilfesystem gelangen
können. Weiterhin sollte bei psychiatrischen Entlassungen aus dem Krankenhaus, bei jungen
ersterkrankten Personen mit Suchterkrankungen ein besonderer Wert darauf gelegt, dass diese
Personen in stabile Wohnformen entlassen werden.

Wie sozial ist die Soziale Psychiatrie?

PROF. DR. PETER BRIEGER, München
Ärztlicher Direktor, Kbo-Isar-Amper-Klinikum, Akademisches Lehrkrankenhaus der LMU

Wie sozial ist die Soziale Psychiatrie? – Zum Widerspruch von Gemeindepsychiatrie und Psychiatriegemeinde

Die Gemeindepsychiatrie hat die anfangs in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Die dort Betreuten bleiben abhängig von Einrichtungen und Therapeuten, sie kommunizieren und verkehren unter ihresgleichen und schaffen es selten oder nie, sich in „normale“ Biografien einzufügen. Das Leben bleibt blass, die Lebensqualität wird eingeschränkt nicht zuletzt durch finanzielle Restriktionen, innere und äußere Distanz zu der Gemeinschaft der Gesunden“.

„Armenrecht“ im Strafverfahren? – Über notwendige Verteidigung und Prozesskostenhilfe

DR. SARAH ZINK, Frankfurt a. M./New York
Rechtsanwältin; Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität

 „Armenrecht“ im Strafverfahren? Über notwendige Verteidigung und Prozesskostenhilfe 

Wenn der Titel meines Vortrags „Über notwendige Verteidigung und Prozesskostenhilfe“ lautet, ist das eigentlich nicht ganz richtig, jedenfalls dann nicht, wenn man unter „Prozesskostenhilfe“ ein Angebot staatlicher Finanzierung meint, das an Bedürftigkeitsgesichtspunkten ausgerichtet ist. Denn über ein solches verfügen wir im deutschen Strafverfahren nicht. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Möglichkeiten für eine bedürftige Beschuldigte auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gibt. Auf diese Möglichkeiten möchte ich zunächst eingehen und dabei auch herausarbeiten, ob und ggf. inwiefern die notwendige Verteidigung ein „Armenrecht“ darstellt. Eingehen möchte ich hier außerdem auf das Institut der Beratungshilfe. Anschließend möchte ich Statistiken dazu präsentieren, wie viele Beschuldigte unverteidigt vor Gericht stehen. Sodann soll der Einfluss durch die sog. Prozesskostenhilfe-Richtlinie2 aus der EU beleuchtet werden und dargestellt, ob bei dem System notwendiger Verteidigung nicht vielleicht doch von „Prozesskostenhilfe“, zumindest im Sinne der Richtlinie, gesprochen werden kann. Im Anschluss möchte ich auf die Kostentragungsverpflichtung im Verurteilungsfall eingehen und Möglichkeiten zur Einführung eines an Bedürftigkeit ausgerichteten Prozesskostenhilfemodells aufzeigen. 

Impressionen Symposium 2023