Symposium 2024 - Abstracts und Vorträge

Begrüßung

DR. HERIBERT WAIDER, Düsseldorf
Rechtsanwalt, Vorstand Deutsche Strafverteidiger e. V.

Ich begrüße Sie – sehr geehrte Referenten,
sehr geehrte Teilnehmer – zum 51. Symposium in Maria Laach im Namen des Deutsche Strafverteidiger e. V. sehr herzlich.

In Kooperation mit dem Institut für Konfliktforschung wollen wir uns an diesem Wochenende dem Thema nähern „Kinder und Jugendliche gefangen …zwischen Strafjustiz, Jugendhilfe und Psychiatrie: reife Leistungen?“. Aus der großen Bandbreite dessen, was Kinder und Jugendliche mit Strafjustiz, Jugendhilfe und Psychiatrie in Verbindung bringt, haben wir uns für dieses Symposium nur einige Fragestellungen herausgesucht. Lassen Sie mich kurz auf wenige Aspekte hinweisen.

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Das Thema der Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe beschäftigt uns schon sehr lange, es ist über 100 Jahre alt. Die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge hatte 1909 zum ersten Jugendgerichtstag nach Charlottenburg eingeladen. Hierauf folgten Jugendgerichtstage 1910 in München, 1912 in Frankfurt/Main und 1917 in Berlin, die sich schwerpunktmäßig mit den Grundthemen Strafe, Erziehung, Sühne und Besserung beschäftigten. Danach wurde der Jugendgerichtstag zu einer ständigen Einrichtung, die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. etablierte sich und konnte 2017 ihr 100jähriges Bestehen feiern.1

Mit dem Reichsjugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 1923 waren für die 14- bis unter 18-Jährigen als Sanktionsmittel Erziehungsmaßregeln vorgesehen. Nur wenn die Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen sollten, wurden Strafen verhangen, die gegenüber dem allgemeinen Strafrecht gemildert waren. Freiheitsstrafen gegen Erwachsene wurden getrennt von Jugendfreiheitsstrafen vollstreckt.

Bereits in der Zeit vor 1945 war die Konzeption des Jugendstrafrechts eng mit dem Namen Friedrich Schaffstein verknüpft.2 An seinem Werk lassen sich die Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts sowie die Entwicklungen des Jugendstrafrechts beispielhaft rekapitulieren.

Die Diskussion in den 1920er und 1930er Jahren wurde ähnlich geführt wie heute. So galt Schaffstein zunächst als einer der Kritiker der Strafrechtspraxis der Weimarer Republik, weil er sie als zu milde empfand. Sodann nahm er einen „neokonservativen Standpunkt“ ein, um sich dann, nur kurze Zeit später, für eine Strafrechtspraxis nach nationalsozialistischem Gedankengut auszusprechen. Dazu gehörte erstaunlicherweise auch, dass sich Schaffstein für ein selbständiges Jugendstrafrecht aussprach, weil er die Jugend als eine eigenständige Lebensphase ansah. Schaffsteins Anschauungen finden sich teilweise im Reichsjugendgerichtsgesetz vom 6. November 1943 wieder. Nach dessen § 4 hatte der Richter Jugendgefängnis zu verhängen, wenn das Bedürfnis der Volksgemeinschaft nach Schutz und Sühne wegen der Größe der Schuld und/oder wegen der schädlichen Neigung des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten waren, eine Strafe forderte.3 Die Jugendstrafe wurde gemäß § 5 in Jugendgefängnissen mit dem Ziel der Erziehung vollzogen.

Nach 1945 hat sich Schaffstein mit zahlreichen Reformvorschlägen für das Jugendstrafrecht von einigen in der Zeit davor eingenommenen Standpunkten verabschiedet und auch seine zeitweise Hinwendung zu nationalsozialistischem Gedankengut bedauert. Insbesondere galt er als einer der Verfechter eines eigenständigen Jugendstrafrechts, bei dem in erster Linie mit ambulanten Maßnahmen und nicht mit Freiheitsentzug auf von Jugendlichen begangenen Straftaten reagiert wird. Er galt ebenso als Verfechter einer spezifischen Auswahl für Richter und Staatsanwälte, die auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts tätig werden und formulierte auch die Forderung mit, dass sie über jugendkriminologische Entwicklung psychologische und sozialpädagogische Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen müssen, was allemal einschließt, dass sie Einblick in die Vollzugseinrichtungen genommen haben. Mit seiner so angelegten Forderung nach interdisziplinärer Betrachtungsweise der Jugendkriminalität ist er sicherlich ein typischer Vertreter seiner Zunft gewesen. Schaffstein wäre ebenso ein prädestenierter Referent für das diesjährige Symposium gewesen, wenn wir es mit dieser Themenausrichtung einige Jahre früher abgehalten hätten – jedenfalls mit Blick auf These und Antithese.

Dass es sich bei einem Rückblick auf die 100 Jahre währende Jugendgerichtsbewegung um eine reife Leistung gehandelt hat, wird uns sicherlich Prof. Dr. Kölbel heute erläutern.
Mit der Beschäftigung mit dem Thema „notwendige Verteidigung“ in Jugendstrafsachen greifen wir ein seit über 20 Jahren schwelendes Kapitel auf, welches sich im Wesentlichen um drei EU-Richtlinien dreht, die in der Praxis in Deutschland nur zögerlich umgesetzt werden. Die EU Richtlinie 2016/800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die verdächtigte oder beschuldigte Personen im Strafverfahren sind, geht auf das Grünbuch der Kommission „Verfahrensgarantie im Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union“ aus dem Jahre 2003 zurück. Hiermit wollte die EU gemeinsame Mindestgarantien im Strafverfahren umfassend geregelt wissen.4 Ausweislich der Erläuterung des Rates dient die EU RL 2016/800 dazu, ein faires Verfahren zu gewährleistenen, „das Verdächtigten oder Beschuldigten, die z. B. aufgrund ihres Alters, ihres geistigen oder ihres körperlichen Zustands nicht in der Lage sind, den Inhalt oder die Bedeutung des Verfahrens zu verstehen oder diesem zu folgen“, eine besondere Aufmerksamkeit zu Teil werden lässt.

Auf eine vollständige Umsetzung der Richtlinie im Praxisalltag wird man noch einige Zeit zu warten haben. Zwar ergänzt § 68 JGG die allgemeine Vorschrift über die notwendige Verteidigung des § 140 StPO, denn nach § 68 Nr. 1 JGG muss dem Beschuldigten auch über die Fälle des § 140 StPO hinaus, ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden, wenn dem Erziehungsberechtigten gemäß § 67 Abs. 4 JGG die Verfahrensrechte entzogen werden, wenn für die Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungszustand eine Unterbringung in einer Anstalt in Frage kommt und wenn gegen einen noch nicht 18-Jähigen Beschuldigten Untersuchungshaft oder einstweilige Unterbringung vollstreckt wird. Selbst wenn man berücksichtigt, dass beim Vorliegen der Beiordnungsgründe des § 140 StPO bei Jugendlichen wie Unfähigkeit der Selbstverteidigung und der Vorwurf eines Verbrechens, die Anforderungen aus der Richtlinie zwingen, einen Verteidiger zu bestellen, werden diese bisher nicht umgesetzt. Zum einen greift Art. 6 Abs. 4 c) EU RL 2016/800 die EU Richtlinie 2013/48 auf: „Die Mitgliedsstaaten stellen sicher, dass Kinder von einem Rechtsbeistand zumindest in den folgenden Ermittlungs-, oder Beweiserhebungshandlungen unterstützt werden, falls diese im nationalen Recht vorgesehen sind und falls die Anwesenheit eines Verteidigers oder der beschuldigten Person bei dem betreffende Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist: i) Identifizierungsgegenüberstellung; ii) Vernehmungsgegenüberstellung; iii) Tatortrekonstruktionen.“ So wird es von den Jugendgerichten noch immer nicht umgesetzt, dass Kinder Anspruch auf Unterstützung durch einen Rechtsanwalt nicht nur bei Freiheitsentzug haben, sondern in jeder Phase des Verfahrens, wenn Kinder im Anwendungsbereich dieser Richtlinie einem zuständigen Gericht zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt werden. Gleiches gilt für den Anspruch auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand bei Freiheitsentzug als Strafe, was den Zeitpunkt der Unterstützung durch einen Rechtsanwalt angeht. Es kann nach der Richtlinie nichts anderes bedeuten, als dass die notwendigen Verteidigungen im Jugendstrafverfahren auch zu einer „Verteidigung der ersten Stunde“ wird. Denn aufgrund Art. 6 Abs. 1 RL (EU) 2016/800 iVm Art. 3 Abs. 1 und 2 RL (EU) 2013/48) muss dem Beschuldigten im Jugendstrafverfahren „rechtzeitig“ bzw. „unverzüglich“ Zugang zu einem Rechtsanwalt ermöglicht werden.5
Mit § 68 JGG in seiner jetzigen Fassung wird das unionsrechtliche Konzept, welches den Zugang zu einem Verteidiger durch Anspruch auf Prozesskostenhilfe gem. Art. 4 RL (EU) 2016/1919 rechtstatsächlich ermöglicht, weil es wirtschaftlich realisiert werden kann, in das inländische Strafverfahrensrecht implementiert. In Ansehung der allgemeinen EU-Vorgaben wird zwar mittels direkter Bereitstellung anwaltlicher Unterstützung vom Grundsatz her ein Äquivalent zur Verfügung gestellt. Im Jugendstrafverfahren erscheint die Regelung auch EU-rechtskonform, weil sie gem. Art. 6 Abs. 2 RL 2016/800 kinderbezogene Vorgaben berücksichtigt, nach denen die „Unterstützung“ durch einen Rechtsanwalt staatlich – also ohne Tätigwerden des Beschuldigten – „sicherstellt“ wird. 6

Die damit von Art. 6 Abs. 6 RL 2016/800 abweichende Begrenzung der notwendigen Verteidigung im deutschen Jugendstrafrecht wird dadurch zu rechtfertigen versucht, dass die Bestellung eines Rechtsanwalts in den nicht eingeschlossenen Fällen unverhältnismäßig wäre, die Rechtsfolgeneingriffe von begrenzter Intensität sind und der Vorwurf nur von geringer Komplexität und/oder Schwere ist. Bedenklich ist das dabei zum Ausdruck kommende Regel/Ausnahme-Verhältnis: Die Konstellationen, die eine Beiordnung erfordern, werden als Ausnahme verstanden, wobei nach EU-Vorgabe die Beiordnung der Regelfall sein soll.7 Eine Abhängigkeit der Beiordnung von jugendstrafrechtsspezifischen Anlässen oder eine Anknüpfung an das allgemeine Strafverfahrensrecht setzen die EU RL demnach nicht vollständig um.

Und nicht zuletzt sollten wir bei allen rechtstheoretischen Überlegungen einen Blick auf die Rechtswirklichkeit nicht vergessen: Was nehmen wir an Jugend- und Heranwachsendendelinquenz wahr und wie verhalten sich hierzu die Entwicklungen der Fallzahlen? Täglich teilen uns die Massenmedien Botschaften mit, wie „Zwei 16-jährige in U-Haft: Kellner starb nach brutalem Raubüberfall“ oder „Obdachloser mit 70 Tritten getötet, Mordanklage gegen 15jährigen“. Ist es so wie vor 25 Jahren der damalige Ministerialrat aus dem Bundesjustizministerium Horst Viehmann 1999 in seinem Beitrag auf dem 3. Bundestreffen von Jugendrichtern, Jugendstaatsanwälten und Rechtsanwälten in Villingen-Schwenningen formulierte und sich vehement gegen Forderungen nach einem schärferen Jugendstrafrecht zur Wehr setzte: „Kriminalität wird mehr und mehr ein virtuelles Produkt von Journalisten“. Weil die Berichterstattung mit schrecklichen Szenarien arbeitet, erscheine es so, als dass es kein kriminalpolitisches Konzept gegen Jugendkriminalität gäbe. „Die Macht der Medien lässt die Leute glauben, dass schärfere Gesetze zu weniger Straftaten führen“.8

Speziell mit Jugendkriminalität hat sich noch kein Symposium in Maria Laach beschäftigt. Das VI. Symposium 1975, welches in Verbindung mit dem Bildungsforum Düsseldorf veranstaltet wurde, hatte „Kinderkriminalität“ zum Thema. Wir betreten insofern heute Neuland.

Ich freue mich auf rege Diskussionen und klugen Gedankenaustausch zwischen den beteiligten Berufsgruppen und das uns das Symposium damit Anregungen für unsere tägliche Arbeit bietet.

1 Vgl. Sonnen, Der Jubiläumsjugendgerichtstag 2017 – Blick zurück nach vorn, NK 2017, S. 262.
2 Vgl. Dölling, Friedrich Schaffstein, Ein Jugendstrafrechtswissenschaftler im Spannungsfeld der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Herein-, Heraus-, Heran-, Junge Menschen wachsen lassen, Dokumentation des 30. Deutschen Jugendgerichtstages, DVJJ (Hrsg.), S. 583.
3 Vgl. Dölling, a.a.O., S. 584 f.
4 Vgl. Sommerfeld, Die EU Richtlinie über Verfahrensgarantien im Strafverfahren für Kinder, die verdächtigte oder beschuldigte Personen im Strafverfahren sind, um ihre Umsetzung ins Deutsche Jugendstrafverfahrensrecht, in: Herein-, Heraus-, Heran-, Junge Menschen wachsen lassen, Dokumentation des 30. Deutschen Jugendgerichtstages, DVJJ (Hrsg.), S. 479.
5 Vgl. Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 25. Aufl. 2024, § 68 Rn. 23.
6 Vgl. Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 25. Aufl. 2024, § 68 Rn. 30.
7 Vgl. Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 25. Aufl. 2024, § 68 Rn. 31.
8 https://www.tagesspiegel.de/politik/bayern-mochte-die-gesetze-verscharfen-doch-das-bundesjustizministerium-will-an-bewahrtem-festhalten-618382.html, zuletzt abgerufen 05. April 2024.

PROF. DR NORBERT KONRAD, Berlin
Psychiater, Vorsitzender des Instituts für Konfliktforschung e. V.

Liebe Mitglieder und Freunde des Instituts für Konfliktforschung,
liebe SymposiumsteilnehmerInnen und Gäste, zum 51. Symposium hier ein herzliches Willkommen in Maria Laach! 

Ein Jugendlicher ist nach § 3 JGG strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Wie bei den Schuldfähigkeitsbestimmungen ist die Verantwortungsreife hinsichtlich einer bestimmten Tat festzustellen, also nicht im Sinne einer entwicklungspsychologisch zu definierenden Allgemeinverfassung. Analogien zu den §§ 20, 21 StGB ergeben sich auch bezüglich der Aufteilung der Bestimmung in psychische Merkmale (sittliche und geistige Reife) und normative Merkmale (Einsichts- und Steuerungsfähigkeit). Der normativen Entscheidung, die der Richter zu treffen hat, kommt bei dieser Bestimmung eher größere Bedeutung zu, weil eine empirisch begründete Beurteilung von „Reife“ noch schlechter zu treffen ist als die von „Krankheit“. Zu Recht bemerkt Eisenberg (2012), dass der Begriff dieser Reife einer soziokulturell abhängigen Konvention entspricht; er sei ideologiebefrachtet, am Idealfall orientiert und weder mess- noch berechenbar. 

Die vom Gesetzgeber festgelegte Altersgrenze ist willkürlich, der 14. Geburtstag markiert weder biologisch noch entwicklungspsychologisch den Eintritt in eine neue Lebensphase und auch nur noch selten in sozialer Hinsicht. Die europäischen Länder zeigen bei der Schwellenfestsetzung zur bedingten Strafmündigkeit aber eine große Varianz. 

Eigentlich bleiben für die Anwendung des § 3 JGG nur Fälle, bei denen eine Extremsituation eine altersgemäße Sozialisation unmöglich machte, also etwa eine langdauernde soziale Isolierung, die trotz normaler intellektueller Begabung eine ethisch-moralische Begriffsbildung verhinderte, wenn Erfahrungen sozialer Missbilligung bestimmter Verhaltensweisen aus dem Lebensumfeld ausblieben. 

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Ähnlich wie beim § 3 JGG waren forensische Psychologie und forensische Psychiatrie bemüht, Kriterien für die Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende gemäß § 105 JGG zu erarbeiten, auch wenn es für diese Anwendung weder eine klare Definition der sittlichen und geistigen Reife noch verlässliche Kriterien gibt.

Der erst 1953 in das Gesetz gekommene § 105 JGG konnte damals in besonderem Maße Fortschrittlichkeit für sich beanspruchen, da er der Erkenntnis Rechnung trug, dass viele Täter, die die 18-Jahre-Grenze bereits überschritten hatten, noch „unreif“ waren, und er einen differenzierteren Umgang mit ihnen ermöglichte.

Mehr als 80 Jahre Praxis mit der Bestimmung zeigt jedoch keine Sicherheit darüber, in welche Richtung die Differenzierung zu gehen hat: Bedeutet die Feststellung mangelhafter Reife, dass man alle Anstrengungen zu unternehmen hat, volle Reife herbeizuführen, um damit weitere Kriminalität zu verhindern, oder legt Kriminalität, die Ergebnis einer nicht altersbedingten Entwicklung ist, größte Zurückhaltung mit allen Maßnahmen nahe, um eine ohnehin zu erwartende Weiterentwicklung nicht zu stören? Die sich daraus ergebende weitere Frage ist, welche Konsequenzen für diejenigen Heranwachsenden zu ziehen sind, deren Entwicklung altersentsprechend ist: Gelten sie als stärker betreuungsbedürftig oder werden sie als bereits verfestigte Kriminelle abgeschrieben?

Regionale Vergleiche haben gezeigt, dass das unterschiedliche Verständnis eine stark variierende Anwendung des § 105 Abs. 1 JGG nach sich gezogen hat (Eisenberg 2012). Insgesamt besteht jedoch der Trend, die Bestimmung zunehmend häufiger anzuwenden: 1954, kurz nach Einführung des § 105 JGG, kam er in ca. 1/5 der infrage kommenden Fälle zur Anwendung, 2009 wurden 65,2 % der Heranwachsenden als Jugendliche verurteilt, wobei die Häufigkeit der Anwendung der Bestimmung mit der Schwere der Straftat zunahm.

Für die Anwendung des § 105 JGG wurden 1954 auf einer Arbeitstagung von Psychologen, Psychiatern und Juristen Kriterien vorgeschlagen, die als „Marburger Richtlinien“ bekannt geworden sind (Villinger 1955) und von Esser et al. (1991) für praktische Zwecke konkretisiert und operationalisiert wurden. Sie umfassen:

• Realistische Lebensplanung versus Leben im Augenblick (bezogen sowohl auf die Berufswahl als auch die Planung von Partnerschaft und/oder Familie)

• Eigenständigkeit gegenüber den Eltern versus starkes Anlehnungsbedürfnis und Hilflosigkeit

• Eigenständigkeit gegenüber der Peer-Gruppe und dem Partner versus starkes Anlehnungsbedürfnis und Hilflosigkeit

• Ernsthafte versus spielerische Einstellung gegenüber Arbeit und Schule

• Äußerer Eindruck

• Realistische Alltagsbewältigung versus Tagträumen, abenteuerliches Handeln, Hineinleben in selbstwerterhöhende Rollen

• Gleichaltrige versus jüngere Freunde

• Bindungsfähigkeit versus Oberflächlichkeit in den mitmenschlichen Beziehungen oder Bindungsschwäche

• Integration von Eros und Sexus

• Konsistente berechenbare Stimmungslage versus heftige Stimmungswechsel aus geringfügigem Anlass

Nach diesen Richtlinien ist ein Heranwachsender einem Jugendlichen gleichzustellen, wenn er u. a. folgende Züge vermissen lässt: Fähigkeit zu selbstständigem Urteilen und Entscheiden; Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu unterbauen; ernsthafte Einstellung zur Arbeit. Als charakteristisch jugendtümliche Züge werden u. a. genannt: ungenügende Ausformung der Persönlichkeit, naiv-vertrauensseliges Verhalten, Leben im Augenblick, spielerische Einstellung zur Arbeit, Hang zu abenteuerlichem Handeln.

Die „Marburger Richtlinien“ sind vielfältiger Kritik begegnet. Es bedarf kaum einer Erläuterung, dass die vorgeschlagenen Kriterien zum Teil einen weiten Definitions- und Interpretationsspielraum zulassen, zum Teil einer zeitgemäßen psychopathologischen Diagnostik entbehren (Häßler 2003). Die Begriffe sind zudem auch auf hochgradig gestörte Persönlichkeiten anwendbar, deren charakterliche Abweichung nicht als Entwicklungsrückstand aufzufassen ist. Bei der Begutachtung von Ausländern ist zu berücksichtigen, dass sozioökonomische und ethnisch-kulturelle Besonderheiten bestimmter Personengruppen keine ausreichende Berücksichtigung finden (Toker 1999).

Der Bundesgerichtshof hat schließlich darauf abgehoben, dass der § 105 JGG auf Persönlichkeiten ziele, in denen die „Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind“ (BGHSt 12, 116). Damit werden jedoch keine objektiven Kriterien angeboten, ebenso wenig wie mit Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Hemmungsvermögen (BGH Beschl. v. 25.09.2007 – 5 StR 375/07). Es bleibt letztlich dem Ermessen überlassen, wofür man sich entscheidet.

Der § 105 JGG wäre mit größerer Befriedigung zu handhaben, wenn in den Fällen, in denen die Verhängung einer Freiheitsstrafe bzw. Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld unerlässlich ist, aus dieser Entscheidung aber angemessene Maßnahmen folgen würden.

Gemessen am Präventionsgedanken hat es wenig Sinn, im Verfahren größte Anstrengungen darauf zu verwenden, zu einer maximalen Differenzierung zu kommen, wenn die anschließend im Vollzug zum Zuge kommende Differenzierung unbedeutend ist. Die Jugendstrafanstalten, daran hat die Umbenennung nichts geändert, sind Gefängnisse. Jugendliche und Heranwachsende, die eine Jugendstrafe erhalten, werden den spezifischen Einflüssen der Gefängnissubkultur ausgesetzt, was die Übernahme eines Normen- und Wertsystems bedeutet, welches künftige Kriminalität selbstverständlicher macht.

Um zu einer angemessenen Differenzierung zu kommen, ist eine gewissenhafte Diagnostik unerlässlich. Im Jugendstrafverfahren werden allerdings keineswegs immer Sachverständige herangezogen. Verhängnisvoll kann es sein, wenn die schwere Persönlichkeitsstörung eines gefährlichen Sexualtäters nicht erkannt wird und seine Delikte lediglich als Symptome fehlender Reife und pubertärer Gehemmtheit interpretiert werden. Die Gestörtheit wird bei dieser Tätergruppe meist schon vor Erreichen des 19. Lebensjahres manifest, sodass das Jugendrecht auch unabhängig von den Voraussetzungen des § 105 JGG zur Anwendung kommt.

Die nach Einzeluntersuchungen um 60 % und höher liegenden Rückfallquoten nach Entlassung aus Jugendstrafanstalten sprechen nicht für einen positiven Einfluss des Vollzugs, auch wenn neben der Normbestätigung ein auf Befähigung zum Legalverhalten gerichtetes Erziehungsziel als Grundlage des Jugendstrafrechts fortbesteht. Es ist zweifelhaft, ob die nach einer Bundesverfassungsgerichtsentscheidung erlassenen Länderjugendstrafvollzugsgesetze geeignet sind die Rückfallquoten zu reduzieren, solange keine verbindlichen Behandlungsstandards durchgesetzt werden.

Wichtig ist aus meiner Sicht, bei der Beurteilung der Altersgruppe mit der stärksten Kriminalitätsbelastung – den 16- bis 24-Jährigen – sich einer Optik zu bedienen, die für die Betroffenen größere Chancen bietet, das Angemessene geschehen zu lassen. Gemeint ist damit, dass regelmäßig der Versuch gemacht werden müsste, diejenigen Täter herauszufiltern, für die nach aller Wahrscheinlichkeit die kriminellen Handlungen lediglich episodische Bedeutung hatten. Bei ihnen kann erwartet werden, dass sich die Neigung zu strafbaren Handlungen mit dem Eintritt in eine andere Lebensphase erledigt, und es kommt eigentlich für die reagierenden Instanzen sozialer Kontrolle nur darauf an, möglichst wenig zu schaden. Wohlgemeinte Erziehungsmaßnahmen könnten schon zu viel sein. Auf der anderen Seite sollten jedoch diejenigen Täter identifiziert werden, die im Begriff sind, eine langdauernde kriminelle Karriere anzutreten, um ihnen das Angebot intensiver Betreuung machen zu können.

Primitiv-populistischen Forderungen nach frühen und harten Sanktionen muss anhand rückfallstatistischer Befunde entgegengehalten werden, dass dort, wo früh und hart sanktionierend eingestiegen wird, der Rückfall nicht verhindert wird, sondern Sanktionskarrieren forciert werden.

Insgesamt ist bei der Beurteilung des Reifegrades von Heranwachsenden im Sinne von § 105 JGG die Zunahme der Anwendung der Bestimmung zu begrüßen, wenn man davon ausgeht, dass strafrechtliche Reaktionen möglichst keinen zusätzlichen Schaden anrichten sollen. Eine Verurteilung nach dem Jugendrecht ist mit einer geringeren Stigmatisierung verbunden als die Verurteilung nach Erwachsenenrecht. Ferner ist zu berücksichtigen, dass sich im Jugendstrafvollzug im Allgemeinen weitaus bessere Betreuungsansätze finden als in den Justizvollzugsanstalten für Erwachsene, selbst wenn die Praxis des Jugendvollzugs keineswegs befriedigend ist.

Der Jugendvollzug sollte, wie in einigen Anstalten bereits praktiziert, alle Anstrengungen darauf richten, psychisch gestörte Täter frühzeitig zu identifizieren und ihnen spezielle therapeutische Angebote zu machen, damit ihnen eine vieljährige kriminelle Karriere erspart bleibt.

Ich freue mich nun auf die Vorträge und insbesondere auch auf die Diskussionen, die die von mir kursorisch angesprochenen Punkte wahrscheinlich vertiefen werden, und übergebe das Wort an unseren wissenschaftlichen Leiter Professor Helmut Pollähne.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

Einführung in das Tagungsthema

PROF. DR. IUR. HABIL.HELMUT POLLÄHNE, Bremen
Rechtsanwalt, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Konfliktforschung e. V.

KINDER UND JUGENDLICHE GEFANGEN …
… zwischen Strafjustiz, Jugendhilfe und Psychiatrie: reife Leistungen?

Kinder und/oder Jugendliche?
JGG §1 Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich
(1) Dieses Gesetz gilt, wenn ein Jugendlicher oder ein Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist.
(2) Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist. (…)

Die Vorträge 2024

Reife Leistungen? 100 Jahre Jugendgerichtsbewegung(en)

PROF. DR. RALF KÖLBEL, München
Hochschullehrer für Strafrecht u. Kriminologie, Ludwig-Maximilians-Universität

Reife Leistungen? Die Beurteilung der Reife bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen

DR. CORNELIA BESSLER, Zürich
Psychiaterin, Praxis ABJ-Forensik

Beitrag aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Die Beurteilung der Reife bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Zusammenfassung
Der Reifungsprozess in der Adoleszenz ist geprägt durch einen tiefgreifenden Wandel einerseits auf der somatischen aber auch auf der psychischen und sozialen Ebene. Vor dem Hintergrund dieses umfassenden Wandels auf den verschiedenen Ebenen stellt das Finden der eigenen Mitte in Übereinstimmung zwischen Selbsterleben, Fremderleben und Anpassung an soziale Normen eine grosse Herausforderung für den heranwachsenden Menschen dar, mit er sich der auseinanderzu-setzen hat. Da ein solcher Reifungsprozess nicht gradlinig verläuft, sondern fliessend in Schüben und individuell sehr unterschiedlich, ist eine Operationalisierung eines solchen Prozesses äusserst schwierig. Es werden nun im zeitlichen Verlauf die verschiedenen Ansätze der Operationalisierungsversuche über die vergangenen Jahre dargelegt, um dann den neusten Ansatz von Urwyler, Sidler & Aebi (2021) vorzustellen. Dabei stützen sich die Ausführungen auf den Artikel von Thierry Urwyler/Christoph Sidler/Marcel Aebi, Massnahmen für junge Erwachsene nach Art. 61 StGB, Beurteilung der er-heblich gestörten Persönlichkeitsentwicklung, Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Beiheft 57, Basel 2021.

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Prolog

Am 04. Mai 1941 schrieb Hermann Hesse eines seiner bekanntesten philosophischen Gedichte mit dem Titel «Stufen». Das Gedicht trug ursprünglich den Titel «Transzendieren!». Hermann Hesse beschreibt in diesem Gedicht das Leben als fortwährenden Prozess, bei dem auf jeden «durchschrittenen» Lebensabschnitt ein neuer folgt. Nach Hermann Hesse soll der Mensch aber an keiner dieser Lebensstufen festhalten, da der «Weltgeist» für ihn keine Einengung, sondern eine Ausweitung von Stufe zu Stufe vorsehe, denn «…jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben…». Da das Leben fortwährend rufe, sei dieser Prozess auch mit dem Tod nicht abgeschlossen. Auch der Tod sei als Genesung zu betrachten, denn letztlich sei auch er nur der Abschied von einer Lebensstufe. «… Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegensenden. Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden. Wohlan den, Herz, nimm Abschied und gesunde!»

Nach Hermann Hesse reaktiviere die innere Reife «einen Schatz an Bildern», den man im Gedächtnis trägt und dem man sich im Verlauf des Lebens immer wieder mit ganz anderer Teilnahme zuwendet als zuvor.

Wo spielt nun in der Strafjustiz die von Hermann Hesse so benannten Lebensstufen eine Rolle?

Im Strafrecht hat der Gesetzgeber tatsächlich Lebensstufen vorgegeben und dafür Altersbegrenzungen festgelegt.

Wenn ein Jugendlicher in Deutschland eine Verfehlung begangen hat, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, und dieser Jugendliche zurzeit der Tat 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, kommt in Deutschland das Jugendgerichtsgesetz zur Anwendung. Beziehungsweise wenn ein Heranwachsender in Deutschland, der zurzeit der Tat 18, aber noch nicht 21 Jahre alt ist, kann das Jugendgerichtsgesetz zur Anwendung kommen. Die Anwendung des Jugendstrafrechts hat zum Ziel, erneuten Straftaten entgegenzuwirken. Das heisst, dass die Rechtsfolgen, unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren, vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten sind.

In der Schweiz werden im Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht die Sanktionen geregelt, welche gegenüber Personen zur Anwendung kommen, die zwischen dem vollendeten 10. Altersjahr und vor Vollendung des 18.Lebensjahr eine nach dem Strafgesetzbuch oder einem anderen Bundesgesetz mit Strafe bedrohte Tat begangen haben. Auch hier ist wegleitend für die Anwendung dieses Gesetzes der Schutz und die Erziehung des Jugendlichen unter Berücksichtigung der familiären Verhältnisse und der Lebensumstände. Zudem werden im Schweizer Strafgesetzbuch in Art. 61 StGB die Massnahmen für junge Erwachsene festgelegt. D.h., wenn der Täter zurzeit der Tat noch nicht 25 Jahre alt ist und er in seiner Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört ist, so kann das Gericht ihn in eine Einrichtung für junge Erwachsene einweisen. Das verübte Verbrechen oder Vergehen muss aber in Zusammenhang mit der beim Täter vorliegenden Persönlichkeitsentwicklungsstörung stehen. Zudem muss durch die Massnahme der Gefahr, welche von diesem jungen Menschen ausgeht, dass er erneute Straftaten verübt, entgegengewirkt werden können.

Auch aus den Empfehlungen des Europarates[1] für Sanktionen und Massnahmen für jugendliche Straftäter und Straftäterinnen (REC 2008) geht hervor, dass auch junge erwachsene Straftäter / Straftäterinnen im Alter von 18 bis 21 Jahren gegebenenfalls als Jugendliche betrachtet werden können (Ziff. 17; Ziff. 21.2) und daher in spezialisierten Einrichtungen für junge Erwachsene unterzubringen seien.

In Anbetracht dessen drängt sich dann die Frage auf, was denn am Jugendalter so speziell sein soll.

 

Das Jugendalter

Schlagwörter wie «unzurechnungsfähig, kann alles, weiss alles, ist reizbar» sind einige Marker des Jugendalters.

Das Jugendalter ist geprägt durch einen tiefgreifenden Umbau auf ganz verschiedenen Ebenen. Es finden Reifungsprozesse auf der biologischen, aber auch auf der psychischen und auf der sozialen Ebene statt. Neben den körperlichen Veränderungen, wie dem Wachstum der Glieder und der Muskulatur, wird die Geschlechtsreifung sichtbar mit den Veränderungen der Geschlechtsmerkmale, wie der Brustentwicklung, des Peniswachstums, der Behaarung, der Veränderung der Stimme, der Haut etc. Aber auch im Gehirn findet ein tiefgreifender Wandel statt mit Auswirkung auf die kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, was sich auch auf das Verhalten der Jugendlichen bzw. Heranwachsenden auswirkt. Ebenso auf der psychischen Ebene kommen tiefgreifende Umbauprozesse zum Tragen, die mit dem Erleben des körperlichen Wandels sowie den sozialen Reaktionen des Umfeldes zusammenhängen. Aber auch der soziale Status des heranwachsenden jungen Menschen verändert sich im familiären, aber auch im gesellschaftlichen Umfeld. Vor dem Hintergrund dieses umfassenden Wandels auf allen Ebenen stellt das Finden der eigenen Mitte in Übereinstimmung zwischen Selbsterleben, Fremderleben und Anpassung an soziale Normen eine grosse Herausforderung dar, mit der sich der heranwachsende Mensch auseinanderzusetzen hat. Das Finden der eigenen Identität ist dabei die zentrale Entwicklungsaufgabe. Es dreht sich dabei um die Fragen «wer bin ich, wer möchte ich sein und für wen hält man mich!»

Wendet man sich der Statistik von Straftaten zu, fällt auf, dass zwischen dem 10. und 30. Altersjahr, insbesondere von männlichen Jugendlichen, die häufigsten Delikte verübt werden[2]. In allen Regionen und Kulturen der Welt zeigen sich i.S. Kriminalität ähnliche alters- und geschlechtsspezifische Verläufe. Die sogenannte «Age-Crime-Curve»[3] kann damit als Konstante betrachtet werden. Dennoch ist der individuelle Reifungsprozess sehr unterschiedlich und weitgehend genetisch vorprogrammiert und gesteuert. Aber auch Lernprozesse und entsprechende Umwelterfahrungen spielen in der Reifung eines Menschen eine Rolle.

Die Lebensphase der Adoleszenz kann insgesamt als Lebensabschnitt, in dem besonders viele Entwicklungsaufgaben anstehen und bewältigt werden müssen, eingestuft werden. So muss der heranwachsende junge Mensch in dieser Lebensphase in seinem sich neu entwickelten Körper heimisch werden; er muss in allen Dimensionen für sich eine neue Identität finden und vor diesem Hintergrund einen gesunden Selbstwert aufbauen. Er muss seine sozialen Bindungen neugestalten und seine sozialen Kontakte erweitern. Er muss einen selbstverantwortlichen Umgang mit seiner Freizeit und den verschiedenen Konsumgütern erlernen. Auch mit der Herausforderung, wann, wie oft und in welcher Form er sich aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen möchte, muss sich der Adoleszente stellen. Dieser Reifungsprozess in der Adoleszenz verläuft fliessend und ist individuell sehr unterschiedlich. Eine Operationalisierung eines solchen umfassenden, tiefgreifenden Prozesses ist daher sehr schwierig und äusserst komplex.

Versuche der Operationalisierung der Beurteilung der Reife / Unreife im straf- und zivilrechtlichen Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie

 

Ein erster Operationalisierungsversuch der Reifebeurteilung heranwachsender Straftäter / Straftäterinnen wurde an einer Fachtagung in den 1950er Jahren unternommen! Damals wurden die sogenannten Marburger-Kriterien[4]entwickelt, welche sich aus einer Negativ[5] und einer Positivliste[6] zusammensetzten.

In der sogenannten Negativliste wurden folgende Kriterien aufgenommen: Das Fehlen einer gewissen Lebensplanung, das Fehlen der Fähigkeit zum selbständigen Urteilen und Entscheiden, das Fehlen der Fähigkeit zu zeitlich überschauendem Denken, das Fehlen der Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu untermauern, das Fehlen einer ernsthaften Einstellung zur Arbeit und das Fehlen einer gewissen Eigenständigkeit zu anderen Menschen. In die sogenannte Positivliste flossen Merkmale, wie eine ungenügende Ausformung der Persönlichkeit, das Vorliegen von Hilflosigkeit, die sich nicht selten hinter Trotz und Arroganz versteckt, ein naiv vertrauensseliges Verhalten, eine starke Anlehnungsbedürftigkeit, eine spielerische Einstellung zur Arbeit, eine Neigung zum Tagtraum, ein Hang zu abenteuerlichem Handeln, ein Hineinleben in selbsterhöhende Rollen, ein mangelhafter Anschluss an Altersgenossen und die Haltung im Augenblick zu leben.

In der Fachwelt stiessen diese Kriterien aber eher auf Ablehnung. Es wurde kritisiert, dass die Kriterien moralisch wertend seien und sehr weite subjektive Ermessensspielräume offenlassen würden.  Ethnisch-kulturelle und soziodemographische Besonderheiten würden nicht abgebildet, was zu Diskriminierungen führe. Die Liste spiegle den damaligen Zeitgeist und stütze sich auf die mittlerweile nicht mehr haltbare Annahme, dass Entwicklungsprozesse gleichförmig verlaufen. Einige Merkmale hätten zudem eher etwas mit Sozialisationsbedingungen als mit biologischer Reife zu tun. Insgesamt wurde die Meinung vertreten, dass mit dieser Beschreibung der Reife mit den Marburger-Kriterien wenig für eine valide Feststellung von Unreife getan worden sei, da mit ihrer Anwendung fast alle Heranwachsende in den Anwendungsbereich von §105 JGG einbezogen würden.

Kurze Zeit später wurden daher die Marburger-Kriterien 1955 von Villinger[7] ergänzt. Er fügte Kriterien wie eine der Altersstufe nicht mehr entsprechende Suggestibilität, ein Mangel an echter, begründbarer Bindung an andere, eine starke Labilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, eine nicht zustande kommende Integration von Eros und Sexus, ein Mangel an altergemässem Pflicht- und Verantwortungsgefühl, eine besondere Neigung zu neurotischen Fehlreaktionen und Fehlhaltungen, eine jugendtypische Unausgeglichenheit und Widersprüchlichkeit, eine Neigung zu kindlich-jugendlichem Stimmungswechsel aus inadäquatem Anlass[8].

Aber auch nach der Ergänzung durch Villinger überwog die negative Kritik[9]. Es wurde vorgeworfen, dass die Kriterien nach wie vor moralisch wertend seien und ethnisch-kulturelle und soziodemographische Besonderheiten nicht abbilden.

Erst ca. 20 Jahre später wurde dann von Esser, Fritz und Schmidt 1991 ein erneuter Operationalisierungsversuch gewagt[10]. Anhand einer Feldstichprobe mit 340 Personen im Alter von 18 Jahren wurde versucht, die Kriterien mit einer prospektiven epidemiologischen Längsschnittstudie zu evaluieren. Operationalisierte Reifestufen (kindlich, jugendlich, heranwachsend, erwachsen) wurden von den Autoren mit spezifischen Merkmalen versehen. Erzielte der zu beurteilende Klient eine altersadäquate Reife, erhielt er das Label «Heranwachsend». Lag er mit den Kriterien darunter, wurde auf eine Reifeverzögerung geschlossen. Kam er mit den Kriterien darüber zu liegen, sollte dies auf eine beschleunigte Reifung hinweisen.

Ein wichtiges Resultat der Untersuchung war, dass psychiatrische Auffälligkeiten, chronische Belastungen in den letzten fünf Jahren und frühere, widrige familiäre Umstände mit Reifeverzögerungen assoziiert waren[11]. Erst zehn Jahre später gelang es dem Erstautor in einer Untersuchung[12] aufzuzeigen, dass die in der Erstuntersuchung definierten Merkmale reifungsabhängig sind, d.h. dass mit fortschreitendem Alter höhere Reifewerte verbunden sind.

Doch auch das Lösungsmodell von Esser, Fritz und Schmidt wurde nach der Publikation kritisiert. Da der Katalog der Reifekriterien in Teilen nach wie vor auf den Marburger-Kriterien und den Erweiterungen von Villinger beruhte, wurden die dort eingebrachten Kritikpunkte auch auf die Liste von Esser, Fritz und Schmidt übertragen[13]. Zudem wurde kritisiert, dass die Gewichtung der Kriterien unklar sei, dass die Reifegradunterteilungen nicht hergeleitet werde und es ein tautologisches Potenzial gebe. Im Weiteren wurde eingebracht, dass interkulturelle und sozio-ökonomische Unterschiede nach wie vor nicht berücksichtigt würden.

Insgesamt wurde auch dieser Ansatz als unbefriedigend beurteilt. Eine valide Beurteilung der Reife von Heranwachsenden sei auch so nicht möglich[14].

Gesamthaft betrachtet gelang aber mit der Untersuchung von Esser, Fritz und Schmidt ein methodischer Sprung. In einer umfangreichen Untersuchung an Heranwachsenden wurden die Kriterien auf einem empirischen Boden evaluiert. Die von den Autoren daraus gefolgerte Lösung war aber nicht so beschaffen, dass diese sich als ein unangefochtener Standard hätte durchsetzen können.

Der nächste Operationalisierungsansatz wurde von Busch und Scholz (2003) vorgestellt und nachfolgend von Busch (2006) validiert. Zur Erhebung der relevanten Reifemerkmale verwendeten die Autoren die Delphi-Technik (dabei handelt es sich um ein mehrstufiges qualitatives Befragungsverfahren von Expertinnen und Experten)[15]. In mehreren Befragungsrunden wurden die relevanten Reifemerkmale erhoben. Es resultierten insgesamt 90 Items, welche nach Ansicht der befragten Experten Marker für Reife/Unreife darstellen. Die Items waren über folgende Skalen verteilt: Soziale Autonomie & Autonomie in der Lebensführung, Qualifikation & Ziele, Problem- & Konfliktmanagement, Werte & Normen, Soziale Beziehung & Partnerschaft, Kommunikation & Reflexivität, Emotionalität & Impulsivität, Umweltbedingungen, Umstände der Tat und Beweggründe der Tat. Die benannten Items wurden als Ausdruck einer aktuellen gesellschaftlichen Wahrnehmung von jugendlich und erwachsen verstanden und als zur Begutachtung des Entwicklungsstands geeignet beschrieben. Anders als die bisherigen Ansätze enthielt der Vorschlag von Busch mit den beiden letztgenannten Dimensionen auch Kriterien für die Beurteilung der sog. Jugendverfehlung nach § 105 Abs. 2 JGG.

In diesem Instrument wurde folgendes Beurteilungsverfahren vorgeschlagen: Zuerst seien die Umweltbedingungen des Heranwachsenden als Entwicklungsbedingungen zu eruieren, was dann in eine individuelle Entwicklungstheorie überführt werden müsse. Danach sei die Persönlichkeit des Täters zum Untersuchungszeitpunkt zu beurteilen (Querschnittsbild). In einem dritten Schritt sei dann das eigentliche Tatgeschehen zu beleuchten (situativ-soziale Rahmenbedingungen, Motive, usw.). Alle diese Informationen seien dann in eine Aussage zum Entwicklungsstand des adoleszenten Täters zu integrieren.

Doch auch dieser Ansatz stiess auf Kritik[16]. Es wurde eingebracht, dass die Datenbasis der Auswertung schwach sei, dass mit solchen Studien bloss der Status Quo der Handhabung wieder gegeben werde und dass es keine wissenschaftliche Validierung gebe. Die vorgeschlagenen Dimensionen und Skalen würden kaum Unterschiede zu den Kriterien von Esser, Fritz und Schmidt zeigen und würden keine Aussage über die Relevanz im Einzelfall erlauben. Auch seien die Auswahlkriterien der Experten für die Befragung der jugendtypischen Merkmale unklar (11% Psychologen; 13% Psychiater gegenüber 76% Juristen).

Ein weiterer Operationalisierungsversuch wurde von Buch und Köhler (2020) unternommen[17]. Bezugnehmend auf die bisherigen Definitionsansätze und unter Berücksichtigung der jeweils geäusserten Kritikpunkte entwickelten die Autoren eine Skizze eines umfassenden Gesamtbeurteilungsansatzes. Zur Beurteilung der Reife wurden folgende Kriterien herangezogen: Kognitive Fähigkeiten, Autonomie, Qualifikation & Ziele, Problem-/Konfliktlösung, Werte und Normen, Partnerschaft, Soziale Gruppe, Emotionalität und Impulsivität, Kommunikation, Reflexivität, Medien, Umweltbedingungen, Psychopathologie und die bisherige Delinquenz-Entwicklung des Jugendlichen. Darauf Bezug nehmend sollte dann die Entwicklung des Jugendlichen bis zum Tatzeitpunkt beurteilt und die Beschreibung des psychosozialen Leistungsniveaus erfolgen. Erst danach sollte der konkrete Tathergang analysiert werden. Unter Berücksichtigung aller Faktoren sollte dann abschliessend eine Gesamtbeurteilung der Reife erfolgen.

Die Publikation dieses Ansatzes von Buch und Köhler ist noch zu jung, um einen allgemein anerkannten Fachstandard darstellen zu können.

Sonstige Unreife-Operationalisierungen in der psychiatrischen und forensischen Diagnostik

 

In der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen (ICD-10) findet sich die unreife Persönlichkeitsstörung unter dem Sammelbegriff der sonstigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen (F60.8). Eine analoge Störung findet sich allerdings im DSM-5 nicht. Es bleibt offen, auf welchen empirischen Grundlagen im ICD-10 die Kriterien für das Störungsbild der unreifen Persönlichkeitsstörung abgeleitet wurden.

In der Neuauflage der Klassifikation, im ICD-11, wurde im Bereich der Persönlichkeitsstörungen ein Paradigmenwechsel vorgenommen. Das Störungsbild der unreifen Persönlichkeitsstörung wurde nicht mehr aufgenommen. Das Konzept der unreifen Persönlichkeitsstörung ist daher als wissenschaftlich unzureichend abgesichert zu beurteilen.

Schliesslich ist noch auf das Konzept der unreifen Persönlichkeit nach FOTRES (Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System) hinzuweisen, welches sowohl bei Jugendlichen als auch jungen Erwachsenen vorkommen kann. Gemäss Urbaniok geht es dabei darum, «Haltungen und Emotionalität, die dem Alter- bzw. dem üblicherweise zu erwartenden Entwicklungsstand gegenüber unangemessen sind» zu erfassen. Dabei werden vier Bereiche unterschieden: Die Unangemessenheit im Verhalten, die mangelnde Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub, eine mangelnde allgemeine Verantwortungsübernahme sowie die Unbedarftheit. Doch auch bei diesem Modell fehlen die notwendigen Evidenzgrundlagen.

 

Beurteilungsmodell von Urwyler, Sidler & Aebi (2021)

 

Heute liegt es auf der Hand, dass die Beurteilung des Reifegrades eines jungen Erwachsenen sich nicht nur auf die individuelle Ebene abstützen darf, wie dies bei den Marburger-Kriterien und tendenziell auch bei den Kriterien nach Esser, Fritz und Schmidt der Fall ist. Die Beurteilungsmethodik des Reifegrades eines jungen Menschen muss multidimensional angelegt sein, denn die Reifung ist das Resultat des Zusammenwirkens der Person mit ihrem Umfeld. Die aktuelle Forschung zur Persönlichkeitsentwicklung hat zunehmend systemischen Charakter. Gesellschafts- und sonstige Umweltfaktoren werden als relevante Kriterien für die Entwicklung einer Person erachtet[18]. Auch im Zusammenhang mit jugendlichen und erwachsenen Straftätern zeigte sich ein Zusammenhang zwischen erlebten psychosozialen Belastungen und festgestellten Reifungsverzögerungen[19]. Es wurde daher vorgeschlagen, einerseits Umwelt- bzw. Umfeldfaktoren zu erfassen, wie die familiäre Situation, das ausserfamiliäre Netzwerk (Freunde, Schul- und Arbeitskollegen) und die Konstanz und Stabilität im Umfeld. Andererseits sollte in die Beurteilung die psychopathologische Dimension[20] und die entwicklungsaufgabenbezogene Dimension[21]einfliessen. Bei der entwicklungsbezogenen Dimension geht es um Autonomie versus Abhängigkeit, um Stimmungsstabilität versus -labilität, um Fähigkeit des Bedürfnisaufschubs (Impulskontrolle) versus unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen (Impulsivität), um vorausschauendes Handeln (Folgenabschätzung) versus Leben im Moment, um Verantwortungsübernahme und Realitätsgrad der Pläne für den Alltag und die Zukunft, um den Durchhaltewillen, um die Ernsthaftigkeit, um den Aufbau bzw. das Vorhandensein eines prosozialen Wertesystems, um die Zielverfolgung bzw. die Frustrationstoleranz, um die Stabilität des Kontextes und die Qualität von Beziehungen, um das Problem- und Konfliktmanagement und um weitere mögliche Merkmale im Sinne des SPJ-Konzepts. Die festgestellten Defizite sind den beim Individuum gefunden Ressourcen gegenüberzustellen. In Bezug auf die verübte Straftat ist dann die Frage abzuhandeln, ob es einen Zusammenhang zwischen der begangenen Straftat und den entwicklungsaufgabenbezogenen Defiziten gibt und wenn ja, zu welchem Grad sich die Entwicklungsdefizite in der Tatwiderspiegeln.

Abschliessend soll die sachverständige Person im Sinne einer Gesamtwürdigung beschreiben, ob die Resultate der Prüfungsschritte aus sachverständiger Sicht den Schluss erlauben, auf eine Entwicklungsverzögerung zu schliessen. Ziel dieses Beurteilungsverfahrens ist, dass die Kriterien nicht ohne zu überlegen einfach abgehakt werden, sondern im Gegenteil, dass ein umfassendes Fallverständnis angestrebt wird, das der zu begutachtenden Person gerecht wird[22].

Dieses Beurteilungsverfahren wird aktuell gerade in Zürich bei Heranwachsenden im Massnahmenvollzugszentrum Uitikon evaluiert.

Fazit

Gerade bei der Reifebeurteilung nach § 105 JGG fällt auf, dass es vorwiegend die Autoren der jeweiligen Vorschläge selbst sind, die ihre Konzepte validieren. Es mangelt an Replikationsversuchen der Merkmalskataloge durch andere Forschungsgruppen. Das heisst, dass nach wie vor die Evidenzqualität hier bescheiden ausfällt.

Die Entwicklung bzw. die Reifung eines Menschen vom Kind über den Heranwachsenden zum Erwachsenen ist kein geradliniger Prozess. Darüber hinaus divergieren die Verläufe beim Übergang vom Kind zum Erwachsenen immer stärker voneinander aufgrund der gesellschaftlich mehr und mehr akzeptierten Individualisierung, was ein Verzicht auf stufentypische Verläufe nahelegt. Dennoch ohne die Vorgabe (wenn auch unscharfer) Normalentwicklungsbereiche ist es unmöglich, auf erhebliche Störungen der Entwicklung zu schliessen.

[1] Europäische Grundsätze für die von Sanktionen und Massnahmen betroffenen jugendlichen

Straftäter und Straftäterinnen, Empfehlung REC (2008)11 des Ministerkomitees des Europarats

vom 05. November 2008

[2] Inke Pruin, Die Diskussion um die Heranwachsenden im Jugendstrafrecht – (k)eine never-ending

story, in: DVJJ (Hrsg.), Herein-, Heraus-, Heran-, Junge Menschen wachsen lassen, Dokumentation

des 30. Deutschen Jugendgerichtstages vom 14. bis 17. September 2017 in Berlin,

Mönchengladbach 2019, S. 467 ff., S. 479; eine Ausnahme hiervon bilden freilich sogenannte

«life-course persistent offenders», wie sie bei TERRIE MOFFITT, Adolescence-limited and life-course-

persistent antisocial behaviour: A developmental taxonomy. Psychological Review 1993,

  1. 674 ff. beschrieben werden.

Jeffery T. Ulmer/Darrell J. Steffensmeier, The Sociological Explanation: The Age and

Crime Relationship: Social Variation, Social Explanations, in: Kevin M. Beaver/James

  1. Barnes/Brian B. Boutwell (Hrsg.), The age and crime relationship: Social variation, social

explanations, The nurture versus biosocial debate in criminology: On the origins of criminal behaviour

and criminality, SAGE Publications 2014, S. 377 ff.; ROLF LOEBER, Does the study of the

age-crime curve have a future, The future of criminology 2012, S. 11 ff.; MARC LE BLANC, On

the future of the individual longitudinal age-crime curve, Criminal Behaviour and Mental Health 2020, S. 183 ff.

[3] J. T. Ulmer/Darrell; J. Steffensmeier 2014; R. Loeber 2012; M. Le Blanc 2020

[4] Anonyme Autorenschaft, MschrKrim 1955, S. 58 ff., S. 60

[5] Negativliste: Fehlen einer gewissen Lebensplanung; Fehlen der Fähigkeit zum selbständigen Urteilen und Entscheiden; Fehlen der Fähigkeit zu zeitlich überschauendem Denken; Fehlen der Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu untermauern; Fehlen einer ernsthaften Einstellung zur Arbeit; Fehlen einer gewissen Eigenständigkeit zu anderen Menschen.

[6] Positivliste: Vorliegen einer ungenügenden Ausformung der Persönlichkeit; Vorliegen von Hilflosigkeit, die sich nicht selten hinter Trotz und Arroganz versteckt; Vorliegen eines naiv vertrauensseligen Verhaltens; Vorliegen einer starken Anlehnungsbedürftigkeit; Vorliegen einer spielerischen Einstellung zur Arbeit; Vorliegen einer Neigung zum Tagtraum; Vorliegen eines Hangs zu abenteuerlichem Handeln; Vorliegen eines Hineinlebens in selbsterhöhende Rollen; Vorliegen eines mangelhaften Anschlusses an Altersgenossen; Vorliegen eines Lebens im Augenblick.

[7] Werner Villinger, Das neue Jugendgerichtsgesetz aus jugendpsychiatrischer Sicht, Praxis der

Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 1955, S. 1 ff.

[8] Erweiterung nach Villinger (1955): Eine der Altersstufe nicht mehr entsprechende Suggestibilität; ein Mangel an echter, begründbarer Bindung an andere, z.B. Kameraden und Lehrer; eine starke Labilität in zwischenmenschlichen Beziehungen; eine nicht zustande kommende Integration von Eros und Sexus; ein Mangel an altergemässem Pflicht- und Verantwortungsgefühl;  eine besondere Neigung zu neurotischen Fehlreaktionen und Fehlhaltungen; eine typisch jugendtümliche (phasenspezifische) Unausgeglichenheit und Widersprüchlichkeit; eine Neigung zu kindlich-jugendlichem Stimmungswechsel aus inadäquatem Anlass.

[9] Günter Hinrichs, Gerd Schütze; Der 105 I JGG aus jugendpsychiatrischer Sicht, DVJJJournal

1/1999, S. 27 ff., S. 29; THOMAS P. BUSCH/BERNDT SCHOLZ, Neuere Forschung zum

  • 105 JGG, Die Bonner Delphi-Studie: Ein Zwischenbericht, MschrKrim 2003, S. 421 ff., 424;

Thomas P. Busch, Rechtspsychologische Begutachtung delinquenter Heranwachsender, Evidenzbasierte

Entscheidungsalgorithmen zur strafrechtlichen Zuweisung gemäß § 105 JGG,

Diss. Berlin 2006, S. 52; MÜLLER/NEDOPIL (Fn. 48), S. 100

[10]Günter Esser, Annemarie Fritz, Martin Schmidt; Die Beurteilung der sittlichen Reife Heranwachsender

im Sinne des § 105 JGG – Versuch einer Operationalisierung, S. 356 ff.

[11] Esser, Fritz, Schmidt (Fn. 178), S. 365 f. (Konkret schnitten psychiatrisch Auffällige in den

Bereichen Realistische Lebensplanung, Eigenständigkeit gegenüber Peers/Partnern, Alltagsbewältigung,

Bindungsfähigkeit und Stimmungskonsistenz schlechter ab. Nur in den Bereichen

Eigenständigkeit gegenüber den Eltern, äusserer Eindruck, und Integration von Eros und Sexus

wiesen die psychiatrisch Unauffälligen höhere durchschnittliche Reifemerkmale auf).

[12] Günter Esser; Sind die Kriterien der sittlichen Reife des § 105 JGG tatsächlich reifungsabhängig?

DVJJ 1/1999, S. 37 ff.

[13] Müller (Fn. 170), S. 63

[14] Hinrichs; Schütze (Fn. 169), S. 29

[15] Weiterführend zur Delphi-Technik: Busch, (Fn. 173), S. 68 ff.; Busch, Scholz (Fn. 169),

  1. 425

[16] Günter Esser, Anne Wyschkon, Martin H. Schmidt, Anmerkungen zu Busch, T.P. &

Scholz, O.B., Neuere Forschung zum § 105 JGG: Die Bonner Delphi-Studie – Ein Zwischenbericht,

MschrKrim 2004, 458 ff.

[17] Buch, Köhler (Fn. 45), S. 178 ff., S. 197 ff.

[18] Vincent J. Felitti et al., Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of the leading causes of death in adults: The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study, American journal of preventive medicine 1998, S. 245 ff. (siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/The_Adverse_Childhood_Experiences_(ACE)_Study, besucht am 22.10.2020)

[19] Vgl. Marcel Aebi, Die Prävalenz von psychosozialen Belastungen bei jugendlichen Straftätern: eine Metaanalyse, FPPK 2019, S. 166 ff.

[20] Esser, Fritz, Schmidt konnten aufzeigen, dass psychopathologische Auffälligkeiten mit Reifeverzögerungen assoziiert sind. (Z.B. Substanzmissbrauch, ADHS, kognitive Defizite, Störungen des Sozialverhaltens oder (sich abzeichnende) Persönlichkeitsstörungen, usw., aber auch chronisch-somatische oder psychosomatische Erkrankungen sind häufig mit Reifeverzögerungen assoziiert.

[21] Unter Entwicklungsaufgabe verstehen die Autoren (basierend auf dem Ansatz von CASSÉE) eine «Aufgabe, die sich einem Individuum in einem bestimmten Lebensabschnitt aufgrund biologischer Faktoren, gesellschaftlicher Erwartungen und/oder individueller Wünsche und Zielsetzungen stellt.»

[22] Die Grundlagen des vorliegenden Beurteilungsmodells sind dem folgenden Artikel zu entnehmen:

Thierry Urwyler/Christoph Sidler/Marcel Aebi. Massnahmen für junge Erwachsene nach Art. 61 StGB, Beurteilung der erheblich gestörten Persönlichkeitsentwicklung. Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Beiheft 57, Basel 2021.

 

Auf der Suche nach dem mildesten Mittel

PROF. DR. ALEXANDER BAUR, Göttingen
Hochschullehrer für Strafrecht und Kriminologie, Institut für Kriminalwissenschaften, Georg-August-Universität – mit Norbert Rüther (l.)

Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität bei der Bewältigung von Jugendkriminalität

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Wenn man sich mit dem Jugendstrafrecht – seinen Sanktionen, Wirkungen und Nebenwirkungen
und nicht zuletzt seinen Alternativen – beschäftigt, dann liegt ein Vortragsbeginn viel zu
nahe, um einfach an ihm vorbeizugehen. Ich meine den Blick in die Presse und das, was die
berühmte öffentliche Meinung (oder besser: die vermeintlichen Meinungsmacher) bewegt, aufrührt
und umtreibt. Was findet man da in diesen Tagen?
Vor rund zwei Wochen hat ein Dreizehnjähriger in Dortmund einen Obdachlosen erstochen.
Vergangene Woche hat die Bundesinnenministerin die Zahlen der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik
vorgelegt und wieder von einem Anstieg der Kriminalität junger Menschen berichtet –
auch und gerade unter Kindern war abermals eine höhere Kriminalitätsbelastung im Hellfeld
zu verzeichnen. Vor einem Jahr hätte ich Ihnen beinahe dasselbe zum Auftakt meines Vortrags
erzählen können. Da sprachen wir wochenlang über das Freudenberger Tötungsdelikt zweier
12 und 13 Jahre alter Mädchen an einer gleichaltrigen Mitschülerin. Und mit Blick auf die
allgemeine Entwicklung hätte man da auch wieder den Anstieg der Kinderkriminalität rasch
gefunden. „Kinderkriminalität – Anstieg der Tatverdächtigen unter 14“ titelte schon im letzten
Jahr die Süddeutsche – ein Anstieg, den der SPIEGEL zur selben Zeit für auffällig, eigenartig
und erklärungsbedürftig hielt. Vom „rätselhaften Anstieg der Kinderkriminalität in Deutschland“
war die Rede. Über „Kinderkriminalität“, also die Begehung von Straftaten von nicht
strafmündigen Personen, zu sprechen, ist übrigens nicht meine Idee. Die Polizeiliche Kriminalstatistik
weist sie aus. Eigentlich müssten wir unter einem normativen Blickwinkel mal überlegen,
was das angesichts der strafrechtlichen Verantwortungsgrenzen eigentlich sein soll. Vielleicht
wäre es besser, von „Kinderdevianz“ zu sprechen sollten. Aber das ist ein anderes Thema.
Dass wir dieses Jahr (noch) nicht so viel über die von der Polizeilichen Kriminalstatistik erfundene
„Kinderkriminalität“ lesen, hat übrigens wahrscheinlich mit der Nicht-Deutschenkriminalität
zu tun. Da boten die Zahlen 2024 offensichtlich noch mehr medialen Zündstoff. Wäre das
nicht so, könnte ich mir die besorgniserregenden Schlagzeilen, die unser Thema hier und heute
betreffen, aber leicht vorstellen.

mehr lesen...

Auch bei den jungen Strafmündigen scheinen sich die Dinge irgendwie beunruhigend zu entwickeln.
Das legen auch hier die besonders medienwirksamen Einzelfälle allein des Jahres 2023
nahe: Wunstdorf (14-Jähriger fesselt Mitschüler und erschlägt ihn mit einem Stein), Pragsdorf
(14-Jähriger soll Sechsjährigen brutal misshandelt und erstochen haben), Lohr (14-Jähriger soll
Gleichaltrigen in Schulzentrum erschossen haben) und Offenburg (15-Jähriger soll Mitschüler
mit Kopfschuss getötet haben). Das ZDF kramt unter der Schlagzeile „Gewalt unter
Jugendlichen im Trend“ als Teaser für eine Dokumentation aus dem Jahr 2023 dann auch noch
die letzten jugendstrafrechtlichen Großereignisse hervor: „Im Winter die Silvesternacht, im
Sommer Freibad-Prügeleien.“ Auch jenseits solcher Großereignisse zeigten neue Zahlen, so
das ZDF: Gewalt sei unter Jugendlichen wieder akzeptierter. Diskutiert werden in der ZDFDokumentation
anhand all dieser Geschehnisse und anhand von „Kriminalitätszahlen“ dann
meist nicht nur Tragik und Brutalität des jeweiligen Einzelfalls und die Bahn, auf die wir – die
Kinder, Jugendlichen, die Gesellschaft, die Politik, wer auch immer – angeblich mal wieder
geraten sind, sondern auch die Notwendigkeit einer normativen Antwort. Es ist der Ruf nach
dem Strafrecht, der dann doch immer wieder laut oder der jedenfalls in den öffentlichen Resonanzraum
hineingestellt wird. Nicht schneller, höher, weiter – nein: früher, härter, konsequenter.
Die konkrete Forderungstrias heißt dann: Senkung des Strafmündigkeitsalters, Ausbau des
strafrechtlichen Sanktionsregimes, entschlossenere Verfolgung von Straftaten. Man könnte es
auch schlichter sagen: Mehr Zugriff, mehr Abschreckung, mehr Strafrecht.
Am Ende der Geduld – Sie erinnern sich an den Titel des Buchs einer Berliner Jugendrichterin
aus dem Jahr 2010 – scheinen wir dabei aber noch nicht angekommen zu sein. Das Jugendstrafrecht
hat sich, das muss man auch einmal sagen, in seinen zentralen Achsen doch als widerstandsfähig
gegen viele dieser manchmal eher kurzschlüssigen Forderungen erwiesen. Einzelne
Änderungen mag man jetzt als Gegenargument ins Feld führen. Einführung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung gegen Jugendliche in § 7 JGG, die Anhebung der Höchsstrafe auf fünfzehn
Jahre bei Heranwachsenden in § 105 Abs. 3 JGG oder auch der immer noch umstrittene
Warnschussarrest des neu geschaffenen § 16a JGG im Jahr 2013. Man könnte aber auch einmal
anführen, dass wir 1990 die verschiedenen Möglichkeiten zur Diversion in den §§ 45, 47 JGG
geweitet und seitdem nicht mehr angetastet haben. Kurzum: Ich glaube, alle Diskussionen und
gesetzlichen Veränderungen – auch die, die wir aus kriminologischer Sicht nur kritisieren können
– haben bislang nicht wirklich etwas am Grundverständnis des Jugendstrafrechts geändert.
Auch bestimmte Forderungen – etwa die nach einer Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze
oder nach der allgemeinen Heraufsetzung der Höchststrafe von zehn auf fünfzehn Jahre für
unter Achtzehnjährige – sind, meinem Eindruck nach, bis heute doch noch Gespenster geblieben.
Nicht zu vergessen ist zudem, dass sogar dann, wenn der Gesetzgeber Hand anlegt, sich
bisweilen immerhin noch die Rechtspraxis als ziemlich beharrlich, besonnen und resistent erweisen
kann. Das zeigt ein Blick auf die niedrigen Anordnungszahlen bei der nachträglichen
Sicherungsverwahrung. Auch der Warnschussarrest ist immerhin nicht überall und wahrscheinlich
sogar an den meisten Orten nicht zum Erfolgsmodell geworden. Kurzum: Eine Abkehr von
der zurückhaltenden und eher vorsichtigen Grundausrichtung des Jugendstrafrechts – Herr Kölbel
hat das ja vorhin viel ausführlicher entfaltet – erkenne ich persönlich jedenfalls bislang
nicht.

Meine Damen und Herren,
viele setzen dennoch großes Vertrauen in das Strafrecht und die strafrechtliche Lösung bestimmter
Probleme. Wir hier – ich verpflichte Sie jetzt einfach mal mit – wir, also diejenigen,
die sich mit der Sache näher beschäftigen, sind meistens ungleich vorsichtiger. Wir verstehen
uns gemeinhin eher als Strafrechtsbegrenzer denn als Strafrechtspropagandisten – besonders im
Jugendstrafrecht. Und das auch aus guten Gründen.

Die Skepsis an der eigenen Wirkungsmacht ist dem Jugendstrafrecht auch nach wie vor deutlich
anzumerken. Das Jugendstrafrecht möchte verzichtbar sein. Das ist der Selbstanspruch dieses
Rechts, der an mehr als nur an einer Stelle sehr deutlich zum Ausdruck kommt und auch, das
würde ich jedenfalls behaupten wollen, die Praxis dieses Rechts immer noch prägt. Auch wenn
ein junger Mensch in das Strafrecht hineingeraten ist, eröffnet dieses Sonderstrafrecht ihm
meist schnell wieder einen Weg heraus. Das beginnt schon mit den bereits angesprochenen
Dehnungen der strafprozessrechtlichen Opportunität und den rechtstatsächlich höchst erfolgreichen
und viel gebrauchten Diversionsvorschriften der §§ 45 und 47 JGG. Diese jugendstrafrechtlichen
Dehnungen und Feinjustierungen der strafprozessualen Opportunität sollen den
vom Weg abgekommenen jungen Menschen sachte zurück- und vor allem auch aus dem Strafrecht
herauslenken. Weniger in der Praxis genutzt wird § 53 JGG, der es sogar im Falle einer
Verurteilung noch zu diesem späten Zeitpunkt möglich macht, die Auswahl und die Anordnung
von Erziehungsmaßregeln aus dem Strafrecht herauszulösen und dem Familiengericht zu überlassen
– eine Regelung die in Verfahren gegen Jugendliche vor den für allgemeine Strafsachen
zuständigen Gerichten, das kann zu Zeiten vorkommen, nach § 104 Abs. 4 JGG sogar verbindlich
gemacht wird. Zurückhaltung sieht man weiter bei den vorläufigen Anordnungen über die
Erziehung, § 71 JGG, mit denen die Untersuchungshaft vermieden werden soll: „Untersuchungshaft
darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige
Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann.“ So
steht das in § 72 Abs. 1 Satz 1 JGG. „Jugendhilfe statt U-Haft“ – so heißt das entsprechende
Projekt beispielsweise in Niedersachsen. Und schließlich sei auch der Vollzug der Jugendstrafe
in freien Formen an dieser Stelle nicht unerwähnt. Die Grundhaltung unseres Jugendstrafrechts
und ich würde sagen auch seiner Praxis ist also bis heute klar: Jugendhilfe geht immer vor.
Vielen geht aber sogar diese – ich würde sagen doch weitgehende – Zurückhaltung des Jugendstrafrechts
noch nicht weit genug. Die Forderungen nach einer weiteren Strafrechtsbegrenzung
und Strafrechtszurückdrängung streuen breit. Die Heraufsetzung der Strafmündigkeitsgrenze
etwa auf sechzehn, manchmal auf achtzehn Jahre wird gefordert, was ja schlicht einen weiteren
Verzicht auf das Strafrecht bedeuten würde. Gleichsam auf halbem Wege stehenbleibt die Idee,
wenigstens einzelne Sanktionen des Jugendstrafrechts erst ab sechzehn oder achtzehn Jahren
einzusetzen – namentlich die Jugendstrafe oder auch die Maßregeln der Besserung und Sicherung.
Man liest ferner – auch vor dem Hintergrund krasser regionaler Unterschiede in der Rechtspraxis – davon, dass die Heranwachsenden ausnahmslos in das Jugendstrafrecht einzubeziehen
seien, man die Regelungen der §§ 105 ff. JGG abschaffen und dadurch diesen Täterkreis
vor dem allgemeinen Strafrecht bewahren müsse. Mit Blick auf die altermäßige Obergrenze
müsse man ohnehin ein einheitliches Jungtäterstrafrecht anstreben, das bis zum 24. Lebensjahr
anwendbar bleibt. Erst dann sei die Entwicklung nämlich halbwegs abgeschlossen und
junge Menschen seien aus dem Gröbsten heraus. Die berühmte Age-Crime-Curve samt der ein
oder anderen sorgsam ausgewählten entwicklungspsychologischen Erkenntnis zu Reifung und
Sozialisation stehen zur Begründung dieser Forderung parat. Andere überlegen wiederum, ob
es denn eigentlich sinnvoll ist, dass Jugendliche für dieselben Delikte wie Erwachsene strafrechtlich
einzustehen haben und wünschen sich eine deliktsbezogene Straffreiheit – insbesondere
für jugendtypische, also ubiquitär-normale Kriminalität. Was auch immer das sein mag.
Schwarzfahren entkriminalisiert man ja gerade generell, aber bei Jugendlichen doch bitte erst
recht. Für den üblichen kleinen Ladendiebstahl und die jugendtypische Sachbeschädigung
sollte man auch niemanden unter 16 oder unter 18 oder unter 21 oder unter 24 Jahren – Fragezeichen
– belangen können. Wo da die Bagatell- und Altersgrenzen zu ziehen sein sollen und
vor allem wie eine solche Selektivität rechtssicher organisiert werden könnten, bleibt meist im
Trüben: Keine jugendstrafrechtliche Verantwortlichkeit für einfache Vermögensdelikte? Kein
Jugendstrafrecht für Beleidigungs- oder auch leichte Gewaltdelikte? Die Schulhofprügelei ein
oder kein Fall für den Staatsanwalt? Andere rufen wieder nach der Nichtanwendbarkeit bestimmter
Qualifikationstatbestände – fordern etwa den generellen Verzicht auf gruppenbezogene
Straftatbestände, weil die Anfälligkeit für Einflüsse aus der Peergroup jugendtypisch, aber
nicht sonderlich sanktionswürdig sei. Oder warum eigentlich nicht gleich der große und klare
Wurf? Kein Jugendstrafrecht für alle Vergehen im Sinne des § 12 StGB? Auch die Abschaffung
dieser Unterscheidung für das Jugendstrafrecht – noch wird sie in § 4 JGG klargestellt – wird
durchaus gefordert. Klar ist am Ende nur: Die Bagatellgrenze soll nicht länger in ein opportunitätsgebundenes
Absehen von der Verfolgung münden, sondern es soll schon gar kein gesetzlicher
Anlass für Ermittlung, Verfolgung und Verurteilung entstehen. Echte Entkriminalisierung
also, nicht bloßes Herauslenken aus dem Strafrecht im Einzelfall. Schließlich wird auch
am Erziehungsgedanken herumgekrittelt. Der sei zu unbestimmt und tauge nicht für die Strafrechtsbegrenzung
– was wahrscheinlich richtig ist –, sondern gebe sogar das Werkzeug an die
Hand für Verschärfungen zu Lasten junger Menschen. Ja, auch das stimmt wahrscheinlich.
Aber offen gestanden, ja, das ist natürlich auch ein bisschen die ganze Idee des Jugendstrafrechts.
Erwachsene dürfen wir nämlich gar nicht erziehen.

Meine Damen und Herren,
ich finde beiden Lagern – ich nenne sie jetzt mal das punitive und das strafrechtsskeptische
Lager – beiden Lagern ist aus meiner Sicht ein Vorwurf nicht zu ersparen. Beide verbeißen sich
im Strafrecht. Die einen wollen mehr davon, die anderen weniger davon. Mal soll der Anwendungsbereich
des Jungendstrafrechts erweitert, mal soll er beschnitten werden. Mal wird mehr
strafrechtliche Unnachgiebigkeit, mal noch mehr Zurückhaltung gefordert.
Ich glaube, beides greift zu kurz. Ich finde, wir sollten deswegen einmal versuchen, vom Ende
her zu denken. Wir sollten uns auf ein Ziel verständigen und überlegen, wie wir dorthin kommen.
Ich versuche es mal Schritt für Schritt und will dafür fünf Ausgangspunkte formulieren,
auf die wir uns vielleicht zumindest vorläufig einmal verständigen können. Irgendwo muss man
ja mal anfangen und Boden unter die Füße bekommen – also:
1) Devianz ist unter jungen Menschen ubiquitär und in den allermeisten Fällen überhaupt
nicht besorgniserregend; sie ist zwar häufig, doch meist wenig schwerwiegend und vor
allem auch ein passageres Phänomen. Das wächst sich bei den meisten einfach raus. Die
Devianz junger Menschen ist schlicht normal und Teil jeder Persönlichkeitsentwicklung.
Es gibt neben der normalen und meist bagatellhaften Jugendkriminalität jedoch
noch eine andere Qualität von Devianz – namentlich die einer kleinen Gruppe junger
Menschen, die mehrfach und teils mit schwereren Delikten in Erscheinung treten. Auch
Intensivtäterschaft, wie wir das bisweilen nennen, ist übrigens häufig vorübergehend,
es gibt da aber auch die Verfestigung krimineller Karrieren. Schließlich gibt es auch
teils erheblich psychisch auffällige Jugendliche, die Straftaten begehen. Meinem Eindruck
nach ist letzteres eine etwas neuere Entwicklung, woher auch immer sie kommen
und wie man sie auch immer erklären mag. Vielleicht neigen wir auch heute wieder
mehr zu einem pathologisierenden Blick auf die Sache.

2) Es gibt bei aller Unbedenklichkeit, Ubiquität und Normalität von Jugenddevianz ein
Bedürfnis, Deliktsbegehungen junger Menschen einzudämmen und, wo das möglich ist,
auch normale Straftaten junger Menschen zu verhindern. Das Stichwort ist Kriminalprävention.
Dies gilt natürlich umso mehr für die Intensivtäter, die wiederholt in Erscheinung
treten, und auch für die schweren und besonders schadensträchtigen Delikte.
Für den Bereich einer wenig schadenverursachenden, sich prognostisch nicht verfestigenden
jugendtypischen Bagatellkriminalität mag man sich darüber streiten, ob und wie
viel Präventionsaufwand betrieben werden muss oder ob man so etwas als normale Entwicklungskriminalität
einfach verbucht und geschehen lässt. Eine Sache ist dabei, finde
ich, aber zu bedenken: Wenn Devianz zu einem normalen Sozialisationsprozess dazugehört,
dann gehört vielleicht auch die Erfahrung der Folgen von Devianz zum Normlernen.
Auch das wäre für mich ein präventives Argument gegen zu viel Zurückhaltung
– eine Erwägung, die man nicht ganz aus dem Auge verlieren sollte. Ich sage schon
jetzt: Das allein begründet gerade noch nicht einen Ruf nach dem oder nach mehr Strafrecht.

3) Es gibt ferner, und jetzt wird es wahrscheinlich etwas kontroverser, eine gesellschaftliche
Notwendigkeit für eine strafrechtliche Sanktionierung und vielleicht mehr noch für
eine geordnete Aufarbeitung von Unrecht. Ich nenne das daraus geschnürte Gesamtpaket
jetzt mal ein rückblickendes Bedürfnis nach Bewältigung von Kriminalität. Dieses
Bedürfnis aktualisiert sich typischerweise besonders stark bei schwerem oder aufkumuliert-
wiederholtem Unrecht. Beispielsweise bei den Tötungsdelikten, die ich heute zu
Anfang aufgezählt habe: Dortmund, Freudenberg, Wunstdorf, Pragsdorf, Lohr, Offenburg.
Der öffentliche Ruf nach dem Jugendstrafrecht – nicht nach dem Jugendhilfeoder
Familienrecht – ist hier aus meiner Sicht kein Zufall. Und er ist vielleicht, ich bin
ja bisweilen optimistisch, gar nicht so sehr von ein barbarisch-irrationalen Vergeltungsbedürfnis
getragen. Vielleicht haben wir es vielmehr mit dem psychologischen Verlangen
nach einem Verstehen von Tat und Täter zu tun – ein Verlangen, das so menschlich
und normal ist wie Normverstöße junger Menschen. Warum? Weil wir eine Versicherung
brauchen, dass sich jemand der Sache annimmt und einen geordneten Verstehensprozess
nach der Begehung schweren Unrechts einleitet. Es geht also darum, die Dinge
aufzuarbeiten, verständlich zu machen und eine Antwort – nicht unbedingt im Sinne
einer Vergeltung, sondern im Sinne eines Verstehens – zu geben. Meine Damen und
Herren, da sind die kriminologischen Erkenntnisse brüchig und wir könnten jetzt lange
über die Ratio des Strafrechts und eine vernünftige Kriminalpolitik miteinander streiten.
Ich glaube, wir können und sollten zumindest vorläufig auch ein solches Bewältigungsbedürfnis
in unsere Gesamtrechnung einstellen.

4) Das Strafrecht ist für die Prävention (Punkt 2) und die Bewältigung (Punkt 3) der Delinquenz
auch junger Menschen ein etabliertes Mittel. Und ich sage bewusst nicht, dass
es ein gutes oder das beste Mittel ist, und schon gar nicht, dass es das einzige Mittel ist.
Ich sage das vorerst wertungsfrei. Wir haben mit Herrn Kölbel ja jemanden hier, der
immer wieder – zu Recht – auch die dunklen Seiten des Strafrechts hervorhebt. Und in
der Tat: Blickt man auf die Sanktionen des Strafrechts, dann sieht man, dass sie mit
Blick auf die Rückfallvermeidung – ein Präventionsaspekt – unterschiedlich wirksam
sind. Sie sind aber nicht durchweg erfolglos. Und das gilt auch und gerade für die harten
jugendstrafrechtlichen Sanktionen, namentlich die Jugendstrafe – jedenfalls dann, wenn
man entsprechende Selektionseffekte berücksichtigt. Sie wissen, die Rückfallquoten bei
der Jugendstrafe sind eher hoch, deutlich höher jedenfalls als etwa bei einer Diversionsentscheidung
– also dem Verzicht auf das Strafrecht. Der Schluss ohne Strafrecht ist’s
besser, geht dennoch – natürlich – fehl. Zum Gesamtbild gehört es auch, ich trage jetzt
Eulen nach Athen, dass wir es bei der Jugendstrafe mit einer bestimmten und – schon
mit Blick auf die Anordnungsvoraussetzungen der Jugendstrafe (das Stichwort ist:
schädliche Neigungen) – prognostisch mit besonders kriminalitätsgeneigten und kriminalitätsgefährdeten
Personen, also einer Gruppe mit hohem Rückfallrisiko, zu tun haben.
Das bestätigt sich dann in den Zahlen. Ich würde deswegen umgekehrt sagen, dass
eine Legalbewährungsquote von 30 bis 40 Prozent in einer solchen Gruppe gerade kein
völlig entmutigendes Resultat ist. Aber auch das können wir heute sicher noch mit dem
ein oder anderen hier besprechen.

5) Fünfter und letzter Punkt: Devianz von Jugendlichen und Heranwachsenden wird nicht
allein durch das Jugendstrafrecht verhindert und bewältigt. Das ist auch Sache anderer
Teilrechtsordnungen. Ebenso wie für die Kinderdevianz halten auch das Gefahrenabwehr-,
das Sozial- und das Familienrecht Reaktionsinstrumente für kriminelle Gefährdungen
vor. Dort findet man übrigens die Instrumente, die keine Strafmündigkeitsgrenze
kennen.

IV.
Meine Damen und Herren,
Wenn wir uns – ganz vorläufig und vielleicht auch zähneknirschend – auf diese fünf Punkte
verständigt haben, müssen wir uns überlegen, was das für uns und unseren rechtlichen Umgang
mit Kinder-, Jugend- und Heranwachsendendevianz bedeutet. Wie sollte eine rechtliche Regelungsarchitektur
aussehen, die Prävention und Bewältigung dieser in vielerlei Hinsicht besonderen
Art von Devianz sinnvoll organisiert? Klar ist schon einmal eines: In einer strafrechtlichen
Binnenperspektive dürfen wir nicht verharren. Das folgt schon aus dem zuletzt genannten
Punkt fünf und obendrein auch aus dem Jugendstrafrecht selbst.
Das Jugendstrafrecht zeigt nämlich in seinem Verhältnis zu den anderen Teilrechtsordnungen
eine klare Haltung. Für Kinderdevianz ist es schon gar nicht anwendbar und überlässt das Feld
den anderen Teilrechtsordnungen. Für die Jugend- und grundsätzlich auch für die Heranwachsendenkriminalität
will es sich nach Möglichkeit zurücknehmen. Bei reifebedingt fehlender
strafrechtlicher Verantwortlichkeit bleibt es bei den Maßnahmen des Familienrechts, § 3 Satz 2
JGG. Dorthin kann der Jugendrichter auch die Auswahl und Anordnung von Erziehungsmaßregeln
überweisen, § 53 JGG. Die Diversionsvorschriften der §§ 45 und 47 JGG verweisen am
Ende vielfach wenigstens faktisch in das einschlägige Sozialrecht, also das Kinder- und Jugendhilferecht,
§§ 27 ff. SGB-VIII. Weiter und in aller Deutlichkeit kann man an § 71 JGG
denken, der das Kinder- und Jugendhilferecht unmittelbar in das Strafrecht hereinholt beziehungsweise
strafrechtliche Alternativmaßnahmen zu dessen Gunsten zurücknimmt. Die Wegweisungen
des Jugendstrafrechts sind offensichtlich.

Das Jugendstrafrecht ist in seiner Gesamtkonzeption ein also ganz und gar unprätentiöses und
bescheidenes Recht, das die Verantwortung gerne dort verortet sehen würde, wo sie – aus seiner
Sicht – immer schon besser aufgehoben gewesen wäre: im Familien- und im Sozialrecht. Das
zeigt uns § 45 JGG in aller Deutlichkeit. Das JGG kann sang- und klanglos die Akten schließen,
wenn die anderen ihre Aufgabe erledigt haben: „Der Staatsanwalt sieht von der Verfolgung ab,
wenn eine erzieherische Maßnahme bereits durchgeführt oder eingeleitet ist und er weder eine
Beteiligung des Richters […] noch die Erhebung der Anklage für erforderlich hält.“ – § 45
Abs. 2 Satz 1 JGG. Das hat etwas mit einem großen Bewusstsein des Jugendstrafrechts für seine
dunklen Seiten (Ralf Kölbel) – oder weniger pathetisch: für seine Schwächen und möglichen
Nebenwirkungen zu tun: Hohe (sei es vielleicht auch nur symbolisch-hohe) Eingriffsintensität,
Stigmatisierung, Labeling und so weiter…

Angemerkt sei an dieser Stelle aber auch: Das JGG propagiert gerade nicht Folgenlosigkeit und
Geschehen-Lassen, sondern wünscht sich die frühe Verantwortungsübernahme der anderen
Teilrechtsordnungen. Sie erinnern sich an unseren zweiten Ausgangspunkt von Vorhin – die
Präventionsnotwendigkeit. Auch aus der Binnensicht des Jugendstrafrechts soll jemand auf die
begangene Straftat – präventiv – reagieren. Das Jugendstrafrecht sagt aber – vielleicht zunehmend
desillusioniert – auch: Wenn sonst keiner die Verantwortung übernimmt, muss ich das
machen. Das Strafrecht und auch das Jugendstrafrecht ist das unterste Netz, das auf jeden Fall
die Verantwortung übernehmen muss, weil es genau dafür gemacht ist. Eine Aufforderung an
die anderen Teilrechtsordnungen, die Hände in den Schoß zu legen, ist das aber nicht. Man
kann auch das wieder technischer ausdrücken: Subsidiarität und ultima ratio. Und umgekehrt
heißt das auch: Es gibt nur einen Strafrechtsdispens, wenn ihn die anderen Teilrechtsordnungen
möglich machen. Das steht in direkter Abhängigkeit.

Ob der Wunsch des Jugendstrafrechts nach eigener Überflüssigkeit immer so recht von den
anderen Teilrechtsordnungen vernommen und ernstgenommen wird – da habe ich meine Zweifel.
Vielleicht haben wir es da mit einem der großen Kommunikationsprobleme zwischen den
Teilrechtsordnungen zu tun. Oder mit Trägheit oder Bequemlichkeit des Systems. Das mit der
Verantwortungsübernahme der anderen Teilrechtsordnungen scheint mir nämlich – ich will offen
sein – seit jeher so eine Sache. Strafrechtsreaktive Verantwortungsübernahmen mögen noch
ganz gut funktionieren. Die Ausleitung über § 45 JGG klappt gut und meist mit Hilfe der Jugendgerichtshilfe,
die – wenn man sich den Wortlaut des § 45 Abs. 2 Satz 1 JGG genauer anschaut:
eigentlich zu spät – hier als janusköpfige Mittlerin zwischen den Teilrechtsordnungen
eine wichtige und zentrale Funktion einnimmt. Anders sind die stabil hohen Diversionsraten im
Jugendstrafrecht kaum zu erklären. Bei einer proaktiven und nicht durch das Strafrecht angestoßenen
Verantwortungsübernahme der anderen Teilrechtsordnungen scheint mir die Sache
harziger zu werden. Ich kann es Ihnen nicht mit Zahlen und Statistiken, sondern an dieser Stelle
nur mit stark subjektiven Eindrücken wiedergeben. Und ich lasse mich mehr als gerne eines
Besseren belehren. Aber ich will es einmal in den zugespitzten Satz einer Jugendstaatsanwältin
packen, die mir unlängst mit Blick auf Kinderdevianz und Strafmündigkeitsgrenzen sagte: „Die
anderen? Die warten alle, bis der 14 ist und wir die Sache richten müssen. Ich habe nicht nur
einen Fall, wo ich deswegen froh gewesen wäre, wir hätten früher was machen können.“ Zitatende.
Das muss übrigens nicht am Unwillen der „anderen“ liegen. Die Versorgungsstrukturen
sind schon wenig belastbar. Auch da gilt die Lehre vom Strafrecht als letzten Auffangnetz: Den
Jugendstrafvollzug muss es geben und es muss auch genug von ihm geben.

***

Meine Damen und Herren,
ich beobachte das nicht nur im Bereich der Kinder-, Jugend- und Heranwachsendendevianz. In
der psychiatrischen Versorgungslandschaft führen wir ja gerade große Debatten über die
Zwangsfreiheit. Die Allgemeinpsychiatrie hat sich da schon weit hervorgetan und sich ihrer
9/12
allgemeinheitsbezogenen, „ordnungspolitischen“ Funktion im Selbstverständnis schon vielfach
entledigt. Dort hilft man Menschen, die sich helfen lassen wollen. Ich überzeichne, aber da ist
schon was dran. Begründet wird dies meist mit einem nicht ganz so tragfähigen Verweis auf
das UN-Behindertenrechtskonvention. Alle anderen, bei denen es mit dem Helfen-Lassen
schwieriger ist, sind so schnell wieder aus dem System raus, wie sie drin gewesen sind. Und
manchmal bekommen sie noch ein Hausverbot hinterher. Ich überzeichne wieder aus Effektgründen.
Die Forensik wünscht sich jetzt auch zunehmend eine solche Kultur der zwanglosen
Hilfe. In den § 64 StGB – die strafrechtliche Unterbringung in der Entziehungsanstalt – sollen
nach der Vorstellung mancher Vertreter nur noch Verurteilte kommen, die das zuvor beantragt
haben. Den § 63 StGB schaffen wir eh am besten ab, so eine andere plakative Forderung aus
jüngerer Zeit.

Ich bin mir nicht sicher und diskutiere das gerne mit Ihnen: Im Sozialrecht für junge Menschen
(das heißt ja nicht umsonst Kinder- und Jugendhilferecht), aber auch im Familienrecht scheint
mir bisweilen ein ganz ähnliches Selbstverständnis des reinen „Hilfeleistens“ anzutreffen zu
sein. Diejenigen, bei denen freundliche Hilfe nicht gleich ganz gut funktioniert, bei denen wartet
man, bis das Strafrecht übernimmt.

Meine Damen und Herren,
Probleme und Aufgaben verschwinden nicht, wenn man sich selbst für unzuständig erklärt. Das
wäre jetzt jedenfalls eine meiner stabilen Alltagserfahrung. Sie verlagern sich nur und landen
am Ende im letzten gespannten Auffangnetz. Ob sie da am besten aufgehoben sind, ist eine
andere Frage. Bei der psychiatrischen Versorgung erleben wir gerade mal wieder eine Forensifizierungswelle
und, wenn sich die aktuellen Reformstimmen durchsetzen sollten, wird vielleicht
bald das Ganze von der Forensik noch weiter an den Strafvollzug und ganz am Ende an
die Sicherungsverwahrung weitergegeben. Ich befürchte dahin weist etwa der jüngst vorgelegte
Vorschlag der DGSP zu Abschaffung der forensischen Maßregeln. Das kann man so machen.
Das Problem verschwindet aber nicht, ich verlagere nur die Zuständigkeit für die Problemlösung.
Und diese Verlagerung verträgt sich dann nicht so recht mit einer allzu großen Strafrechtsskepsis:
Das Strafrecht als das Schmuddelkind unter den Teilrechtsordnungen, aber schon
ein Schmuddelkind, das die Dinge richten soll, die die anderen nicht machen wollen. Dass in
der Zeit, die eine Problemverschiebung Richtung Strafrecht braucht, noch manche ungute Sache
passieren kann, will ich nur mal am Rande anmerken. Denn: Vielleicht wäre manche krisenhafte
Zuspitzung durch einen früheren beherzten Zugriff zu vermeiden gewesen – und zwar
im Interesse des Betroffenen, aber vor allem auch im Interesse Opfer einer solchen Zuspitzung.
Und dass Zwang und Eingriffsinstensitäten im letzten gespannten Netz notwendigerweise geringer
und die erforderlichen Interventionen dort ganz selbstverständlich besser aufgehoben
wären, scheint zweifelhaft. Mit Blick auf das Maßregelrecht: Wenn Menschen am Ende in einer
unbefristeten stationären Unterbringung nach § 63 StGB landen, weil sie vorher durch die Netze
gefallen sind, dann werden Eingriffsintensität und Zwangswirkung maximal. Lebenslange Unterbringung
droht da. Vielleicht sollten wir endlich beginnen, Eingriffsintensitäten und
Zwangswirkungen im Gesamtsystem zu bewerten und zu reduzieren und nicht punktuell einzelne
Maßnahmen abzumildern.

***
Meine Damen und Herren,
für das Jugendstrafrecht gilt da nichts anderes: Dort kommt an, was vorher nicht abgefangen
worden ist. Wenn wir nach der Zurückdrängung von Strafrecht rufen – ich habe alle Sympathie
dafür –, dann müssen andere früher und entschlossener in die Verantwortung.

***
Eine solche Verantwortungsübernahme ist nicht nur eine Sache des rechtlichen Regulierens.
Manchmal ist es auch eine Sache der Haltung und der „Systemkultur“. Hole ich als Schulleiter
die Polizei, wenn eine Schülerin ein politisch fragwürdiges Video verbreitet. Damit die Polizei
dann ein „präventives Aufklärungsgespräch“ führt. So wurde das genannt und so ist das geschehen
im Februar dieses Jahres an einer Schule in Mecklenburg-Vorpommern. Auch das ging
durch die Presse. Oder regle ich so etwas als Schule vielleicht doch besser in eigener Verantwortung.
Machen wir die Schulhofprügelei und den Kinderdiebstahl wirklich zur Sache des
Strafrechts oder lösen wir das mit anderen und eigenen Mitteln? Man kann das noch weiterspinnen:
Das Sozialrecht für junge Menschen könnte sich mehr und mehr als ein robustes Hilferecht
verstehen. Hilfe impliziert Freiwilligkeit, das ja. Freiwilligkeit entbindet aber nicht von
Motivationsarbeit und Entschlossenheit zur Hilfeleistung. Dass das bisweilen den Knoten löst
und man die Bereitschaft, sich helfen zu lassen, wecken kann, zeigt sich aus meiner Sicht abermals
an der jugendstrafrechtlichen Diversion. Mit der Entschlossenheit des Strafrechts im Hintergrund
wird Hilfe dann doch manchmal angenommen. Warum nicht früher und auch ohne die
Drohkulisse des Strafrechts?

Ohne Zweifel gibt es aber auch rechtliche Stellschrauben, an denen wir drehen können, damit
das Jugendstrafrecht nicht die erste echte, sondern die letzte und nur im Ausnahmefall anzusteuernde
Anlaufstelle ist. Ich will Ihnen das beispielhaft am Ende meines Vortrags noch einmal
an der Strafmündigkeit illustrieren: Ich gehe stark davon aus, dass wir demnächst wieder einmal
über die Senkung der Strafmündigkeitsgrenze sprechen werden – also über die Absicht, mehr
junge Menschen in das Strafrecht zu holen. Die konservativ regierten Bundesländer haben dazu
letzthin eine Studie zur Reformvorbereitung gefordert. Die Zahlen der letzten Jahre und die
medial wirksamen Einzelfälle legen das zudem nahe. Ob das vernünftig und eine Konsequenz
ist, die durch die Zahlen und Einzelfälle wirklich notwendig wird, ist eine andere Frage. Ich
glaube, die Diskussion wird mit Wucht wiederkommen. Und, das sage ich Ihnen ganz offen,
ich finde diese Diskussion nicht verwerflich und wir sollten sie offen führen – wenn wir dreierlei
berücksichtigen:

1) Wir müssen vom gewünschten Ergebnis her denken und dabei diejenigen Dinge, die
nicht gut funktionieren, möglichst herausarbeiten und klar benennen. Das fordert übrigens
schon an dieser frühen Stelle eine belastbare empirische Grundlage. Viele Defizite
und Probleme, die ich heute einfach so in den Raum gestellt habe, kann ich derzeit seriös
empirisch – und damit hinreichend für eine gute rechtspolitische Entscheidung – gar
nicht untermauern. Ich behaupte sie einfach mit einem gewissen persönlichen Evidenzund
Plausibilitätsanspruch. Ich habe das schon klargestellt, betone es aber gerne noch
einmal. Was heißt das für die Strafmündigkeit konkret? Naja, beispielsweise: Was verbirgt
sich eigentlich hinter den ansteigenden Fallzahlen? Haben wir tatsächlich eine
Hilfe- und Präventionsdefizit bei den unter Vierzehnjährigen, weil für sie niemand entschlossen
die Verantwortung übernimmt? Fehlt es an Versorgungsinfrastrukturen für
diese Gruppe und wenn ja: an welchen? Immer öfter höre ich von erfolglosen Versuchen,
Kinder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie unterzubringen. Oder schließlich
auch: Haben wir – bei besonders schwerem Unrecht – vielleicht auch ein Bewältigungsdefizit?
Sie erinnern sich an meine Ausgangspunkte.

2) Wir müssen das ganze Recht in den Blick nehmen. Auch das folgt aus meinen Aufgangspunkten.
Schön ist daran, dass es Spielräume eröffnet. Da ist nämlich wenig alternativlos
und viel gestaltbar: Wir müssen in unserer Regelungsarchitektur, beim Drehen
an den Stellschrauben – wählen Sie das Sprachbild, das Ihnen besser taugt – die Verantwortung
zwischen den Teilrechtsordnungen sinnvoll und zweckmäßig verteilen und
dort die jeweils passenden Instrumente verankern. Die Teilrechtordnungen sind dabei
untereinander nicht beliebig austauschbar, sie haben ihre Stärken und Schwächen. Sie
können sich ergänzen oder gegenseitig in die Quere kommen. Anstreben müssen wir
eine Lösung ohne Interferenzen, mit viel guter Wirkung und wenig schlechter Nebenwirkung.
Und um all das gut abzuschätzen zu können, braucht es einerseits rechtlichen
Überblick und andererseits wieder belastbare Empirie. Schlicht Erfahrung. Für unsere
Frage der Strafmündigkeitsgrenze müssen wir uns da gar nicht so wenige Dinge gut
überlegen – nur eine Fragenauswahl: Brauchen wir für besonders schweres Unrecht das
Strafrecht, weil nur dieses die geforderte rückblickende Unrechtsbewältigung leisten
kann? Und gibt es für diese Unrechtsbewältigung ein wirkliches Grenzalter? Wäre es
sinnvoll, die Strafmündigkeitsgrenze nach vorne zu verschieben, um die Prävention zuverlässiger
zu machen? Könnte man zu diesem Zweck mehr jüngere Menschen in das
Strafrecht holen, dieses Strafrecht aber dann in sich zurücknehmen und anpassen? Das
wäre ja auch ein Modell: Viele junge Menschen in den Anwendungsbereich hereinholen
und damit die Verlässlichkeit des Strafrechts nutzen, dann aber in den Rechtsfolgen
rechtlich selektiv und faktisch zurückhaltend sein. In diese Richtung deutet der Schweizer
Weg mit seiner Strafmündigkeit ab zehn Jahren. Wäre etwa ein leichtes „Vor-Jugendstrafrecht“
mit starker Rolle der Jugendgerichtshilfe denkbar? Oder spricht dagegen,
dass man selbst dann die „dunklen Seiten“ des Strafrechts evoziert? Wenn deswegen
eine solche strafrechtliche Lösung möglicherweise nicht erstrebenswert sein sollte,
wie könnten wir dann eine klarere Verantwortlichkeit des Familienrechts einfordern?
Bayern wollte vor fast 25 Jahren in einer gescheiterten Gesetzesinitiative mal eine familienrechtliche
Lösung für unser Strafmündigkeitsproblem – dergestalt, dass die Begehung
einer Straftat immer auch die Vermutung einer Kindeswohlgefährdung begründet
und dadurch zuverlässig das – im besten Fall geweitete – Instrumentarium des
§ 1666 BGB auf den Plan ruft. Und könnte das dann auch für alle Jugendlichen so gelten?
Mehr Familienrecht, weniger Strafrecht für alle. Und wenn man das machen wollte,
wie verhinderte man Doppelzuständigkeiten zwischen Familien- und Jugendstrafrecht?
Wer hat Vorrang und wer entscheidet darüber? Die Gegenfrage wäre aber genauso zu
stellen: Ist ein Zurückdrängen des Jugendstrafrechts durch das Familienrecht nicht
eigentlich nur ein Net-Widening? Ein kritischer Ausbau früher Zwangs- und Zugriffsmöglichkeiten?
Sie sehen: Ganz einfach ist das alles nicht. Aber man könnte eigentlich
schon etwas Sinnvolles daraus basteln.

3) Wir müssen bereit sein, Vorannahmen zu überdenken und unsere Lösungen ständig
nachzubessern oder auch mal deutlich zu korrigieren. Warum? Weil wir immer Entscheidungen
unter Unsicherheit und notgedrungen unter einem Vorläufigkeitsvorbehalt
treffen. Das geht gar nicht anders. Und das ist sogar dann der Fall, wenn die empirische
Entscheidungsgrundlage ausnahmsweise mal ganz gut sein sollte. Dinge können sich
ändern. Wissenschaft samt ihren Ergebnissen entwickelt sich weiter. Regelungsgefüge
in all ihrer Komplexität können zu Ergebnissen führen, die wir nicht geahnt haben. Das
verlangt nach einer fortlaufenden rechtlichen Bewertung und setzt abermals eine rechtstatsächliche
Evaluation und am Ende einen rechtpolitischen Änderungswillen voraus.
Dafür braucht es vielleicht zuvorderst Demut vor der großen Aufgabe, ein Bewusstsein
für die eigene Verantwortung und die Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen.

V.
Meine Damen und Herren,
1921 hielt der deutsche-jüdische Steuerrechtler Kurt Ball in seiner Studie „Vom neuen Weg der
Gesetzgebung“ fest – Zitat: „Es fehlt die wissenschaftliche Lehre von der guten Gesetzgebung.
Nur an seinen Fehlern kann man lernen. Keine Zeit war so geeignet, diese Lehre auszubilden,
wie die unsere.“ In den 70er Jahren konstatierte der Schweizer Strafrechtler Peter Noll dann in
seiner Gesetzgebungslehre, dass sich daran in mehr als 50 Jahren wenig verändert habe. Wieder
gut 50 Jahre später wäre es vielleicht nicht die schlechteste Idee, die Sache mit den guten Gesetzen
wieder einmal in die Hand zu nehmen.
Herzlichen Dank!

Sozialtherapie im Jugendstrafvollzug: Ausgang oder Drehtür?

DR. JOSCHA HAUSAM, Psychologe
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité

Jugendmaßregelvollzug: Kinder in der Forensik?

MICHAEL SCHWARZ, Ansbach
Psychologe, Bezirksklinikum Ansbach

.

Geschlossene Unterbringung: Zwangsweise Jugendhilfe?

PROF. DR. NICOLE ROSENBAUER, Erfurt
Professorin für Soziale Arbeit, Schwerpunkt Kinder- u. Jugendhilfe, FH Erfurt

Häuser des Jugendrechts. Alle Interessen unter einem Dach?

DR. MARCUS SCHAERFF, Münster
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Kriminalwissenschaften, Universität Münster

Jugendstrafrecht: Aktuelle Herausforderungen und Reformperspektiven

DR. THERESIA HÖYNCK, Kassel
Professorin für Kinder- und Jugendrecht, Universität Kassel,
Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V.

Altersgrenzen verschieben?

DR. ERIK WEISS, Köln
Akademischer Rat, Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität zu Köln

A. Einleitung

Zunächst einmal möchte ich mich ganz herzlich für die Einladung und die Möglichkeit bedanken, an dieser spannenden und bereichernden Tagung teilzunehmen.

Das Thema meines Statements, die Diskussion um die Altersgrenzen im (Jugend-)Strafrecht, hat jüngst wieder einmal Eingang in die rechtspolitische Diskussion gefunden. Grund hierfür ist ein Vorstoß von diversen CDU-Politkern, u.a. zwei CDU-Ministern (Justiz und Inneres) aus Baden-Württemberg. Diese haben medienwirksam angekündigt, auf der Justizministerkonferenz Anfang Juni in Hannover die Frage nach der Strafmündigkeitsgrenze, d.h. dem Alter, ab dem man strafrechtlich belangt werden kann, auf die Agenda zu stellen. Einerseits wird argumentiert, dass es einer wissenschaftlichen Überprüfung des derzeit geltenden Strafmündigkeitsalters von 14 Jahren bedarf. Diese Forderung liegt zunächst einmal auf einer Linie mit der von der aktuellen Bundesregierung versprochenen „evidenzbasierten Kriminalpolitik“ und ist für sich genommen nicht problematisch. Allerdings ist es mit der Offenheit der Prüfung nicht so weit her: Insbesondere unter Rekurs auf aktuelle Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wird das erhoffte Ergebnis der Prüfung – eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters – bereits auf unterschiedlichen Kanälen lautstark gefordert. Diese Forderung ist nicht neu, man könnte sie auch als „Evergreen“ der Kriminalpolitik bezeichnen. Ebenso verhält es sich mit der Diskussion um das andere Ende der Altersgrenzen, insbesondere der Frage nach der strafrechtlichen Behandlung Heranwachsender, d.h. 18- bis einschließlich 20-Jähriger. Beiden Fragen möchte ich mich in meinem Statement widmen. Aufgrund der Kürze der Zeit werde ich mich darauf beschränken, einige wenige aus meiner Sicht bedeutsame Aspekte in der Debatte hervorzuheben. Zudem werde ich ausschließlich Vorschläge aufgreifen, die Änderungen innerhalb des geltenden Rechts betreffen. Ausgeklammert werden demnach Reformideen, die mit Modifikationen auf der Rechtsfolgenseite einhergehen.

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B. Zu dem Umgang mit der PKS
Vorab erlauben Sie mir ein paar kurze Bemerkungen zur Einordnung einzelner Zahlen der PKS für das Jahr 2023. Laut der Statistik wurden insgesamt 104.233 „tatverdächtige“ Kinder unter 14 Jahre ermittelt. Hierbei handelt es sich im Vergleich zum Jahr 2022 (93.095) um einen Zuwachs von 12 %. Die Anzahl der „tatverdächtigen“ Kinder liegt auch deutlich über dem Niveau des letzten Jahres ohne Corona-bedingte Einschränkungen 2019 (72.890). Im Vergleich zu den dort aufgeführten Zahlen ist sogar ein Zuwachs um 43 % zu verzeichnen.

Dieser auf den ersten Blick besorgniserregende Befund, relativiert sich indes beim genauen Hinsehen. Zum einen gilt es die grundsätzlichen Einschränkungen der Aussagekraft der PKS zu beachten. Als Ausgangsstatistik der polizeilichen Tätigkeit unterliegt sie diversen Verzerrungsfaktoren (z.B. Beschränkung auf das Hellfeld, Kontrollverhalten der Polizei sowie Anzeigebereitschaft). Zum anderen sind die Zahlen in größere Zeiträume einzusortieren. So liegt der Wert beispielsweise deutlich unter dem Höchststand im Jahr 1998, in dem 152.774 „tatverdächtige“ Kinder verzeichnet wurden. Zudem macht ein Anstieg über ein bzw. zwei Jahre noch keinen Trend aus: So war nach einem Anstieg in den Jahren 2014 bis 2016 bis zum Jahr 2020 ein Rückgang unter das Niveau von 2014 zu verzeichnen. Schließlich gibt es auch – vorbehaltlich ihrer empirischen Belastbarkeit – plausible Hypothesen, die den Anstieg zu erklären vermögen: Die Schaffung neuer Tatgelegenheiten und Konfliktsituationen durch den Wegfall der pandemiebedingten Einschränkungen sowie Entwicklungsdefizite und psychische Belastungen infolge der pandemiebedingten Einschränkungen, um nur zwei zu nennen.

Dass Teile der Politik die Zahlen der PKS gleichwohl in ihrem Interesse, im hiesigen Kontext für den Vorschlag einer Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters, „deuten“, ist – wie jedes Jahr – einer evidenzbasierten Kriminalpolitik äußerst unwürdig.

C. Normative Grundlagen
Nach diesen Randbemerkungen möchte ich zunächst die normativen Prämissen meines Statements präsentiert. Altersgrenzen im Recht und im Speziellen im Strafrecht sind immer eine gesetzgeberische Setzung. Entgegen einer verbreiteten Ansicht folgt daraus indes nicht, dass der Gesetzgeber völlig frei darin ist, die Grenzen ausschließlich an eigenen Überzeugungen auszurichten. Grund hierfür sind die aus Art. 3 GG folgenden Anforderungen an die Gesetzestechnik der sog. materiellen Typisierung. Bei dieser wird ein Lebenssachverhalt aufgrund einer vereinfachten Würdigung unter bewusstem Außerachtlassen der tatsächlichen Umstände unwiderlegbar als gegeben angesehen. Da der Gesetzgeber notgedrungen generalisieren muss, darf er nach der Rechtsprechung des BVerfG Regelungen grundsätzlich nach typisierten Befunden erlassen. Er muss sich dann aber am Regelfall orientieren. Dieser ist auf Grundlage einer umfassenden Auswertung des vorhandenen Erfahrungs- und Datenschatzes zu bilden. Insgesamt müssen die Vorteile einer Typisierung zu den jeweiligen Nachteilen in einem „rechten Verhältnis“ stehen. Anhand dieses Maßstabes möchte ich daher im Folgenden
– freilich kursorisch – auf die Fragen der jugendstrafrechtlichen Mindest- und Oberaltersgrenze eingehen.

D. Zur Diskussion um das Strafmündigkeitsalter
§ 19 StGB lautet in seiner aktuellen Fassung wie folgt: Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist. Es handelt sich um einen klassischen Fall einer materiellen Typisierung: Unabhängig von den tatsächlichen Gegebenheiten wird unwiderlegbar vermutet, dass unter 14-Jährige (in einem zuschreibenden Sinne) noch nicht fähig sind, das Unrecht einer Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Eine Verschiebung dieser Altersgrenze auf – wie häufig gefordert – 12 Jahre wäre im Lichte der präsentierten Vorgaben demnach von zwei Voraussetzungen abhängig:
1) Die Annahme, dass bereits 12-Jährige überwiegend (in einem zuschreibenden Sinne) die für die Begehung einer Straftat notwendige Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufweisen, müsste mit dem vorhandenen Erfahrungs- und Datenschatz übereinstimmen.
2) Die Vorteile einer solchen Typisierung müssten in einem rechten Verhältnis zu den mit ihr einhergehenden Nachteilen stehen.
Beide Voraussetzungen sind indes nach hiesiger Einschätzung nicht erfüllt.
Zu 1) Nach dem aktuellen Stand der Entwicklungsforschung spricht wenig dafür, dass die Mehrheit der 12- und 13-Jährigen bereits die schuldbegründenden Fähigkeiten aufweisen. Im Gegenteil deuten einschlägige Studien darauf hin, dass junge Menschen tendenziell erst später in der Lage sind, Verhalten moralisch adäquat zu bewerten. Auch und gerade hinsichtlich der Steuerungsfähigkeit ist davon auszugehen, dass diese tendenziell später als früher in einem ausreichenden Ausmaß ausgebildet wird. Hierfür streiten nicht zuletzt neurowissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich der Gehirnreifung in Arealen, die u.a. für die Impulskontrolle von Relevanz sind.
Doch selbst wenn dies anders wäre, wäre jedenfalls die zweite Voraussetzung einer materiellen Typisierung nicht erfüllt.

Zu 2) Eine derartige Reform würde nämlich mit größeren Nach- als Vorteilen einhergehen:
– Befürworter einer Absenkung argumentieren primär mit einer Verhinderung von Straftaten durch Abschreckungseffekte einer Strafandrohung. Abgesehen von der normativen Zulässigkeit derartiger Erwägungen sind entsprechende Effekte jedoch insbesondere bei Kindern unrealistisch. Denn deren Verhalten ist stärker durch
Impulsivität als durch nüchterne Kalkulation geprägt. Zudem wirkt sich eine frühzeitige strafrechtliche Intervention tendenziell nachteilig auf die Legalbewährung junger Menschen aus und kann demnach die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Damit entfällt aber das von den Befürwortern einer Ausdehnung der Strafmündigkeit angeführte Hauptargument in Gänze.
– Auch das teilweise ins Feld geführte Argument der Gerechtigkeit bzw. berechtigter Opferbelange bei schweren Straftaten von Kindern ist bei Lichte betrachtet nicht überzeugend. Dass schwere Straftaten erhebliche Einschnitte im Leben betroffener Personen bzw. ihrer Angehöriger darstellen, ist unbestritten. Indes erscheint mir die hinter diesem Argument stehende Grundannahme nicht plausibel zu sein: Dass es gesellschaftlichen Erwartungen entspricht, noch jüngeren, sich entwickelnden Kindern, die weitgehend von äußeren Einflüssen abhängig sind, für Fehlverhalten mit dem „schärfsten Schwert des Staates“ – insbesondere Freiheitsentzug – zu begegnen. Im Gegenteil manifestiert sich in unserem rechtlichen Umgang mit Kindern die Tendenz, ihre eingeschränkte Verantwortlichkeit anzuerkennen und sie in ihrer Entwicklung – insbesondere bei Entwicklungsstörungen – adäquat zu unterstützen. Besonders deutlich tritt das in den Unterstützungsmöglichkeiten der Jugendhilfe zutage. Darüber hinaus gilt es die erheblich resozialisierungsfeindlichen Potentiale eines Freiheitsentzugs einzubeziehen.
– Im Übrigen wäre mit einer Ausdehnung jugendstrafrechtlicher Verfahren infolge notwendiger Begutachtungsprozesse zur Schuldfähigkeit zu rechnen – eine Konsequenz, die weder im Interesse junger Menschen noch im Interesse der Justiz wäre.
– Schließlich bewegt sich Deutschland mit seiner aktuellen Regelung im internationalen Vergleich im Mittelfeld und wird zudem einer Forderung des UN-Ausschusses für Rechte der Kinder aus dem Jahr 2019 gerecht.

E. Zur Diskussion um die strafrechtliche Behandlung Heranwachsender
In der Diskussion um die strafrechtliche Behandlung Heranwachsender, d.h. 18- bis einschließlich 20-Jähriger reichen die Regelungsvorschläge von einer vollständigen Eingliederung Heranwachsender in das allgemeine Strafrecht über ein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des allgemeinen Strafrechts bis hin zu einer vollständigen Einbeziehung in das Jugendstrafrecht. Aus Zeitgründen möchte ich im Folgenden lediglich den
von mir bereits in meiner Dissertationsschrift präferierten Reformvorschlag präsentieren: die vollständige Einbeziehung Heranwachsender in das Jugendstrafrecht. Eine solche Regelung würde nach hiesiger Einschätzung den Anforderungen an eine materielle Typisierung gerecht werden.
Zu 1) Nach dem einschlägigen Forschungsstand wird überwiegend angenommen, dass die Mehrheit der Heranwachsenden in ihrer Entwicklung eher mit Jugendlichen als mit Erwachsenen vergleichbar ist. Die meisten Heranwachsenden sind noch in ähnlichem Maße prägbar und daher den individualisierbaren Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts besonders zugänglich. Die Adoleszenz-Phase verschiebt sich infolge der späteren Erfüllung sog. Entwicklungsaufgaben (Qualifikation, Aufbau stabiler sozialer Bindungen, Entwicklung von Regenerationsstrategien sowie soziale und politische Partizipation) immer weiter nach hinten. Diese Einschätzung steht auch im Einklang mit neueren neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Nach diesen dauert die Gehirnreifung in wesentlichen Arealen, insbesondere solchen, die für die Ausformung einer gefestigten Erwachsenenpersönlichkeit als zentral angesehen werden, noch im Laufe der 20er-Jahre an.
Zu 2) Die Typisierung in Form einer vollständigen Einbeziehung Heranwachsender in das Jugendstrafrecht würde zudem mit mehr Vor- als Nachteilen einhergehen. Im Folgenden kann ich nur ein paar stichwortartig benennen:
– Beseitigung der gravierenden Anwendungsunterschiede in der Praxis (Stichwort: „Nord-Süd-Gefälle“) und damit Schaffung von Rechtssicherheit
– Übereinstimmung mit den Empfehlungen des Europarates
– einheitliche Behandlung von vergleichbarer Kriminalität
– Harmonisierung mit der dem Strafrecht am nächsten kommenden Materie des Ordnungswidrigkeitenrechts (§ 98 Abs. 4 OWiG)
– Übereinstimmung mit dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers des JGG von 1953

F. Fazit
Im Ergebnis spricht wenig für eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters und vieles für eine ausnahmslose Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende. Es bleibt zu hoffen, dass die vielversprochene evidenzbasierte Kriminalpolitik zumindest im Bereich des Jugendstrafrechts endlich in die Tat umgesetzt wird. Eine verantwortungsvolle Gesellschaft reagiert auf schwere Straftaten junger Menschen nicht mit dem Ruf nach harten bzw. härteren Sanktionen, sondern mit einer individuell zugeschnittenen Unterstützung der sich in der Entwicklung befindlichen und in erheblichem Maße von anderen abhängigen Personen.

Sonderpädagogische Perspektiven

DR. STEPHANIE BLATZ, Würzburg
Akademische Oberrätin, Institut für Sonderpädagogik, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen erklärt sich zuständig für junge Menschen in belastenden und belasteten Lebenslagen, mit Beeinträchtigungen des Erlebens und Verhaltens, mit erschwerten psychosozialen Bedingungen der Teilhabe und mit spezifischen Förderbedarfen. Sie sieht ihre Aufgabe in der Verbesserung der individuellen Bedingungen dieser jungen Menschen und nimmt Einfluss auf deren Entwicklungs-, deren Lern- und Teilhabebedingungen und damit auf deren allgemeine Lebensbedingungen und ihre soziale Einbettung in die Gesellschaft.

Eine Verhaltensauffälligkeit, die sich im Laufe der Kindheit und Jugend manifestiert und entsprechend zu einer Verhaltensstörung eines jungen Menschen wird, erlaubt keine Vorhersage für das weitere Leben und auch nicht dahingehend, ob Jugendliche zukünftig straffällig werden. Zugleich aber kann ein Großteil straffälliger junger Menschen folgendermaßen beschrieben werden: Es handelt sich um Jugendliche mit einem hohen Potential destruktiver Dynamiken. Diese wiederum entwickeln sich aus schwerem Erleben von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angst heraus. Die Betroffenen ignorieren Moral und Gesetzesregeln und zeigen destruktiv normverletzendes Verhalten.

Die jungen Menschen haben in ihren Biografien oftmals bereits eine Vielzahl von Brüchen erlebt und im Sinne der Sonderpädagogik auch meist ein Konglomerat aus unterschiedlichen Förderbedarfen. Es handelt sich also um psychosozial hochbelastete junge Menschen, mit multiplen Problemlagen, die über Jahre hinweg Lebensstrategien erlernt und verfestigt haben, die aus Sicht der Gesellschaft als maladaptiv, wenn nicht gar im Sinne „schädlicher Neigungen“ zu bezeichnen sind.

Wenn das Vorliegen einer Verhaltensauffälligkeit sicherlich nicht automatisch eine spätere Delinquenz zur Folge hat, so kann doch festgestellt werden, dass viele junge Menschen, die im Sinne der Justiz straffällig werden, in ihrer Kindheit und Jugend Verhaltensauffälligkeiten oder Verhaltensstörungen entwickelt haben.

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Aus Sicht der Sonderpädagogik ist nun zu fragen, inwiefern es durch sonderpädagogische Arbeit und Intervention möglich ist, dass Kinder und Jugendliche, wie sie oben beschrieben wurden, erst gar nicht straffällig werden. Jan Hoyer konnte im Rahmen seiner Dissertation beschreiben, dass Kriminalität nur das Endprodukt problematischer Interaktionsprozesse ist. Den befragten Jugendlichen, so konnte er feststellen, fehlte es an Empathie, Vernunft und Reflexionsfähigkeit. Sie waren im Rahmen ihrer schulischen Laufbahn überfordert von den Anforderungen an bestimmte Verhaltensregeln und Leistungen. Zugleich war das schulische System überlastet mit den besonderen Bedürfnissen dieser Schüler. Oftmals ist das schulische Setting dominiert von Strafe und Ausschluss für diejenigen, die seinen Anforderungen und Regeln nicht entsprechen. Daraus folgt, dass die betreffenden Schüler sich immer mehr von dem System Schule aber auch dem Ort Schule entfernen, was schlechte Bildungsabschlüsse, keine Bildungsabschlüsse oder auch den Ausschluss aus beruflicher Bildung und damit aus bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zufolge hat.

Walkenhorst hat festgestellt, dass wir es im System der Sonderpädagogik durchaus damit zu tun haben, dass es nicht immer die adäquate Passung pädagogischer Arbeit für die jeweiligen Jugendlichen und Kinder gibt. Wir erleben, dass schwierige Fälle weiter verschoben werden und wir erleben, dass es zu Abbrüchen und damit zum Scheitern der Beziehung, Strukturen und Bindungen kommt. Der Begriff des Systemsprenger, wie ihn u.a. Menno Baumann geprägt und selbst kritisch hinterfragt hat, ist mittlerweile sehr aktuell. Allerdings muss hierbei hinterfragt werden, ob es tatsächlich möglich ist, dass ein Kind oder ein Jugendlicher ein institutionelles (Hilfe-) System sprengt oder ob nicht im System vorhandene Mängel und Indifferenzen vorhanden sind, die keine adäquate, sozialpädagogische und pädagogische Betreuung dieser Jugendlichen gewährleisten und man dem jungen Menschen nicht fälschlicherweise ein interpersonales Merkmal zuschreibt, ihn damit stigmatisiert.

Die Überforderung von schulischen als auch anderweitigen pädagogischen und sozialpädagogischen Institutionen und damit die zum Teil nicht vorhandene oder nur geringe Passung für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen kann dazu führen, dass diese Systeme auf Jahre hin gesehen scheitern, die Sozialisierung von Jugendlichen und deren Einbettung in unser Gesellschaftssystem nicht adäquat unterstützen und voranbringen können. Für die Jugendlichen kann dies zur Konsequenz haben, dass sie aus dem Kinder -und Jugendhilfesystem in das Strafverfolgungssystem wechseln. Woran (Sonder-) Pädagoginnen und (Sonder-)Pädagogen jahrelang gescheitert sind, soll dann im Sinne von Erziehung als Strafe und unter dem Überbegriff der Resozialisierung in einem noch rigideren System gelingen.

Zur Entlastung der Sonderpädagogik muss hier konstatiert werden, dass viele Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Verhaltensstörungen vom System der Sonderpädagogik überhaupt nicht erfasst werden können oder diesem auch nicht oder deutlich (zu) spät zugeführt werden. Sicherlich gibt es hier Ähnlichkeiten und Entsprechungen im System der Sozialpädagogik.

Ein Aufgabengebiet und somit eine wichtige Perspektive der Sonderpädagogik ist es also, sehr früh und präventiv zum Einsatz zu kommen und sich um Kinder und Jugendliche in ihren prekären Lebenslagen zu kümmern, ihnen adäquate, pädagogische Angebote machen zu können. Scheitert dieses Anliegen und Vorhaben, so kann es in letzter Konsequenz dazu führen, dass junge Menschen delinquentes Verhalten entwickeln und straffällig werden.

Auch in diesem Falle und im institutionellen Rahmen der Strafjustiz kann und könnte die Sonderpädagogik allerdings eine wichtige Rolle spielen. Der Unterricht im Jugendstrafvollzug wurde lange nicht als spezifische Schulform mit sonderpädagogischem Auftrag und mit sonderpädagogischem Selbstverständnis gesehen. Dies artikulierte Marcel Schweder 2014 so noch deutlich zurecht. Inzwischen hat sich an den Lehrstühlen mehrerer deutscher Universitäten ein deutliches Bewusstsein für den Bereich der Bildung und Erziehung im Jugendstrafvollzug entwickelt. Es gibt eine kleine, aber derzeit noch deutlich anwachsende Reihe an spezifischen Publikationen und im Jahr 2019 hat sich im Rahmen der jährlich stattfindenden Bundesdozierendenkonferenz in Berlin ein Arbeitskreis mit dem bisherigen Arbeitstitel „Jugenddelinquenz/ Jugendstrafvollzug/ Strafvollzug“ gebildet. Man kann also festhalten, dass hier inzwischen ein deutliches wissenschaftliches Forschungsinteresse von Seiten der Sonderpädagogik besteht.

Wenn nun die Frage nach Rolle und Aufgabe der Sonderpädagogik im Rahmen des Strafvollzuges gestellt wird, so muss diese darin bestehen, strafgefangene Jugendliche in erster Linie als Lernende anzusehen und ihnen individuell abgestimmte Lernangebote, Lernkontexte und Lernsettings zur Bewältigung ihrer altersspezifischen Entwicklungsaufgaben zu machen. Walkenhorst und Fehrmann haben dies folgendermaßen formuliert: „Letztlich lebt die vollzugliche Arbeit als Bildungs- und Erziehungsarbeit von der Hoffnung und dem Zutrauen, in die Fähigkeiten des Menschen und damit aller Beteiligten, sich weiter und positiv entwickeln zu können. Allerdings ist der Strafvollzug zweifellos ein Ort, welcher auf den ersten Blick wenig Anlass zu einem optimistischen Menschenbild gibt.“

Mit Bezugnahme auf Birgit Herz und Roland Stein fasste ich mit drei weiteren Kolleginnen in einer Arbeitsgruppe die Aufgabe von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen 2021 folgendermaßen zusammen:
„Es gilt, mit einem hohen Maß an Anwaltschaft und Identifikation für einen marginalisierten und von kohärenten Bildungverläufen in der Regel ausgeschlossenen Personenkreis zu vermeiden, dass die Zeit der Inhaftierung eine dystophisch-bildende Lebenserfahrung wird (…). Dieses Mandat kann und sollte von der Sonderpädagogik federführend übernommen werden, denn eines ihrer allgemeinen Ziele, „den Einzelnen in Erziehung, Bildung und Sozialisation auf vielfältige individuelle und gesellschaftliche Aufgaben vorzubereiten und zu verantwortlichem, selbsttätigem Verhalten zu ermächtigen“ gilt es im Jugendstrafvollzug umzusetzen.“

Ich möchte diese sonderpädagogischen Statements in meinen weiteren Ausführungen konkretisieren. Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen verfügen über ein spezifisches Wissen über Entwicklungsverläufe von Kindern und Jugendlichen und sind darauf geschult, das Erleben und Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu reflektieren, wobei sie auch ihre eigene emotionale Involviertheit zu reflektieren suchen und Fachkräfte darin anleiten können. Sie können Unterstützung bieten im Umgang mit der Entstehung von Gruppendynamiken, mit Unterrichtsstörungen und Lernbeeinträchtigungen. Hier können sie unterrichtsspezifische Kenntnisse und didaktische Aspekte einbringen. Sie können ein Co-Teaching und kollegiale Beratung anleiten und anbieten. Ein wesentlicher ihrer Arbeitsbereiche ist die sonderpädagogische Diagnostik und eine sich daraus ergebende individuelle Förderung junger Menschen, welche sie durchführen, anleiten und evaluieren. Im Sinne eines interaktionistischen Verständnisses bezüglich der Entstehung von Verhaltensstörungen, legen Sie in ihrer Arbeit besonderen Wert auf die Ausweitung von Kontakten zum sozialen Umfeld (Familienangehörige, Lehrkräfte, Mitschülerinnen und Mitschüler, Peers, Sportvereine, …), um eine Rückführung oder Rückschulung nahtloser zu ermöglichen. Im Bereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen hat das Prinzip des Durchgangs einen hohen Stellenwert, der auch hier von Bedeutung ist, der aber sicherlich nur in enger Zusammenarbeit mit Professionellen anderer Fachdienste gelingen kann. Auch diese Netzwerkarbeit ist genuine Aufgabe von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen im Fachbereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen.
Aus Sicht der Sonderpädagogik wären einige Gegebenheiten, Annahmen und Regularien im Jugendstrafvollzug zu überdenken und bestenfalls anzupassen. Dies soll abschließend argumentativ dargelegt werden:

Es wäre unter Umständen sinnvoll, noch weiter vom Begriff der Erziehung im Kontext des Jugendstrafvollzuges abzuweichen und den der (individuellen) Förderung zu priorisieren. Der Erziehungsgedanke der Jugendstrafe impliziert einen eher rigiden und machtorientierten Erziehungsbegriff. Ersetzte man diesen zunächst einmal durch den der Förderung, so ginge dies mit einer positiveren Sicht auf die jungen Menschen einher und mit der Annahme, dass bei ihnen grundsätzlich aufgrund ihres Alters ein Entwicklungspotential vorhanden ist, das es in Zusammenarbeit und unter Partizipation der jungen Menschen auszubauen gilt. Zugleich bräuchte es aber eine intensive Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Erziehungsbegriff, die Roland Stein und ich bereits 2022 in der Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe skizziert haben . Ich möchte hier nicht intensiv darauf eingehen, nur darauf verweisen, dass es in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen von großer Bedeutung ist, zwischen Erziehung und Disziplinierung zu unterscheiden. Wenn ein gewünschtes Verhalten sofort eintritt, dann handelt es sich eher um Disziplinierungsmaßnahmen, die ihre Wirkung zeigen. Erziehung zeigt sich erst nach und nach in der Selbstständigkeit in den Handlungen eines jungen Menschen. Man kann nicht befehlen, dass sich ein anderer selbstständig verhält. Man kann ihn jedoch methodisches Vorgehen, Möglichkeiten für Problemlösungen, Selbstbeherrschung und anderes lehren und man kann ihn in Situationen bringen, in denen er selbstständig Handlungen durchführen muss und über diese Erfahrungen Selbstständigkeit gewinnen kann. Diese Situationen absichtsvoll zu gestalten, sollte Anliegen pädagogischer Arbeit im Justizvollzug sein.

Lernen findet in der Justizvollzugsanstalt nicht nur im Rahmen von Beschulung statt. Es wäre daher wichtig den jungen Menschen auch außerhalb des Klassenzimmers in der JVA einen Lern- und Erprobungsraum für emotionale und soziale Kompetenzen zu ermöglichen und ihnen in diesem Rahmen das Erleben von Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Hierfür bedarf es insbesondere einer Spezialisierung des pädagogischen Personals, was derzeit bereits durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Lehrerinnen und Lehrer im Strafvollzug initiiert und vorangebracht wird. Im Rahmen der Entwicklung von Handlungskompetenz ist es zunächst wichtig, bei den Mitarbeitenden jeglicher Professionen ein Verständnis dafür zu erzeugen, dass Jugendliche (Intensiv-)Straftäter meist vollkommen andere basale Lebenserfahrungen gemacht haben und diese den biografischen Erfahrungen von professionellen Lehrern, Pädagogen und anderweitigen Fachkräften deutlich widersprechen. Handlungskompetenz der Fachkräfte setzt sich insbesondere aus einem Wissen über die Komplexität und die Dynamik herausfordernder Situationen zusammen, einer professionellen pädagogischen Grundhaltung sowie der Fähigkeit, auch in diesen Momenten Beziehungsarbeit zu leisten, um mit den Jugendlichen arbeiten zu können.

Die Bildungsangebote im Jugendstrafvollzug sind meist insbesondere darauf gerichtet, dass den Jugendlichen ein Schulabschluss ermöglicht wird. Fraglos ist damit die Chance verbunden, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und damit das Risiko von Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung zu verringern. Oftmals verunmöglicht aber allein der relativ kurze Aufenthalt in Haft im Rahmen sogenannter Kurzstrafen die Partizipation an Bildungsangeboten. Diese sollten daher nicht nur auf das Erreichen eines Schulabschlusses ausgerichtet sein, sondern den jungen Menschen Erfolgserlebnisse ermöglichen und damit Selbstwirksamkeit erfahren lassen. Die Unterrichtsgegenstände und Themen sollten dazu genutzt werden, eine partielle Bearbeitung der inneren und äußeren Konflikte der Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen und gleichzeitig dazu, ihre Lernfähigkeit und soziale Entwicklungsfähigkeit wiederherzustellen. Wenn die jungen Menschen im Rahmen der Vollzugsplanung an der Auswahl der Lerninhalte beteiligt werden, so ist auch die Chance auf eine bessere Passung und Motivation der Teilnahme bei den Jugendlichen gegeben.

Dem Ansatz einer ganzheitlichen Entwicklungsförderung entspricht es, funktionale Verhaltens- und Denkweisen zu hinterfragen und die Entwicklung eines förderlichen Selbstkonzeptes anzuregen. Auch der Erwerb emotionaler Kompetenzen sollte angeregt werden. Häufig sind bei jungen Strafgefangenen Defizite im Emotionsausdruck, im Emotionsverständnis und in der Emotionsregulation festzustellen. Diese gilt es aufzuarbeiten.

Konzeptionell sollte intensiv darüber nachgedacht werden, zusätzlich und ergänzend zu schulischen Angeboten, die das Absolvieren eines Schulabschlusses intendieren, flexible Kurse und Lernmodelle für junge Menschen in Haft anzubieten, die Bildungsmöglichkeiten unabhängig von der Haftdauer anbieten. Inhaltlich sollte es darin um die Vermittlung informeller Kompetenzen (wie bereits ausgeführt) und informellen Wissens zur eigenständigen Lebensführung nach der Haft gehen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es das Kerngeschäft der Pädagogik bei Verhaltensstörungen ist, eine an gelingender Entwicklung orientierte schulische und außerschulische Pädagogik anzubieten. Somit sind also auch Bildung und Erziehung im Jugendstrafvollzug zum Aufgabenbereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen zu zählen. Allerdings lässt sich die genuine Arbeit dieser Fachrichtung nicht einfach auf den Jugendstrafvollzug transferieren, sondern es bedarf einer Anpassung und eines gesonderten Selbstverständnisses, das die Gegebenheiten in pädagogischen Zwangskontexten reflektiert und adaptiert, bzw. auch in ihren Vorgaben hinterfragt.

Baumann, M. (2012). Kinder, die Systeme sprengen. Hohengehren: Schneider.
Cornel, H. (2021). Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans im Knast – Kurze Antworten auf die Fragen von Ulrike Wössner am 8.11.2021 – Dokumenttion eines Interviews
Fickler-Stang, U., Weiland, K. (2020). Pädagogik im Zwangskontext – Ein Blick auf die pädagogische Professionalisierung in geschlossenen Institutionen. In: Stossun, A. Flihs, L., Zimmermann, R., Emmerich, M. & Walkenhorst, P. (Hrsg.): Alltags- und Übergangspraktiken in Hilfen für junge Menschen. Zwischen Selbstbestimmung, Eigensinn und gesellschaftlichen Anpassungsforderungen. Leverkusen: Barbara Budirch 189-199.
Herz, B. (2021). „Unerziehbare“, „Systemsprenger“, „Austherapierte“ – und dann als „Kriminelle“ in die Jugendstrafanstalt? VHN 90(3), 169-174.
Herz, B. (2021). Professionalität in pädagogischen Zwangskontexten. Eine Annäherung aus der Perspektive der Pädagogik bei Verhaltensstörungen. In: Emotionale und soziale Entwicklung in der Pädagogik der Erziehungshilfe und bei Verhaltensstörungen: ESE 3 (2021)
Hoyer, J. (2021). Metaphern der Jugenddelinquenz: Analyse von Deutungsmustern feldspezifischer Expert*innen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt
Krause, A., Fickler-Stang, U., Blatz, S., Holtmann, S.C. (2022): Bildung in geschlossenen Institutionen. Überlegungen zu sinnstiftenden und anschlussfähigen Bildungsangeboten für junge Menschen – In: Emotionale und soziale Entwicklung in der Pädagogik der Erziehungshilfe und bei Verhaltensstörungen: ESE 4 (2022) 4, S. 70-80
Ostendorf, H. (2016): Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht versus jugendadäquate Jugendkriminalprävention. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe. ZJJ 3 (2022), S. 172
Reinheckel, S. (2013). Geringqualifikation bei männlichen Strafgefangenen im geschlossenen Jugendstrafvollzug der Bundesrepublik Deutschland: Eine empirische Untersuchung. Berlin.
Schweder, M. (2014). Lehrerarbeit im Strafvollzug – Ein Diskurs aus historischer Sicht. In J. Seifried, U. Faßhauer & S. Seeber (Hrsg.), Jahrbuch der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung 2014, S. 39-52). Opladen: Barbara Budrich.
Stein, R., Blatz, S. (2022). Erziehung als Herausforderung und ihre Facetten – ein sonderpädagogischer Blick auf das Jugendgerichtsgesetz. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe. ZJJ 4 (2022), S. 258
Walkenhorst, P. (2017). Der Jugendstrafvollzug als nachhaltiges pädagogisches Bildungsfeld. In Schweder, M. Jugendstrafvollzug –(k)ein Ort der Bildung. Weinheim Basel: Beltz Juventa
Walkenhorst, P., Fehrmann, S.E. (2018). Jugendarrest, Jugendstrafvollzug und Jugenduntersuchungshaft: Grundlegungen – Wirkungen – Perspektiven. In: Maelicke, B., Suhling, S. (eds) Das Gefängnis auf dem Prüfstand. Edition Forschung und Entwicklung in der Strafrechtspflege. Springer, Wiesbaden
Walkenhorst, P. (2019). Überlegungen zur künftigen Positionierung einer Pädagogik bei Verhaltensstörungen bzw. des Förderschwerpunkts „Emotionale und soziale Entwicklung“ – In: Emotionale und soziale Entwicklung in der Pädagogik der Erziehungshilfe und bei Verhaltensstörungen: ESE 1 (2019), S.102-115
Zimmernann, David (2019). Professionalisierung für Unterricht und Beziehungsarbeit mit psychosozial beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen – eine Einführung. In: Zimmermann, D., Fickler-Stang, U., Lars, D. & Weiland, K.: Professionalisierung für Unterricht und Beziehungsarbeit mit psychosozial beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt

Jugendhilfe – Hilfe für wen?

BERND HOLTHUSEN, München, Diplom-Politologe,
Deutsches Jugendinstitut, Fachgruppe Angebote und Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe

Jugendhilfe – Hilfe für wen? Junge Menschen im Strafverfahren als Adressatinnen und Adressaten der Jugendhilfe

Input auf dem 51. IFK-Symposium „Kinder und Jugendliche gefangen … zwischen Strafjustiz, Jugendhilfe und Psychiatrie: reife Leistungen?“ in Maria Laach, 21.04.2024

Abstract

Die Kinder- und Jugendhilfe richtet an alle jungen Menschen und deren Familien, die ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung zu einer selbstbestimmten und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit haben. Die Kinder- und Jugendhilfe hat nach § 1 Abs. 3 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII den Auftrag, junge Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern, Benachteiligungen abzubauen, jungen Menschen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, Kinder und Jugendliche vor Gefahren zu schützen sowie positive Lebensbedingungen zu schaffen. Zur Erfüllung dieses sehr weiten Auftrags ist die Jugendhilfe zur strukturellen Zusammenarbeit mit allen Stellen und öffentlichen Einrichtungen, die für die jungen Menschen relevant sind, verpflichtet, u. a. mit Familien- und Jugendgerichten, Staatsanwaltschaften, Justizvollzugsbehörden, Schulen, Gesundheitsdiensten, Arbeitsverwaltungen, Polizei und Ordnungsbehörden (§ 81 SGB VIII).

Wenn junge Menschen einer Straftat verdächtigt werden, ist die Jugendhilfe im Strafverfahren/Jugendgerichtshilfe (JuhiS) zuständig. Mit der Neuregelung im § 70 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) muss die JuhiS frühzeitig (vor der ersten Vernehmung) über das Verfahren informiert werden, damit sie prüfen kann, ob für den jungen Menschen Leistungen eingeleitet werden können (§ 52 Abs. 2 SGB VIII). Wenn eine geeignete Leistung gewährt wird, sollen Staatanwaltschaft und Jugendgericht umgehend darüber informiert werden, da damit ggf. eine Diversion nach §§ 45, 47 JGG ermöglicht werden kann. Die jungen Menschen sollen während des gesamten Verfahrens (incl. Vollzug und Übergangsmanagement) durchgängig von der JuhiS betreut werden. Besteht unabhängig nach dem Strafverfahren weiterhin ein erzieherischer Bedarf, so hat der junge Mensch fortgesetzt Anspruch auf Jugendhilfeleistungen.

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Im Rahmen des Jugendstrafverfahrens hat die Jugendhilfe (Jugendamt und freie Träger) die wichtige Aufgabe, ambulante sozialpädagogische Angebote zur Verfügung zu stellen. Mit der ersten JGG-Reform wurden die „neue ambulanten Maßnahmen“ im § 10 JGG normiert mit der Zielsetzung – dem Grundsatz ambulant statt stationär folgend – Freiheitsentzug (vor allem den Jugendarrest) zu ersetzen. Dabei ist von hoher Bedeutung, dass die ambulante Sanktion im jeweiligen Einzelfall passend ist, um Nichterfüllungen und Abbrüche zu vermeiden, die im Zweifelsfall doch zu einem Freiheitsentzug in Form von Ungehorsamsarrest führen. Nach § 36a Abs. 1 SGB VIII trägt die Jugendhilfe die alleinige Steuerungsverantwortung für die Hilfe, die nach Grundsätzen der Jugendhilfe (wie Freiwilligkeit, Partizipation) erfolgen muss. Untersuchungshaft als besonders schädliche Form des Freiheitsentzugs kann ggf. durch die Unterbringung in stationären Jugendhilfeeinrichtungen vermieden bzw. verkürzt werden (§§ 71 Abs. 2, 72 Abs. 4 JGG).

Im § 38 JGG sind weitere Aufgaben für die JuhiS (das JGG verwendet nach wie vor den Begriff Jugendgerichtshilfe) festgelegt: Im Rahmen des Verfahrens soll die JuhiS vor allem die erzieherischen Gesichtspunkte einbringen, die sozialen Hintergründe beleuchten, zur besonderen Schutzbedürftigkeit Stellung nehmen und Maßnahmen vorschlagen (Abs. 2). Die JuhiS soll der Staatsanwaltschaft und dem Jugendgericht möglichst zeitnah berichten und bei Bedarf den Bericht aktualisieren (Abs. 3). Weiterhin soll die JuhiS in der Hauptverhandlung anwesend sein (Abs. 4) sowie die Erfüllung von Weisungen und Auflagen überwachen und den jungen Menschen während und nach dem Vollzug unterstützen (Abs. 5).

Mit der JGG-Reform im Jahr 2019 sind die Verteidigungsbestellungen im Jugendstrafverfahren häufiger und vor allem zu einem frühen Zeitpunkt (vor der ersten Vernehmung). Damit stellt sich für die Jugendhilfe verstärkt die Frage, wie im Interesse der jungen Menschen eine Zusammenarbeit mit der Verteidigung gestaltet werden kann. Von großer Bedeutung ist, dass die Strafverteidiger:innen über die lokale ambulante sozialpädagogische Angebotsstruktur informiert sind, damit die Möglichkeiten einer Diversion im Vorverfahren genutzt und auch Freiheitsentzug als Ergebnis im Hauptverfahren durch ambulante Angebote vermieden werden kann. Die Verteidigung kann durch die Information der jungen Menschen, sie zur Nutzung der Angebote motivieren. Wenn die Verteidigung allerdings ihren Mandant:innen von dem Kontakt zur JuhiS abrät und dieser Kontakt nicht stattfindet, sind Leistungen der Jugendhilfe kaum möglich oder zumindest erheblich erschwert.

Junge Menschen im Strafverfahren müssen umfänglich und vor allem verständlich über den Ablauf des Verfahrens und die unterschiedlichen Rollen der der Beteiligten mehrfach in den unterschiedlichen Verfahrensstadien informiert werden. Insbesondere die Vermittlung der verschiedenen Rollen von Jugendhilfe, Polizei und Justiz stellt eine Herausforderung dar. Als besonders schutzwürdige Gruppe ist eine dauerhafte Betreuung und Begleitung durch die Jugendhilfe notwendig. Junge Menschen müssen bei der Entscheidung über ein ambulantes sozialpädagogisches Angebot beteiligt werden, so kann die Abbruchwahrscheinlichkeit verringert und damit ggf. auch ein Ungehorsamsarrest vermieden werden.

Die JuhiS bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Hilfe und Zwang. Einerseits bietet sie pädagogische Hilfen an und leistet aus der Perspektive der jungen Menschen Beratung, Begleitung und Unterstützung, andererseits ist sie „Hilfsinstitution“ sozialer Kontrolle und in der Perspektive der Adressat:innen Teil des Strafverfolgungsapparats.

Jugendforensische Prävention

DR. DAVID STRAHL, Viersen
Chefarzt Forensik III, LVR-Klinik

Jugendforensische Präventionsambulanz in der LVR Klinik Viersen:

Im Jahr 2012 wurde eine jugendforensische Schwerpunktstation in der LVR Klinik Viersen eröffnet. Im Rahmen der Erarbeitung der Delinquenzgenese fiel auf, dass ca. 90 % der forensisch untergebrachten Patienten zuvor Kontakte zu psychosozialen Diensten, kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen, Angeboten der Jugendhilfe und/oder stationären Jugendhilfeeinrichtungen.

Die Anfragen beziehen sich häufig auf junge Menschen, bei denen keine akut behandlungsbedürftige psychische Störung festgestellt werden konnte. Die kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken haben einen Heil- und Behandlungsauftrag und den Anfragen zufolge fehlen Einschätzungen und Empfehlungen für den Umgang mit delinquentem Verhalten oder in einem weiteren Schritt sogar mit strafrechtlichen Rahmenbedingungen.
Als erster Entwicklungsschritt beim Aufbau eines jugendforensischen Präventionsangebotes wurde in Kooperation mit den kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken in Viersen forensisch-präventive Konsile angeboten.

In einem weiteren Schritt kam es zu Kontakten zur ambulanter Jugendarbeit und zu Schulen, um dort eine gefahrpräventive Diagnostik und Empfehlung abzugeben.
Im Projekt Kurve Kriegen NRW wurden die sozialen Folgekosten ermittelt, die von der Gesellschaft getragen werden müssen. IntensivtäterInnen verursachen im Durchschnitt bis zum 25. Lebensjahr 1,7 Mio. €, was die initiale Idee weiter beförderte.

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Ein typisches Beispiel eines solchen Falles, der aktuell im Rahmen einer Hauptverhandlung von einer Mutter beschrieben wurde, deren Sohn wegen versuchten Mordes angeklagt war:

„Wir haben alles gemacht und uns überall Hilfe gesucht, aber nie die richtigen Angebote bekommen. Auch eine Diagnose haben wir nie bekommen. Auch das Jugendamt hat uns nicht geholfen. Sie haben gesagt, dass wir alles selber machen sollen, aber nicht was. Man hat uns damit alleine gelassen. Wir wollen einfach mal wieder in Ruhe etwas alleine machen, ohne Angst zu haben, was unser Sohn wieder anstellt. Eine Therapie haben wir selbst bezahlt, aber nach den Probesitzungen wurde uns mitgeteilt, es bringe nichts. Man könne nichts für uns tun. Auch in Selbsthilfegruppen hatten wir immer das Gefühl, es sei bei uns viel schlimmer und wir wurden nicht verstanden. Man hat uns in der Grundschule gesagt, unser Sohn sei hochbegabt, daher zeige er die Auffälligkeiten und störe den Unterricht. Man hat uns aber nie gesagt, was wir denn tun sollen.“

Die forensische Psychiatrie beschäftigt sich originär systematisch mit der Risikoeinschätzung für delinquentes Verhalten und Risikomanagment zur Verhinderung derselben.

Neben der kinder- und jugendpsychiatrischen Beurteilung kann durch die jugendforensische Beurteilung eine Gefährlichkeitsprognose erstellt werden, Risikofaktoren identifiziert werden und Maßnahmen empfohlen bzw. in einem weiteren Schritt auch angeboten werden, die diese Gefährlichkeit reduzieren und somit letztlich Straftaten verhindern können. Es ist keine Konkurrenz zur kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung, sondern eine Ergänzung zur Verhinderung von Straftaten. Ebenso ist es ein ergänzendes Angebot zu den schon vorhandenen Angeboten wie z.B. das Projekt Kurve-Kriegen NRW oder Jugendhilfemaßnahmen.

Anfragen durch kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken, Jugendämter, Wohnheime, Eltern oder die Polizei (PeriskopNRW).

Die Zielgruppe sind Kinder und Jugendliche aller Altersstufen, die gefährdende Handlungen (Fremdaggression, Brandstiftung, Tierquälen, sexuelle Übergriffe) begehen oder entsprechende Fantasien äußern.

Es folgt eine konkrete inhaltliche Analyse des Fehlverhaltens unter folgenden Aspekten:

  • Feststellen von bedingenden und auslösenden Faktoren des Problemverhaltens: innere/äußere Faktoren stabil/passager
  • Entwickeln einer schlüssigen „Delikt“-hypothese sowie
  • Ein ausführlicher schriftlicher Abschlussbericht mit der Klärung des Bedingungsgefüges des Problemverhaltens; Herausstellen von Problemfaktoren und Prognose im Rahmen verschiedener Bedingungsgefüge und notwendiger Interventionsmöglichkeiten.

In absteigender Häufigkeit zeigen sich folgende Auffälligkeiten:

  • Bedrohungen mit Waffen
  • Körperverletzungen
  • Sexualdelikte (Missbrauch und Konsum/Verbreitung von Missbrauchsabbildungen)
  • Amokandrohungen
  • Zündeln
  • Tiere quälen
  • Drogenhandel

Diagnostisch finden sich Störungen des Sozialverhaltens, Autismusspektrumstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Bindungsstörungen, ADHS, Depressionen und Intelligenzminderungen.

Hilfesuchende sind vor allem Wohnheime, Eltern, Periskop, Schulen, Jugendgerichtshilfe und das Jugendamt.

Der zeitliche Ablauf in der Entwicklung und deren Schwierigkeiten:

  • 2015-2016: Erste Kontakte zu Schulen, externen Trägern.
  • 2017: Erste konzeptionelle Überlegungen und Kontakte zu Trägern und anderen Stellen
  • September 2017: Erstes Konzept
  • 2018: Erste ambulant abgerechnete Fälle über die KiJu-Ambulanz der LVR-Klinik Viersen
  • 2022: Erste eigene Räumlichkeiten für die Ambulanztätigkeit
  • Zahlreiche Anfragen/Vermittlungen/Einschätzungen auch aus anderen Bundesländern bzw. ohne vollständige Abrechnung

In der polizeilichen Kriminalstatistik PKS 2023 zeigt sich ein Anstieg Jugendkriminalität

  • Tatverdächtige Kinder: 22496 (+7,4 %)
  • Gewaltkriminalität Kinder: 3300 (+9,2 %)
  • Tatverdächtige Jugendliche: 48000 (+6,1 %)
  • Gewaltkriminalität Jugendliche: 8200 (+9,2 %)

Um diese Zahlen wieder zu senken, besteht das Angebot der jugendforensischen Präventionsambulanz in der LVR Klinik Viersen und wird beständig ausgeweitet.

Als nächster Schritt soll die Arbeit wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Eine Datenerhebung bei Aufnahme wird schon jetzt durchgeführt. Eine Evaluation der jugendforensischen Einschätzung und empfohlenen Maßnahmen im zeitlichen Verlauf wird angestrebt, ist aber sehr stark von der Kontakthaltung und Mitarbeit der Teilnehmenden abhängig.

Impressionen Symposium 2024