Prolog
Am 04. Mai 1941 schrieb Hermann Hesse eines seiner bekanntesten philosophischen Gedichte mit dem Titel «Stufen». Das Gedicht trug ursprünglich den Titel «Transzendieren!». Hermann Hesse beschreibt in diesem Gedicht das Leben als fortwährenden Prozess, bei dem auf jeden «durchschrittenen» Lebensabschnitt ein neuer folgt. Nach Hermann Hesse soll der Mensch aber an keiner dieser Lebensstufen festhalten, da der «Weltgeist» für ihn keine Einengung, sondern eine Ausweitung von Stufe zu Stufe vorsehe, denn «…jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben…». Da das Leben fortwährend rufe, sei dieser Prozess auch mit dem Tod nicht abgeschlossen. Auch der Tod sei als Genesung zu betrachten, denn letztlich sei auch er nur der Abschied von einer Lebensstufe. «… Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegensenden. Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden. Wohlan den, Herz, nimm Abschied und gesunde!»
Nach Hermann Hesse reaktiviere die innere Reife «einen Schatz an Bildern», den man im Gedächtnis trägt und dem man sich im Verlauf des Lebens immer wieder mit ganz anderer Teilnahme zuwendet als zuvor.
Wo spielt nun in der Strafjustiz die von Hermann Hesse so benannten Lebensstufen eine Rolle?
Im Strafrecht hat der Gesetzgeber tatsächlich Lebensstufen vorgegeben und dafür Altersbegrenzungen festgelegt.
Wenn ein Jugendlicher in Deutschland eine Verfehlung begangen hat, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, und dieser Jugendliche zurzeit der Tat 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, kommt in Deutschland das Jugendgerichtsgesetz zur Anwendung. Beziehungsweise wenn ein Heranwachsender in Deutschland, der zurzeit der Tat 18, aber noch nicht 21 Jahre alt ist, kann das Jugendgerichtsgesetz zur Anwendung kommen. Die Anwendung des Jugendstrafrechts hat zum Ziel, erneuten Straftaten entgegenzuwirken. Das heisst, dass die Rechtsfolgen, unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren, vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten sind.
In der Schweiz werden im Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht die Sanktionen geregelt, welche gegenüber Personen zur Anwendung kommen, die zwischen dem vollendeten 10. Altersjahr und vor Vollendung des 18.Lebensjahr eine nach dem Strafgesetzbuch oder einem anderen Bundesgesetz mit Strafe bedrohte Tat begangen haben. Auch hier ist wegleitend für die Anwendung dieses Gesetzes der Schutz und die Erziehung des Jugendlichen unter Berücksichtigung der familiären Verhältnisse und der Lebensumstände. Zudem werden im Schweizer Strafgesetzbuch in Art. 61 StGB die Massnahmen für junge Erwachsene festgelegt. D.h., wenn der Täter zurzeit der Tat noch nicht 25 Jahre alt ist und er in seiner Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört ist, so kann das Gericht ihn in eine Einrichtung für junge Erwachsene einweisen. Das verübte Verbrechen oder Vergehen muss aber in Zusammenhang mit der beim Täter vorliegenden Persönlichkeitsentwicklungsstörung stehen. Zudem muss durch die Massnahme der Gefahr, welche von diesem jungen Menschen ausgeht, dass er erneute Straftaten verübt, entgegengewirkt werden können.
Auch aus den Empfehlungen des Europarates[1] für Sanktionen und Massnahmen für jugendliche Straftäter und Straftäterinnen (REC 2008) geht hervor, dass auch junge erwachsene Straftäter / Straftäterinnen im Alter von 18 bis 21 Jahren gegebenenfalls als Jugendliche betrachtet werden können (Ziff. 17; Ziff. 21.2) und daher in spezialisierten Einrichtungen für junge Erwachsene unterzubringen seien.
In Anbetracht dessen drängt sich dann die Frage auf, was denn am Jugendalter so speziell sein soll.
Das Jugendalter
Schlagwörter wie «unzurechnungsfähig, kann alles, weiss alles, ist reizbar» sind einige Marker des Jugendalters.
Das Jugendalter ist geprägt durch einen tiefgreifenden Umbau auf ganz verschiedenen Ebenen. Es finden Reifungsprozesse auf der biologischen, aber auch auf der psychischen und auf der sozialen Ebene statt. Neben den körperlichen Veränderungen, wie dem Wachstum der Glieder und der Muskulatur, wird die Geschlechtsreifung sichtbar mit den Veränderungen der Geschlechtsmerkmale, wie der Brustentwicklung, des Peniswachstums, der Behaarung, der Veränderung der Stimme, der Haut etc. Aber auch im Gehirn findet ein tiefgreifender Wandel statt mit Auswirkung auf die kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, was sich auch auf das Verhalten der Jugendlichen bzw. Heranwachsenden auswirkt. Ebenso auf der psychischen Ebene kommen tiefgreifende Umbauprozesse zum Tragen, die mit dem Erleben des körperlichen Wandels sowie den sozialen Reaktionen des Umfeldes zusammenhängen. Aber auch der soziale Status des heranwachsenden jungen Menschen verändert sich im familiären, aber auch im gesellschaftlichen Umfeld. Vor dem Hintergrund dieses umfassenden Wandels auf allen Ebenen stellt das Finden der eigenen Mitte in Übereinstimmung zwischen Selbsterleben, Fremderleben und Anpassung an soziale Normen eine grosse Herausforderung dar, mit der sich der heranwachsende Mensch auseinanderzusetzen hat. Das Finden der eigenen Identität ist dabei die zentrale Entwicklungsaufgabe. Es dreht sich dabei um die Fragen «wer bin ich, wer möchte ich sein und für wen hält man mich!»
Wendet man sich der Statistik von Straftaten zu, fällt auf, dass zwischen dem 10. und 30. Altersjahr, insbesondere von männlichen Jugendlichen, die häufigsten Delikte verübt werden[2]. In allen Regionen und Kulturen der Welt zeigen sich i.S. Kriminalität ähnliche alters- und geschlechtsspezifische Verläufe. Die sogenannte «Age-Crime-Curve»[3] kann damit als Konstante betrachtet werden. Dennoch ist der individuelle Reifungsprozess sehr unterschiedlich und weitgehend genetisch vorprogrammiert und gesteuert. Aber auch Lernprozesse und entsprechende Umwelterfahrungen spielen in der Reifung eines Menschen eine Rolle.
Die Lebensphase der Adoleszenz kann insgesamt als Lebensabschnitt, in dem besonders viele Entwicklungsaufgaben anstehen und bewältigt werden müssen, eingestuft werden. So muss der heranwachsende junge Mensch in dieser Lebensphase in seinem sich neu entwickelten Körper heimisch werden; er muss in allen Dimensionen für sich eine neue Identität finden und vor diesem Hintergrund einen gesunden Selbstwert aufbauen. Er muss seine sozialen Bindungen neugestalten und seine sozialen Kontakte erweitern. Er muss einen selbstverantwortlichen Umgang mit seiner Freizeit und den verschiedenen Konsumgütern erlernen. Auch mit der Herausforderung, wann, wie oft und in welcher Form er sich aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen möchte, muss sich der Adoleszente stellen. Dieser Reifungsprozess in der Adoleszenz verläuft fliessend und ist individuell sehr unterschiedlich. Eine Operationalisierung eines solchen umfassenden, tiefgreifenden Prozesses ist daher sehr schwierig und äusserst komplex.
Versuche der Operationalisierung der Beurteilung der Reife / Unreife im straf- und zivilrechtlichen Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Ein erster Operationalisierungsversuch der Reifebeurteilung heranwachsender Straftäter / Straftäterinnen wurde an einer Fachtagung in den 1950er Jahren unternommen! Damals wurden die sogenannten Marburger-Kriterien[4]entwickelt, welche sich aus einer Negativ–[5] und einer Positivliste[6] zusammensetzten.
In der sogenannten Negativliste wurden folgende Kriterien aufgenommen: Das Fehlen einer gewissen Lebensplanung, das Fehlen der Fähigkeit zum selbständigen Urteilen und Entscheiden, das Fehlen der Fähigkeit zu zeitlich überschauendem Denken, das Fehlen der Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu untermauern, das Fehlen einer ernsthaften Einstellung zur Arbeit und das Fehlen einer gewissen Eigenständigkeit zu anderen Menschen. In die sogenannte Positivliste flossen Merkmale, wie eine ungenügende Ausformung der Persönlichkeit, das Vorliegen von Hilflosigkeit, die sich nicht selten hinter Trotz und Arroganz versteckt, ein naiv vertrauensseliges Verhalten, eine starke Anlehnungsbedürftigkeit, eine spielerische Einstellung zur Arbeit, eine Neigung zum Tagtraum, ein Hang zu abenteuerlichem Handeln, ein Hineinleben in selbsterhöhende Rollen, ein mangelhafter Anschluss an Altersgenossen und die Haltung im Augenblick zu leben.
In der Fachwelt stiessen diese Kriterien aber eher auf Ablehnung. Es wurde kritisiert, dass die Kriterien moralisch wertend seien und sehr weite subjektive Ermessensspielräume offenlassen würden. Ethnisch-kulturelle und soziodemographische Besonderheiten würden nicht abgebildet, was zu Diskriminierungen führe. Die Liste spiegle den damaligen Zeitgeist und stütze sich auf die mittlerweile nicht mehr haltbare Annahme, dass Entwicklungsprozesse gleichförmig verlaufen. Einige Merkmale hätten zudem eher etwas mit Sozialisationsbedingungen als mit biologischer Reife zu tun. Insgesamt wurde die Meinung vertreten, dass mit dieser Beschreibung der Reife mit den Marburger-Kriterien wenig für eine valide Feststellung von Unreife getan worden sei, da mit ihrer Anwendung fast alle Heranwachsende in den Anwendungsbereich von §105 JGG einbezogen würden.
Kurze Zeit später wurden daher die Marburger-Kriterien 1955 von Villinger[7] ergänzt. Er fügte Kriterien wie eine der Altersstufe nicht mehr entsprechende Suggestibilität, ein Mangel an echter, begründbarer Bindung an andere, eine starke Labilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, eine nicht zustande kommende Integration von Eros und Sexus, ein Mangel an altergemässem Pflicht- und Verantwortungsgefühl, eine besondere Neigung zu neurotischen Fehlreaktionen und Fehlhaltungen, eine jugendtypische Unausgeglichenheit und Widersprüchlichkeit, eine Neigung zu kindlich-jugendlichem Stimmungswechsel aus inadäquatem Anlass[8].
Aber auch nach der Ergänzung durch Villinger überwog die negative Kritik[9]. Es wurde vorgeworfen, dass die Kriterien nach wie vor moralisch wertend seien und ethnisch-kulturelle und soziodemographische Besonderheiten nicht abbilden.
Erst ca. 20 Jahre später wurde dann von Esser, Fritz und Schmidt 1991 ein erneuter Operationalisierungsversuch gewagt[10]. Anhand einer Feldstichprobe mit 340 Personen im Alter von 18 Jahren wurde versucht, die Kriterien mit einer prospektiven epidemiologischen Längsschnittstudie zu evaluieren. Operationalisierte Reifestufen (kindlich, jugendlich, heranwachsend, erwachsen) wurden von den Autoren mit spezifischen Merkmalen versehen. Erzielte der zu beurteilende Klient eine altersadäquate Reife, erhielt er das Label «Heranwachsend». Lag er mit den Kriterien darunter, wurde auf eine Reifeverzögerung geschlossen. Kam er mit den Kriterien darüber zu liegen, sollte dies auf eine beschleunigte Reifung hinweisen.
Ein wichtiges Resultat der Untersuchung war, dass psychiatrische Auffälligkeiten, chronische Belastungen in den letzten fünf Jahren und frühere, widrige familiäre Umstände mit Reifeverzögerungen assoziiert waren[11]. Erst zehn Jahre später gelang es dem Erstautor in einer Untersuchung[12] aufzuzeigen, dass die in der Erstuntersuchung definierten Merkmale reifungsabhängig sind, d.h. dass mit fortschreitendem Alter höhere Reifewerte verbunden sind.
Doch auch das Lösungsmodell von Esser, Fritz und Schmidt wurde nach der Publikation kritisiert. Da der Katalog der Reifekriterien in Teilen nach wie vor auf den Marburger-Kriterien und den Erweiterungen von Villinger beruhte, wurden die dort eingebrachten Kritikpunkte auch auf die Liste von Esser, Fritz und Schmidt übertragen[13]. Zudem wurde kritisiert, dass die Gewichtung der Kriterien unklar sei, dass die Reifegradunterteilungen nicht hergeleitet werde und es ein tautologisches Potenzial gebe. Im Weiteren wurde eingebracht, dass interkulturelle und sozio-ökonomische Unterschiede nach wie vor nicht berücksichtigt würden.
Insgesamt wurde auch dieser Ansatz als unbefriedigend beurteilt. Eine valide Beurteilung der Reife von Heranwachsenden sei auch so nicht möglich[14].
Gesamthaft betrachtet gelang aber mit der Untersuchung von Esser, Fritz und Schmidt ein methodischer Sprung. In einer umfangreichen Untersuchung an Heranwachsenden wurden die Kriterien auf einem empirischen Boden evaluiert. Die von den Autoren daraus gefolgerte Lösung war aber nicht so beschaffen, dass diese sich als ein unangefochtener Standard hätte durchsetzen können.
Der nächste Operationalisierungsansatz wurde von Busch und Scholz (2003) vorgestellt und nachfolgend von Busch (2006) validiert. Zur Erhebung der relevanten Reifemerkmale verwendeten die Autoren die Delphi-Technik (dabei handelt es sich um ein mehrstufiges qualitatives Befragungsverfahren von Expertinnen und Experten)[15]. In mehreren Befragungsrunden wurden die relevanten Reifemerkmale erhoben. Es resultierten insgesamt 90 Items, welche nach Ansicht der befragten Experten Marker für Reife/Unreife darstellen. Die Items waren über folgende Skalen verteilt: Soziale Autonomie & Autonomie in der Lebensführung, Qualifikation & Ziele, Problem- & Konfliktmanagement, Werte & Normen, Soziale Beziehung & Partnerschaft, Kommunikation & Reflexivität, Emotionalität & Impulsivität, Umweltbedingungen, Umstände der Tat und Beweggründe der Tat. Die benannten Items wurden als Ausdruck einer aktuellen gesellschaftlichen Wahrnehmung von jugendlich und erwachsen verstanden und als zur Begutachtung des Entwicklungsstands geeignet beschrieben. Anders als die bisherigen Ansätze enthielt der Vorschlag von Busch mit den beiden letztgenannten Dimensionen auch Kriterien für die Beurteilung der sog. Jugendverfehlung nach § 105 Abs. 2 JGG.
In diesem Instrument wurde folgendes Beurteilungsverfahren vorgeschlagen: Zuerst seien die Umweltbedingungen des Heranwachsenden als Entwicklungsbedingungen zu eruieren, was dann in eine individuelle Entwicklungstheorie überführt werden müsse. Danach sei die Persönlichkeit des Täters zum Untersuchungszeitpunkt zu beurteilen (Querschnittsbild). In einem dritten Schritt sei dann das eigentliche Tatgeschehen zu beleuchten (situativ-soziale Rahmenbedingungen, Motive, usw.). Alle diese Informationen seien dann in eine Aussage zum Entwicklungsstand des adoleszenten Täters zu integrieren.
Doch auch dieser Ansatz stiess auf Kritik[16]. Es wurde eingebracht, dass die Datenbasis der Auswertung schwach sei, dass mit solchen Studien bloss der Status Quo der Handhabung wieder gegeben werde und dass es keine wissenschaftliche Validierung gebe. Die vorgeschlagenen Dimensionen und Skalen würden kaum Unterschiede zu den Kriterien von Esser, Fritz und Schmidt zeigen und würden keine Aussage über die Relevanz im Einzelfall erlauben. Auch seien die Auswahlkriterien der Experten für die Befragung der jugendtypischen Merkmale unklar (11% Psychologen; 13% Psychiater gegenüber 76% Juristen).
Ein weiterer Operationalisierungsversuch wurde von Buch und Köhler (2020) unternommen[17]. Bezugnehmend auf die bisherigen Definitionsansätze und unter Berücksichtigung der jeweils geäusserten Kritikpunkte entwickelten die Autoren eine Skizze eines umfassenden Gesamtbeurteilungsansatzes. Zur Beurteilung der Reife wurden folgende Kriterien herangezogen: Kognitive Fähigkeiten, Autonomie, Qualifikation & Ziele, Problem-/Konfliktlösung, Werte und Normen, Partnerschaft, Soziale Gruppe, Emotionalität und Impulsivität, Kommunikation, Reflexivität, Medien, Umweltbedingungen, Psychopathologie und die bisherige Delinquenz-Entwicklung des Jugendlichen. Darauf Bezug nehmend sollte dann die Entwicklung des Jugendlichen bis zum Tatzeitpunkt beurteilt und die Beschreibung des psychosozialen Leistungsniveaus erfolgen. Erst danach sollte der konkrete Tathergang analysiert werden. Unter Berücksichtigung aller Faktoren sollte dann abschliessend eine Gesamtbeurteilung der Reife erfolgen.
Die Publikation dieses Ansatzes von Buch und Köhler ist noch zu jung, um einen allgemein anerkannten Fachstandard darstellen zu können.
Sonstige Unreife-Operationalisierungen in der psychiatrischen und forensischen Diagnostik
In der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen (ICD-10) findet sich die unreife Persönlichkeitsstörung unter dem Sammelbegriff der sonstigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen (F60.8). Eine analoge Störung findet sich allerdings im DSM-5 nicht. Es bleibt offen, auf welchen empirischen Grundlagen im ICD-10 die Kriterien für das Störungsbild der unreifen Persönlichkeitsstörung abgeleitet wurden.
In der Neuauflage der Klassifikation, im ICD-11, wurde im Bereich der Persönlichkeitsstörungen ein Paradigmenwechsel vorgenommen. Das Störungsbild der unreifen Persönlichkeitsstörung wurde nicht mehr aufgenommen. Das Konzept der unreifen Persönlichkeitsstörung ist daher als wissenschaftlich unzureichend abgesichert zu beurteilen.
Schliesslich ist noch auf das Konzept der unreifen Persönlichkeit nach FOTRES (Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System) hinzuweisen, welches sowohl bei Jugendlichen als auch jungen Erwachsenen vorkommen kann. Gemäss Urbaniok geht es dabei darum, «Haltungen und Emotionalität, die dem Alter- bzw. dem üblicherweise zu erwartenden Entwicklungsstand gegenüber unangemessen sind» zu erfassen. Dabei werden vier Bereiche unterschieden: Die Unangemessenheit im Verhalten, die mangelnde Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub, eine mangelnde allgemeine Verantwortungsübernahme sowie die Unbedarftheit. Doch auch bei diesem Modell fehlen die notwendigen Evidenzgrundlagen.
Beurteilungsmodell von Urwyler, Sidler & Aebi (2021)
Heute liegt es auf der Hand, dass die Beurteilung des Reifegrades eines jungen Erwachsenen sich nicht nur auf die individuelle Ebene abstützen darf, wie dies bei den Marburger-Kriterien und tendenziell auch bei den Kriterien nach Esser, Fritz und Schmidt der Fall ist. Die Beurteilungsmethodik des Reifegrades eines jungen Menschen muss multidimensional angelegt sein, denn die Reifung ist das Resultat des Zusammenwirkens der Person mit ihrem Umfeld. Die aktuelle Forschung zur Persönlichkeitsentwicklung hat zunehmend systemischen Charakter. Gesellschafts- und sonstige Umweltfaktoren werden als relevante Kriterien für die Entwicklung einer Person erachtet[18]. Auch im Zusammenhang mit jugendlichen und erwachsenen Straftätern zeigte sich ein Zusammenhang zwischen erlebten psychosozialen Belastungen und festgestellten Reifungsverzögerungen[19]. Es wurde daher vorgeschlagen, einerseits Umwelt- bzw. Umfeldfaktoren zu erfassen, wie die familiäre Situation, das ausserfamiliäre Netzwerk (Freunde, Schul- und Arbeitskollegen) und die Konstanz und Stabilität im Umfeld. Andererseits sollte in die Beurteilung die psychopathologische Dimension[20] und die entwicklungsaufgabenbezogene Dimension[21]einfliessen. Bei der entwicklungsbezogenen Dimension geht es um Autonomie versus Abhängigkeit, um Stimmungsstabilität versus -labilität, um Fähigkeit des Bedürfnisaufschubs (Impulskontrolle) versus unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen (Impulsivität), um vorausschauendes Handeln (Folgenabschätzung) versus Leben im Moment, um Verantwortungsübernahme und Realitätsgrad der Pläne für den Alltag und die Zukunft, um den Durchhaltewillen, um die Ernsthaftigkeit, um den Aufbau bzw. das Vorhandensein eines prosozialen Wertesystems, um die Zielverfolgung bzw. die Frustrationstoleranz, um die Stabilität des Kontextes und die Qualität von Beziehungen, um das Problem- und Konfliktmanagement und um weitere mögliche Merkmale im Sinne des SPJ-Konzepts. Die festgestellten Defizite sind den beim Individuum gefunden Ressourcen gegenüberzustellen. In Bezug auf die verübte Straftat ist dann die Frage abzuhandeln, ob es einen Zusammenhang zwischen der begangenen Straftat und den entwicklungsaufgabenbezogenen Defiziten gibt und wenn ja, zu welchem Grad sich die Entwicklungsdefizite in der Tatwiderspiegeln.
Abschliessend soll die sachverständige Person im Sinne einer Gesamtwürdigung beschreiben, ob die Resultate der Prüfungsschritte aus sachverständiger Sicht den Schluss erlauben, auf eine Entwicklungsverzögerung zu schliessen. Ziel dieses Beurteilungsverfahrens ist, dass die Kriterien nicht ohne zu überlegen einfach abgehakt werden, sondern im Gegenteil, dass ein umfassendes Fallverständnis angestrebt wird, das der zu begutachtenden Person gerecht wird[22].
Dieses Beurteilungsverfahren wird aktuell gerade in Zürich bei Heranwachsenden im Massnahmenvollzugszentrum Uitikon evaluiert.
Fazit
Gerade bei der Reifebeurteilung nach § 105 JGG fällt auf, dass es vorwiegend die Autoren der jeweiligen Vorschläge selbst sind, die ihre Konzepte validieren. Es mangelt an Replikationsversuchen der Merkmalskataloge durch andere Forschungsgruppen. Das heisst, dass nach wie vor die Evidenzqualität hier bescheiden ausfällt.
Die Entwicklung bzw. die Reifung eines Menschen vom Kind über den Heranwachsenden zum Erwachsenen ist kein geradliniger Prozess. Darüber hinaus divergieren die Verläufe beim Übergang vom Kind zum Erwachsenen immer stärker voneinander aufgrund der gesellschaftlich mehr und mehr akzeptierten Individualisierung, was ein Verzicht auf stufentypische Verläufe nahelegt. Dennoch ohne die Vorgabe (wenn auch unscharfer) Normalentwicklungsbereiche ist es unmöglich, auf erhebliche Störungen der Entwicklung zu schliessen.
[1] Europäische Grundsätze für die von Sanktionen und Massnahmen betroffenen jugendlichen
Straftäter und Straftäterinnen, Empfehlung REC (2008)11 des Ministerkomitees des Europarats
vom 05. November 2008
[2] Inke Pruin, Die Diskussion um die Heranwachsenden im Jugendstrafrecht – (k)eine never-ending
story, in: DVJJ (Hrsg.), Herein-, Heraus-, Heran-, Junge Menschen wachsen lassen, Dokumentation
des 30. Deutschen Jugendgerichtstages vom 14. bis 17. September 2017 in Berlin,
Mönchengladbach 2019, S. 467 ff., S. 479; eine Ausnahme hiervon bilden freilich sogenannte
«life-course persistent offenders», wie sie bei TERRIE MOFFITT, Adolescence-limited and life-course-
persistent antisocial behaviour: A developmental taxonomy. Psychological Review 1993,
- 674 ff. beschrieben werden.
Jeffery T. Ulmer/Darrell J. Steffensmeier, The Sociological Explanation: The Age and
Crime Relationship: Social Variation, Social Explanations, in: Kevin M. Beaver/James
- Barnes/Brian B. Boutwell (Hrsg.), The age and crime relationship: Social variation, social
explanations, The nurture versus biosocial debate in criminology: On the origins of criminal behaviour
and criminality, SAGE Publications 2014, S. 377 ff.; ROLF LOEBER, Does the study of the
age-crime curve have a future, The future of criminology 2012, S. 11 ff.; MARC LE BLANC, On
the future of the individual longitudinal age-crime curve, Criminal Behaviour and Mental Health 2020, S. 183 ff.
[3] J. T. Ulmer/Darrell; J. Steffensmeier 2014; R. Loeber 2012; M. Le Blanc 2020
[4] Anonyme Autorenschaft, MschrKrim 1955, S. 58 ff., S. 60
[5] Negativliste: Fehlen einer gewissen Lebensplanung; Fehlen der Fähigkeit zum selbständigen Urteilen und Entscheiden; Fehlen der Fähigkeit zu zeitlich überschauendem Denken; Fehlen der Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu untermauern; Fehlen einer ernsthaften Einstellung zur Arbeit; Fehlen einer gewissen Eigenständigkeit zu anderen Menschen.
[6] Positivliste: Vorliegen einer ungenügenden Ausformung der Persönlichkeit; Vorliegen von Hilflosigkeit, die sich nicht selten hinter Trotz und Arroganz versteckt; Vorliegen eines naiv vertrauensseligen Verhaltens; Vorliegen einer starken Anlehnungsbedürftigkeit; Vorliegen einer spielerischen Einstellung zur Arbeit; Vorliegen einer Neigung zum Tagtraum; Vorliegen eines Hangs zu abenteuerlichem Handeln; Vorliegen eines Hineinlebens in selbsterhöhende Rollen; Vorliegen eines mangelhaften Anschlusses an Altersgenossen; Vorliegen eines Lebens im Augenblick.
[7] Werner Villinger, Das neue Jugendgerichtsgesetz aus jugendpsychiatrischer Sicht, Praxis der
Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 1955, S. 1 ff.
[8] Erweiterung nach Villinger (1955): Eine der Altersstufe nicht mehr entsprechende Suggestibilität; ein Mangel an echter, begründbarer Bindung an andere, z.B. Kameraden und Lehrer; eine starke Labilität in zwischenmenschlichen Beziehungen; eine nicht zustande kommende Integration von Eros und Sexus; ein Mangel an altergemässem Pflicht- und Verantwortungsgefühl; eine besondere Neigung zu neurotischen Fehlreaktionen und Fehlhaltungen; eine typisch jugendtümliche (phasenspezifische) Unausgeglichenheit und Widersprüchlichkeit; eine Neigung zu kindlich-jugendlichem Stimmungswechsel aus inadäquatem Anlass.
[9] Günter Hinrichs, Gerd Schütze; Der 105 I JGG aus jugendpsychiatrischer Sicht, DVJJJournal
1/1999, S. 27 ff., S. 29; THOMAS P. BUSCH/BERNDT SCHOLZ, Neuere Forschung zum
- 105 JGG, Die Bonner Delphi-Studie: Ein Zwischenbericht, MschrKrim 2003, S. 421 ff., 424;
Thomas P. Busch, Rechtspsychologische Begutachtung delinquenter Heranwachsender, Evidenzbasierte
Entscheidungsalgorithmen zur strafrechtlichen Zuweisung gemäß § 105 JGG,
Diss. Berlin 2006, S. 52; MÜLLER/NEDOPIL (Fn. 48), S. 100
[10]Günter Esser, Annemarie Fritz, Martin Schmidt; Die Beurteilung der sittlichen Reife Heranwachsender
im Sinne des § 105 JGG – Versuch einer Operationalisierung, S. 356 ff.
[11] Esser, Fritz, Schmidt (Fn. 178), S. 365 f. (Konkret schnitten psychiatrisch Auffällige in den
Bereichen Realistische Lebensplanung, Eigenständigkeit gegenüber Peers/Partnern, Alltagsbewältigung,
Bindungsfähigkeit und Stimmungskonsistenz schlechter ab. Nur in den Bereichen
Eigenständigkeit gegenüber den Eltern, äusserer Eindruck, und Integration von Eros und Sexus
wiesen die psychiatrisch Unauffälligen höhere durchschnittliche Reifemerkmale auf).
[12] Günter Esser; Sind die Kriterien der sittlichen Reife des § 105 JGG tatsächlich reifungsabhängig?
DVJJ 1/1999, S. 37 ff.
[13] Müller (Fn. 170), S. 63
[14] Hinrichs; Schütze (Fn. 169), S. 29
[15] Weiterführend zur Delphi-Technik: Busch, (Fn. 173), S. 68 ff.; Busch, Scholz (Fn. 169),
- 425
[16] Günter Esser, Anne Wyschkon, Martin H. Schmidt, Anmerkungen zu Busch, T.P. &
Scholz, O.B., Neuere Forschung zum § 105 JGG: Die Bonner Delphi-Studie – Ein Zwischenbericht,
MschrKrim 2004, 458 ff.
[17] Buch, Köhler (Fn. 45), S. 178 ff., S. 197 ff.
[18] Vincent J. Felitti et al., Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of the leading causes of death in adults: The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study, American journal of preventive medicine 1998, S. 245 ff. (siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/The_Adverse_Childhood_Experiences_(ACE)_Study, besucht am 22.10.2020)
[19] Vgl. Marcel Aebi, Die Prävalenz von psychosozialen Belastungen bei jugendlichen Straftätern: eine Metaanalyse, FPPK 2019, S. 166 ff.
[20] Esser, Fritz, Schmidt konnten aufzeigen, dass psychopathologische Auffälligkeiten mit Reifeverzögerungen assoziiert sind. (Z.B. Substanzmissbrauch, ADHS, kognitive Defizite, Störungen des Sozialverhaltens oder (sich abzeichnende) Persönlichkeitsstörungen, usw., aber auch chronisch-somatische oder psychosomatische Erkrankungen sind häufig mit Reifeverzögerungen assoziiert.
[21] Unter Entwicklungsaufgabe verstehen die Autoren (basierend auf dem Ansatz von CASSÉE) eine «Aufgabe, die sich einem Individuum in einem bestimmten Lebensabschnitt aufgrund biologischer Faktoren, gesellschaftlicher Erwartungen und/oder individueller Wünsche und Zielsetzungen stellt.»
[22] Die Grundlagen des vorliegenden Beurteilungsmodells sind dem folgenden Artikel zu entnehmen:
Thierry Urwyler/Christoph Sidler/Marcel Aebi. Massnahmen für junge Erwachsene nach Art. 61 StGB, Beurteilung der erheblich gestörten Persönlichkeitsentwicklung. Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Beiheft 57, Basel 2021.